Das deutsche Volk wählt seinen Diktator

25. Februar 2008

 



An Ostern 1933 wehten schon die Hakenkreuzfahnen. Durch die Wahl zum Reichskanzler im März vor 75 Jahren war Adolf Hitler ganz legal an die Macht gekommen. Aber wie konnte es einem rassistischen Psychopathen gelingen, am ausschlaggebenden Wahltag über 17 Millionen Wähler hinter sich zu bringen?



 



 



Bereits am 30. Januar 1933 hatte sich der hoch betagte Reichspräsident Paul von Hindenburg nach einer Reihe erfolgloser Kabinette dazu bereit gefunden, den von ihm wenig geschätzten „Führer“ der Nationalsozialisten zum Reichskanzler zu ernennen und mit der Bildung einer mehrheitlich aus deutschkonservativen Ministern bestehenden Koalitionsregierung zu beauftragen. Hitler war damit das zweitmächtigste Amt im Deutschen Reich anvertraut worden, und er zeigte sogleich seine Entschlossenheit, dieses für seine Ziele einzusetzen. Entgegen seinen vorherigen Zusagen an den deutschnationalen Koalitionspartner überredete er den Reichspräsidenten zu Reichstagsneuwahlen, die auf den 5. März 1933 terminiert wurden. In den Wochen bis dahin ließ er elementare Grundrechte einschränken und politische Gegner, hier vor allem Kommunisten und Sozialdemokraten, verfolgen oder massiv einschüchtern. Hitler zeigte somit bereits in dieser frühen Phase ganz offen seinen unumschränkten Machtanspruch.



 



Reichstagswahl März 1933. Der in einer Atmosphäre staatlichen Terrors geführte Wahlkampf ließ die Beteiligung auf die Rekordmarke von 88,8 Prozent hochschnellen. Der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) gelang es, 43,9 Prozent der Stimmen zu erringen, was zusammen mit den 8 Prozent für den Koalitionspartner knapp für die absolute Mehrheit der Reichstagssitze ausreichte. Die Mehrheit der Wähler hatte somit den Regierungsauftrag des Reichspräsidenten bestätigt und sich mit den bisherigen Maßnahmen der Regierung Hitler einverstanden erklärt. Demzufolge handelte es sich bei dem als „Machtergreifung“ verklärten Prozess in Wirklichkeit um eine mehrfache Machtübertragung. Diese Übergabe der politischen Verantwortung fand nur wenige Wochen später in der Selbstentmachtung des Reichstages – selbst hierzu hatte sich eine erforderliche Zweidrittelmehrheit gefunden – und der „Ermächtigung“ der Regierung, von nun an nach Gutdünken Reichsgesetze erlassen zu können, ihre umfassende Abrundung. Für viele Zeitgenossen aber wohl doch überraschend war, wie radikal Hitler von den gebotenen Möglichkeiten Gebrauch machte und wie blitzartig der vollständige Umbau der Republik in eine totalitäre Diktatur vollzogen wurde.



 



Breiter Zuspruch. Bei der bereits 1920 in einem 25 Punkte-Programm artikulierten NS-Ideologie handelte es sich um eine eher willkürliche Ansammlung wirrer völkisch-rassistischer und sozialdarwinistischer Vorurteile, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Köpfen kursierten und deren Essenz in einer Ablehnung der Grundsätze von Gleichheit, Toleranz und Nächstenliebe bestand. Der als ungerecht und demütigend empfundene „Schandfriede“ von Versailles von 1919 hatte auf der kollektiven Bewusstseinsebene der Deutschen ein Gefühl von Erniedrigung und Demütigung hinterlassen, das sie grundsätzlich für dieses völkische, den Vorrang der „arischen Herrenrasse“ betonende Ideengut empfänglich machte. Das gesellschaftlich latent vorhandene Gefühl einer Mitverantwortung an der Niederlage des Ersten Weltkriegs wurde daher bereitwillig mittels der gerne für wahr gehaltenen „Dolchstoßlegende“ verdrängt und sündenbockartig auf Minderheiten wie Spartakisten und Juden projiziert. Der Durchbruch der NSDAP erfolgte schließlich in den Jahren der Weltwirtschaftskrise, die sich aufgrund der politischen Labilität der Weimarer Republik, des durch Kriegsniederlage und Inflation reduzierten Wohlstandsniveaus und durch eine immense Zunahme der Arbeitslosigkeit rasch von einer wirtschaftlichen zu einer Gesamtkrise ausweitete. Die Krisensituation trug maßgeblich zu einer gravierenden Änderung des politischen Klimas bei, die Hitler für sich auszunutzen verstand. Dank seines ausgeprägten Gespürs für das Volksempfinden ventilierte er die Nöte seiner Mitmenschen und das Umgreifen von Existenzängsten und präsentierte sich anhand seiner ausgesprochen rhetorischen und demagogischen Begabung breiten Bevölkerungskreisen als Problemlöser. Darüber hinaus ließen ihn seine öffentlich propagierten Absichten, den Versailler Vertrag zu annullieren, eine „großdeutsche“ Einigung herbeizuführen und den Deutschen den ihnen – dies zum kompensatorischen Ausgleich des durch die Kriegsniederlage bedingten nationalen Minderwertigkeitsgefühls – „legitim“ zustehenden Vorrang unter den Völkern der Erde zu verschaffen, zahlreichen Wählern als „germanischer Messias“ erscheinen, der in der Lage wäre, sie zugleich vom kollektiven Selbstwertdefizit zu erlösen. So weit zu denken, welche Konsequenzen eine Realisierung dieser Ziele auch für sie persönlich haben würde, waren die NS-Wähler offenbar nicht fähig.



 



Verhängnisvoller Handel. In einem demokratischen System bedeutet die Wahl von Repräsentanten stets auch die Übertragung politischer Macht, wobei allerdings Gewaltenteilung und insbesondere eine zeitliche Befristung des Wahlamtes Fehlentscheidungen revidierbar gestalten. Die Nationalsozialisten machten jedoch von vornherein deutlich, dass sie eine Abschaffung des parlamentarischen Systems anstrebten, so dass die Wähler – und im übrigen auch der Reichspräsident und seine Berater – sich darüber klar gewesen sein mussten, dass Hitler dieses Korrektiv ausschalten wollte. Seine Botschaft an die Wähler besagte im Kern, dass ihre vielfältigen wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Probleme gelöst seien, wenn sie ihm im Gegenzug nur unbedingten Gehorsam entgegen brächten. Großen Wählerschichten erschien dies als verlockendes Angebot, da ihre Vorleistung nur ein Kreuzchen an entsprechender Stelle umfasste und sie dafür von der Bürde ihnen unlösbar erscheinender Aufgaben befreit würden. Die weitere Entwicklung des „Dritten Reiches“ zeigte indes aber eindringlich, dass mit der Stimm-abgabe für die Nationalsozialisten nicht nur auf Nimmerwiedersehen eine restlose Übertragung der individuellen politischen Verantwortung bewerkstelligt worden war, sondern die Wähler damit zugleich in einem unvorstellbaren Ausmaß ihre Selbstbestimmung an Partei und „Führer“ abgetreten hatten, was nichts anderes bedeutete, als eine persönliche Zurverfügungstellung zum Missbrauch. 



 



Hitlers Selbstwertdefizit. Uns heutigen Menschen ist geläufig, dass Hitler fraglos Züge von Größenwahn aufwies, aber kennen wir auch dessen tiefere Ursachen? Aus der Psychologie ist hinlänglich bekannt, dass die Gründe dieses psychopathischen Erscheinungsbildes – und ebenfalls diejenigen der stark abgeschwächten, im täglichen Miteinander anzutreffenden Formen wie übersteigertes Selbstwertgefühl, Selbstüberschätzung und Arroganz – grundsätzlich auf der entgegengesetzten Seite der Gefühlsskala zu suchen sind. Dies bedeutet, dass einem übersteigerten Selbstwertgefühl stets ein Selbstwertdefizit zugrunde liegt. Tiefenpsychologischen Erkenntnissen zufolge ist diese Kompensationshaltung insbesondere bei Persönlichkeiten gegeben, die vermeiden, Gefühle direkt auszuleben. Ein direktes Ausleben von Minderwertigkeitsgefühlen zeigt sich unter anderem durch unsicheres Auftreten, Verneinung eigener Bedürfnisse oder insgesamt durch ein Festmachen des eigenen Selbstwertes am Grad der äußeren Anerkennung. Eine Kompensationshaltung zeigt sich jedoch dadurch, dass der Betroffene die mit dem Selbstwertdefizit verbundenen seelischen Schmerzen zu umgehen sucht, indem er sich krampfhaft darum bemüht, sich emotional ausschließlich im Gegenpol, dem übersteigerten Selbstwert, aufzuhalten. Hierbei bestimmt der Grad des Minderwertigkeitskomplexes das Ausmaß der Kompensationsbewegung. Der Umfang, in dem später Hitlers megalomanische Züge zutage traten, weist also darauf hin, dass er in seinen jungen Jahren tiefe unverarbeitete Traumen erlitten haben musste, die ein starkes Minderwertigkeitsgefühl in ihm entstehen ließen. Aber wann fanden diese Erfahrungen statt?



In seiner Vita stößt man insbesondere in seinen Wiener Jahren auf eine längere, von Misserfolg gekennzeichnete Lebensphase, wobei die Ablehnung seines ursprünglichen Berufswunsches offenbar ein besonders tiefer Einschnitt war.



 



Jäher Schlag. So bewarb er sich im Oktober 1907 an der für ihre hohen Anforderungen berüchtigten Wiener Kunstakademie und wurde „mit ungenügendem Erfolg“ abgewiesen. Sein Biograph Joachim C. Fest beschreibt, dass Hitler dieses Erlebnis als „jähen Schlag“, „grellen Blitz“ und „nie heilende Gemütswunde“ empfand, als er insbesondere zuvor auch schon schulisch versagt hatte und eine weitere Bewerbung im Folgejahr zu einer erneuten Abweisung führte. Seine Unfähigkeit, die erfolgte Zurückweisung auf sein künstlerisches Talent zu beschränken und nicht auf seine Gesamtpersönlichkeit zu beziehen, ließ ein inneres Selbstbild des „Nicht-gut-genug-seins“ entstehen, das in ihm fortwirkte. Daher ist es gut nachvollziehbar, dass er später in „Mein Kampf“ auch die von sozialem Abstieg und Obdachlosenasyl-Aufenthalten geprägte Wiener Lebens-periode stark verfälschte und sich in übersteigerten Selbstwert flüchtete. Und da das menschliche Egosystem zur Vermeidung seelischer Schmerzen danach trachtet, die tatsächlichen Ursachen erlittener Missgeschicke zu verdrängen und in die Außenwelt zu projizieren, begegnete Hitler fortan der bürgerlichen Gesellschaft, die er für diese Zurückweisung verantwortlich machte, mit tiefer Verachtung, starken Ressentiments und einem Bedürfnis nach Rache.



 



Lernerfahrungen für heute. Am Beispiel der Erfahrungen im Umfeld der Reichstagswahl vom März 1933 wird ersichtlich, wie verhängnisvoll es sich auswirken kann, wenn Persönlichkeiten mit unverarbeiteten seelischen Belastungen mit Macht und Einfluss ausgestattet werden. Daher sollten Bewerber, die sich für politische Ämter oder auch für Schlüsselfunktionen in Beruf und öffentlichem Leben zur Wahl stellen, von den Entscheidungsträgern jeweils daraufhin befragt werden, aus welchen Motiven sie handeln. Streben sie nach Geltung aus Prestige- oder sonstigen persönlichkeitsdefizitären Gründen? Oder handelt es sich um integrierte Persönlichkeiten, die ihren Einfluss vornehmlich zur Verbesserung bestehender Missverhältnisse einsetzen möchten? Bei einem Votum handelt es sich grundsätzlich um einen Vertrauensvorschuss. Die beste Alternative zur Übertragung gesellschaftlicher Macht ist aber immer noch, seine persönlichen Gestaltungsmöglichkeiten auszuschöpfen und eigenverantwortlich in Politik und Gesellschaft aktiv zu werden.



 



 



 



Nicht nur der Reichspräsident und die Hitler „einrahmenden“ deutschnationalen Kabinettsmitglieder wie Hugenberg oder Seldte schätzten die Entschlossenheit der Nationalsozialisten, ihre propagierten Ziele auch in die Tat umzusetzen, vollkommen falsch ein, sondern auch ausgesprochen politische Gegner. So starteten die Sozialdemokraten im Vorfeld der Reichstagswahl vom 5. März 1933 eine Anzeigen- und Plakatkampagne, in der die zahlreichen Versprechungen Hitlers als nicht ernst gemeint hingestellt wurden. Auf provokative Fragestellungen wie „Wann wird der Versailler Schandvertrag den Franzosen vor die Füße geworfen?“ oder Anspielungen auf eine Rückgängigmachung der territorialen Verluste des Ersten Weltkriegs „Wann bekommen wir Ostoberschlesien und Eupen-Malmedy wieder?“ fanden die Nationalsozialisten jedoch bereits wenige Jahre nach der vollständigen Machtübernahme in einem weithin nicht für möglich gehaltenen Umfang Erwiderung.



Wie konsequent und zeitnah die Nationalsozialisten bei der Durchführung ihrer Absichten vorgingen, mussten die republikanischen Kräfte schon wenige Wochen nach ihrer Anzeigenkampagne im Februar 1933 erfahren: Unmittelbar nach der Reichstagswahl wurde das Erscheinen sämtlicher sozialdemokratischer Presseorgane verboten. Bis Sommer 1933 waren dann auch die demokratischen Parteien des bürgerlichen Spektrums aufgelöst und ein totalitärer Einparteienstaat geschaffen.



 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016