Damit jeder die Bibel lesen kann

30. November 2015 | von

Dass die Heilige Schrift in unserer Muttersprache vorliegt, ist mittlerweile selbstverständlich. Dennoch tun sich selbst Menschen mit gesunden Voraussetzungen oft schwer, die Bibel zu verstehen – wie viel schwerer noch Menschen mit Beeinträchtigungen! Die Bibel in Leichter Sprache versucht Abhilfe zu schaffen.




Mit der Aussage „Der Zugang zur Heiligen Schrift muss für die an Christus Glaubenden weit offen stehen“ beschreibt die Erklärung Dei Verbum (wörtlich: „Gottes Wort“) des 2. Vatikanischen Konzils vor genau 50 Jahren die Aufgabe, allen Glaubenden die Bibel als Wort Gottes nahe zu bringen. Was hier (in einer heute eher altertümlich wirkenden Sprache) formuliert wird, ist nichts anderes als die Unverzichtbarkeit einer zielgruppenspezifischen Bibelpastoral. Wenn Gottes Wort allen Menschen gilt, ist es vorderste Aufgabe der Kirche, dafür zu sorgen, dass auch alle es lesen bzw. hören und verstehen können. Lange Zeit wurde dies vor allem als Auftrag interpretiert, die Bibel in möglichst viele der über 10.000 Sprachen dieser Erde zu übersetzen, und Beachtliches wurde auf diesem Gebiet gerade in den letzten Jahrzehnten erreicht, nicht selten in ökumenischer Zusammenarbeit. Seit wenigen Jahren ist nun eine weitere, besondere „Sprache“ hinzugekommen: gemeint ist die so genannte „Leichte Sprache“. 







Leicht, nicht einfach



Wer zum ersten Mal Bibeltexte liest, die in Leichte Sprache übertragen wurden, stößt auf mancherlei Überraschendes und Ungewohntes. So werden aus den „Zöllnern und Dirnen“ in der Übertragung „Schwindler und Prostituierte“. Der Prophet ist „ein Mensch, der in seinem Herzen mit Gott redet“, und die Arbeiter im Weinberg erhalten keinen Denar, sondern 50 € als Tageslohn. Dazu kommt das ungewohnte Äußere – große Schrift, weite Zeilenabstände, kurze Sätze … 



Was ist „Leichte Sprache“? Leichte Sprache ist eine barrierefreie Sprache, die sich durch einfache, klare Sätze und ein übersichtliches Schriftbild auszeichnet. Sie ist deshalb besonders gut verständlich. Das Konzept der Leichten Sprache ist aus der Praxis heraus entstanden. Die Idee dazu wurde im Rahmen des Bundesmodellprojekts „Wir vertreten uns selbst“ (1997-2001) entwickelt. Im Jahr 2006 gründete sich daraus der Verein „Netzwerk Leichte Sprache“; dieser zeichnet auch für das Regelwerk verantwortlich, an dem sich deutsche Texte in Leichter Sprache orientieren. Im Regelfall sollen Texte in Leichter Sprache zusätzlich mit erklärenden Bildern, Fotos oder Grafiken illustriert werden, um ihre Verständlichkeit zu erhöhen.







Orientierung an der Zielgruppe



Wie kein anderer Sprachstil bzw. keine andere sprachliche Ausdrucksweise (mit Ausnahme der Gebärdensprache) orientiert sich die Leichte Sprache konsequent an ihrer Zielgruppe: Menschen mit Lernschwierigkeiten und andere Personen, die aus verschiedenen Gründen über eine eingeschränkte Kompetenz in deutscher Sprache verfügen (Menschen mit Demenz, Menschen mit Migrationshintergrund, Flüchtlinge u.a.).



Oberstes Ziel der Leichten Sprache ist Textverständlichkeit. Diese wird u.a. durch folgende Merkmale erreicht: Einfachheit, klare Gliederung, Prägnanz, kurze Sätze. Deshalb wurden konkrete Übertragungsregeln entwickelt, zu denen neben Sprach- und Rechtschreibregeln auch Empfehlungen zu Typographie und zur Medienverwendung zählen. Einige Regeln in Auswahl:



­­– Es werden möglichst kurze Sätze verwendet.



– Jeder Satz enthält nur eine Aussage. Jeder Satz beginnt in einer neuen Zeile.­



– Es werden Aktivsätze eingesetzt.



– Ein verständlicher Satz besteht aus den Gliedern: 



Subjekt + Prädikat + Objekt.



– Der Konjunktiv wird vermieden.



– Der Genitiv wird in den meisten Fällen durch den Dativ ersetzt.



– Abstrakte Begriffe werden vermieden; wo sie notwendig sind, werden sie durch anschauliche Beispiele oder Vergleiche erklärt.



– Mehrdeutige oder irreführende bildliche Sprache und Redewendungen werden vermieden.



– Wenn Fremdwörter oder Fachwörter unvermeidbar sind, werden sie erklärt („exformiert“).



– Bei längeren Zusammensetzungen wird durch Bindestriche deutlich gemacht, aus welchen Wörtern die Zusammensetzungen bestehen.



– Abkürzungen werden beim ersten Vorkommen durch die ausgeschriebene Form erklärt.



– Es wird keine Kindersprache verwendet.



– Bilder oder Filme helfen, einen Text besser zu verstehen.



– Wörter werden nicht in durchgehenden Großbuchstaben geschrieben. Kursive Schrift wird nicht verwendet.



– Texte werden übersichtlich gestaltet (Layout).







Vorbild: Jesus



So klar diese Regeln für „Gebrauchstexte“ wie Behördenratgeber oder Gebrauchsanleitungen etc. sind, so interessant wird es, wenn man Bibeltexte in Leichte Sprache übertragen will. Dabei stellen sich nochmals andere Herausforderungen. Denn biblische Texte sind religiöse Texte. Das heißt: Sie sprechen von etwas, wofür die „normale“ Sprache eigentlich nicht ausreicht. Deshalb ist auch die Bibel oft voller Bilder, Vergleiche und anschaulicher Beispiele. Auch Jesus steht in dieser Tradition. Um seine Botschaft vom bereits angebrochenen Reich Gottes für alle verständlich zu machen, wählt Jesus eine „zielgruppenorientierte“ Sprache. Er greift dabei gezielt Gleichnisse und Bilder aus der Alltagswelt seiner Zuhörerinnen und Zuhörer auf, um seine Botschaft zu veranschaulichen und verständlich zu machen. Nichts anderes unternimmt die Übertragung in Leichte Sprache.





Herausforderungen und Grenzen



Die Bibel ist für Christen „Wort Gottes“. Sie möchten sie verstehen und sind darauf angewiesen, dass schwer Verständliches entsprechend erklärt wird. Dafür ist die Arbeit von Bibelwissenschaftlerinnen und Bibelwissenschaftlern und anderen Theologinnen und Theologen unverzichtbar. Trotzdem bleiben wichtige Begriffe und Aussagen wie z. B. Menschensohn, Messias, Erlösung u.a. in Bibelübersetzungen unerklärt, auch wenn sie schwer verständlich sind. Wer die Sprache der Bibel vom Hören und Lesen her gewohnt ist, kann aber auch manches stehen lassen, was er oder sie nicht sofort versteht. 



Menschen mit Lernschwierigkeiten dagegen geben sich mit Unverständlichem oder Offenem nicht zufrieden. Entweder fragen sie konkret nach oder sie können dem Ganzen nicht folgen und „schalten ab“. Das bedeutet, dass manche Begriffe in Leichter Sprache „exformiert“ werden müssen, wenn ihr Inhalt verstanden werden soll. Im Text selber Unausgesprochenes, aber Mitgedachtes und Mitschwingendes muss direkt und explizit ausgedrückt werden, damit der Text von Menschen mit Lernschwierigkeiten verstanden werden kann. So wird eben aus dem „Propheten“ ein „Mensch, der in seinem Herzen mit Gott redet“. Oder werden unbekannte Wörter durch verständlichere Begriffe ersetzt, etwa der „Zöllner“ durch den „Schwindler“. Weitere Veränderungen des Originaltextes durch die Übertragung in Leichte Sprache können Auslassungen (durch Konzentration auf das inhaltlich Notwendige), das Einflechten von Erläuterungen und Überleitungen oder die Ergänzung durch andere Bilder oder Vergleiche sein.







Verantwortungsvolle Übertragung



All dies bedeutet, dass unter Umständen der Originalwortlaut des Bibeltextes nicht erhalten bleiben kann. Einen Bibeltext in Leichter Sprache zu erstellen, ist deshalb ein spannender und zugleich verantwortungsvoller Prozess. Die ständige Herausforderung lautet: Wie können die klaren Prinzipien der Leichten Sprache auf den biblischen Text so angewendet werden, dass seine theologische (Kern)aussage und religiöse Tiefe dennoch erhalten bleibt? Wo gelangt die Verständlichkeit unter Umständen an ihre Grenze und muss eine Übertragung zwangsläufig die Mehrdimensionalität biblischer Texte vereinfachen?






Weitreichende Fragen, auf die das Projekt „Evangelium in Leichter Sprache“ Woche für Woche Antworten sucht. Seit zwei Jahren ist das Projekt – eine Kooperation der Bamberger Bistumsakademie Caritas-Pirckheimer-Haus (CPH) in Nürnberg, des Katholischen Bibelwerks Stuttgart und der Franziskanerinnen von Thuine – online. Der (katholischen) Leseordnung folgend, überträgt ein Team aus ganz Deutschland Woche für Woche das Evangelium des jeweiligen Sonntags in Leichte Sprache. Wichtig dabei: Bei der Erstellung sind Menschen mit Lernschwierigkeiten aktiv beteiligt. Den Regeln der Leichten Sprache entsprechend, kommt ihnen die Aufgabe der Prüf-leserinnen und -leser zu: Bevor sie nicht ihr O.K. geben, darf ein Text sich nicht mit dem blauen Logo der Leichten Sprache schmücken. Steht der Text, wird er durch einen kurzen Kommentar ergänzt, der Hinweise zur sprachlichen Übertragung und Möglichkeiten zur katechetisch-pastoralen Arbeit mit dem Text bietet. Schließlich wird alles zusammen mit dem Text der Einheitsübersetzung auf der Webseite www.evangelium-in-leichter-sprache.de veröffentlicht. Wie wichtig die Übertragung von Bibeltexten in Leichte Sprache ist, zeigt die große, durchwegs positive Resonanz auf die Texte. Im November 2015 trafen sich deshalb beinahe 100 Personen aus dem gesamten deutschen Sprachraum erstmals zu einer Werkstatt-Tagung „Bibel und Leichte Sprache“, weitere solche Treffen sind geplant.







Unverzichtbarer Beitrag



Natürlich wollen und können Übertragungen biblischer Texte in Leichte Sprache nicht die gängigen Bibelübersetzungen wie z.B. Einheitsübersetzung oder Lutherbibel ersetzen. Aber sie haben ihre Berechtigung und sind notwendig, wenn der Auftrag Jesu ernst genommen werden soll: Allen Menschen Zugang zur befreienden Botschaft des Evangeliums zu ermöglichen – auch und gerade Menschen mit Lernschwierigkeiten. Deshalb gibt es schlichtweg keine Alternative zur Bibel in Leichter Sprache. Und deshalb wird das dem Inklusionsgedanken verpflichtete Konzept der Leichten Sprache für Verkündigung und Pastoral weiter an Bedeutung gewinnen.




Der Autor


Claudio Ettl, Jahrgang 1967, ist Diplom-Theologe und Bibelwissenschaftler. Als Ressortleiter an der Akademie CPH in Nürnberg ist er zugleich Mitinitiator und Verantwortlicher für das Projekt „Evangelium in Leichter Sprache“.Hier ein Beispiel: 








Das Evangelium zur Heiligen Nacht 



in Leichter Sprache 



(Lukas 2,1-14)



© evangelium-in-leichter-sprache.de






Die Eltern von Jesus sind Maria und Josef. 



In dem Land von Maria und Josef regierte 



ein Kaiser. 



Der Kaiser brauchte viel Geld. 



Alle Leute im Land mussten dem Kaiser 



Geld geben. 



Niemand durfte mogeln.



Alle Leute mussten extra in einer Liste aufgeschrieben werden. 



Maria und Josef mussten für die Liste 



bis nach Betlehem laufen.



Das war ein weiter Weg.



Für Maria war der Weg schwer.



Weil Maria schwanger war.



Maria bekam ein Baby. 





Endlich waren Maria und Josef in Betlehem.



Es war spät.



Und dunkel.



Maria und Josef suchten einen Platz zum Schlafen.



Alle Plätze waren besetzt.



Maria und Josef gingen in einen Stall.



In dem Stall  wurde Jesus geboren.



Maria wickelte Jesus in Windeln.



Maria hatte kein Kinderbettchen für Jesus.



Darum legte Maria Jesus in den Futtertrog 



für die Tiere.



Der Futtertrog heißt Krippe.





In der Nähe von dem Stall waren viele Schafe.



Und Hirten. 



Die Hirten passen auf die Schafe auf. 



Gott schickte einen Engel zu den Hirten.



Der Engel leuchtete und glänzte hell.



Die Hirten bekamen Angst.



Der Engel beruhigte die Hirten.



Der Engel sagte:



Freut euch. 



Jesus ist geboren.



Jesus ist euer Retter.



Jesus hilft euch.



Jesus will allen Menschen helfen.


Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016