Das Ghetto von Lodz

20. September 2013 | von

Völlig anders als im Warschauer Ghetto, in dem es von April bis Mai 1943 zu einem jüdischen Aufstand kam, verliefen die Ereignisse im Ghetto von Lodz, der heute drittgrößten Stadt Polens, die von den Nationalsozialisten im April 1940 in Litzmannstadt umbenannt worden war. Im Herbst 1941 ließ der Reichsführer-SS Heinrich Himmler zwanzigtausend Juden aus dem „Altreich“, aus Österreich, Böhmen und Luxemburg in das Lodzer Ghetto einweisen.




„Eine Stadt von 88.000 (beziehungsweise 100.000) Einwohnern, ohne Schule, Lehrer, Lehrbücher, Synagoge, Kino, Radio, Grammophon, ohne Wald und Wiese, ohne Geschäfte, ohne Heim, ohne Musikinstrument, wo alle dasselbe essen, ohne Trinkwasser, ohne Zeitung, ohne Bibliothek, ohne Cafe, ohne Gasthaus, ohne Hotel, ohne Spiel und Sport, ohne Auto, Fahrrad, ohne Haustiere (Hund, Katze, Igel, Ziege, Kaninchen)…, Briketts, Gemüse Stunden weit aus der Vorstadt Marysin [dort gab es einen Umschlagplatz für Lebensmittel und Brennmaterial] holen… Kein Wagen, keine Zigarre… keinen Wein, kein Bier, keinen Schnaps, keinen Alkohol.“ Diese erschütternden Worte schrieb Oskar Rosenfeld Ende 1943 in sein Tagebuch.



ZUSAMMENGEPFERCHT

Um welche Stadt handelt es sich in diesem Fragment? Es geht um das Lodzer Ghetto, eine Stadt in der besetzten Stadt Lodz, die 1940 von den Nazis in Litzmannstadt umbenannt wurde. Auf einem Gebiet von 4,13 Quadratkilometern wurden etwa 164.000 Menschen zusammengepfercht (zum Vergleich: Mülheim an der Ruhr zählt 167.000 Einwohner auf einer Fläche von 91 Quadradkilometer). Für das sogenannte „Wohngebiet der Juden“ in Lodz wählten die Nazis Stadtteile, die ohnehin fast ausschließlich von verarmten Juden bewohnt waren. Die Häuser in diesem Bezirk – damals vorwiegend aus Holz gebaut – waren in einem besonders schlechten Zustand. Es gab keine Kanalisation, oft fehlte es an der Gas- und Stromversorgung. Die fehlende Kanalisation bot keine unterirdischen Schlupflöcher, wie sie beispielsweise im Warschauer Ghetto den Schmuggel – unter anderem von Waffen – begünstigt hatten. Am 30. April 1940 wurde das Lodzer Ghetto topographisch vom Rest der besetzten Stadt isoliert und hermetisch abgeriegelt.



JÜDISCHE SELBSTVERWALTUNG

Die Organisationsstruktur des Ghettos war dreigeteilt. Es gab eine deutsche Ghettoverwaltung, eine deutsche Polizeiaufsicht (Gestapo, Kripo, Schupo) und eine scheinbare jüdische Selbstverwaltung. Die oberste Entscheidungsgewalt lag bei der deutschen Ghettoverwaltung. Diese Stelle leitete ab 1. Mai 1940 der 1902 in Bremen geborene Kaufmann Hans Biebow.

An der Spitze der scheinbaren jüdischen Selbstverwaltung stand der Judenälteste Mordechaj Chaim Rumkowski, auch Präses genannt. Obwohl er einen Judenrat berufen hatte, spielte dieses Gremium fast keine Rolle, sodass er seine Macht letztlich autoritär ausübte. Er schuf eine eigene Ghetto-Rechtsprechung, ließ ein Ghetto-Gefängnis einrichten und führte eine eigene Währung ein, „Rumki“ genannt, deren Scheine seine Unterschrift trugen, und Briefmarken mit seinem Porträt. Rumkowski versuchte die Existenz des Ghettos durch Arbeit abzusichern, was in der Parole „Unser einziger Weg ist Arbeit“ seinen Ausdruck fand. Es herrschte eine Arbeitspflicht, der fast die ganze Bevölkerung im Alter vom zehnten bis zum 65. Lebensjahr unterzogen wurde. Tausende von Juden fanden Beschäftigung in über hundert Fabriken, Ressorts genannt, in denen Waren sowohl für die Wehrmacht als auch für private deutsche Unternehmen hergestellt wurden. Für die Arbeit, die den Besatzern riesige Gewinne brachte – Ende des Jahres 1943 waren es 27 000 000 RM monatlich –, wurden die Arbeiter sehr schlecht entlohnt. Sie bekamen ca. 70 Pfennige täglich, wobei ein Kilo Kartoffeln auf dem „schwarzen Markt“ zwischen zwei und sieben Mark kostete.



TÄGLICH 600 KALORIEN

Die Ghetto-Bewohner, die 14 Stunden am Tage ihre Arbeit verrichteten, kehrten in ihre ungeheizten Wohnungen mit ramponierten Türen und zerschlagenen Fenstern, aufgerissenen Fußböden und ohne Möbel zurück, die sie mit weiteren sechs oder sieben Personen teilen mussten. Ihre tägliche Nahrung bestand aus zwei Scheiben Brot, einer wässerigen Suppe mit meist einer Kartoffel und etwas Malzkaffee. Alle Lebensmittel waren nur über verschiedene Arten von Karten und Talons zu bekommen. Während im Jahr 1940 die tägliche Nahrungsration 1.800 Kalorien betrug, wurde sie Mitte des Jahres 1942 auf 600 Kalorien reduziert. In den Ghetto-Schulen, die bis September 1941 bestanden, bekamen die Kinder jeden Tag Essen.

Außer den Produktionsstätten gab es im „Wohngebiet der Juden“ ein weit verzweigtes Netz von Selbstverwaltungseinrichtungen. Mordechaj Chaim Rumkowski sorgte auch für soziale Strukturen zugunsten der Ghetto-Bevölkerung. Arbeiter und Beamte konnten jährlich sieben Tage in sogenannten „Erholungsheimen“ im grünen Teil des Ghettos verbringen, Kindern wurde im Sommer ein Aufenthalt in „Kinderkolonien“ ermöglicht. Es gab auch Schulen, Altersheime, Sammelstellen für Obdachlose, Kräftigungsküchen sowie Küchen für die Intelligenz. Für die Erhaltung und Entwicklung der jüdischen Kultur sorgte u.a. das Kulturhaus.



ANKUNFT DER WESTJUDEN

Im Herbst 1941 wurden auf Anordnung des Reichsführers-SS (Schutzstaffel), Heinrich Himmler, 20.000 Juden aus dem „Altreich“, sowie aus Österreich, Böhmen und Luxemburg und dazu 5.000 Sinti und Roma aus dem Burgenland ins Lodzer Ghetto eingewiesen. Letztere wurden in einem separaten sogenannten „Zigeunerlager“ untergebracht. Um den „neuen“ Einwohnern Unterkunft zu geben, wurden alle Schulen geschlossen. In ihnen wurden die meisten Westjuden in „Kollektiven“ untergebracht. Die Ankömmlinge veränderten mit ihrer jeweils eigenen Sprache, Mentalität und Kultur das Gesicht und die soziale Struktur des Ghettos.

Der erste Transport mit sogenannten Westjuden traf in Lodz am 16. September 1941 aus Wien ein. Ihm folgten 19 weitere aus Wien, Prag, Berlin, Luxemburg, Köln, Frankfurt am Main, Hamburg, Trier, Emden und Düsseldorf.

Aus den Texten der Westjuden lässt sich ablesen, inwieweit sich ihre Hoffnungen und Vorstellungen von dem neuen Wohnort mit der Realität an Ort und Stelle deckten. Bevor sie in Lodz angekommen waren, teilte ihnen die Gestapo in der Heimat mit, dass sie „in eine deutsche Industriestadt fahren, in der alle Arbeit bekommen werden… Es lag etwas Versöhnendes, Tröstendes in diesen letzten Worten in der Heimat: deutsche Stadt…, Arbeit…, Verdienst…, wieder Wurzel fassen, auf eigenen Füßen stehen können“, so notierte die Wienerin Alice de Buton.



AHNUNGSLOS

Die Deportierten, die ja selbst aus einer Großstadt stammten, kamen mit entsprechenden Erwartungen in Lodz an. Daher wundert es nicht, dass einer von den Wienern, ein alter, elegant gekleideter Mann, aus dem Fenster des Waggons ahnungslos den Polizisten zurief, ob diese ihm ein anständiges Hotel für vier Personen empfehlen könnten – so berichtet es die Chronik des Ghettos aus dem Jahre 1941. Nach der Ankunft transformiert Oskar Rosenfeld, der aus Prag deportiert wurde, sehr schnell sein Denken über diese vorgestellte Stadt, indem er in seinen Aufzeichnungen auf die hässliche Realität verweist. Unterwegs von der Bahnrampe bemerkte er nämlich Dinge, die „im Westen nicht zu sehen sind“, wie „Karren, kleine Wagen, die von jungen und alten Leuten, nicht von Tieren geschleppt wurden…“. Er sah eine verwahrloste, häuserarme Gegend, „von der man nicht sagen konnte, ob sie eine Stadt oder Dorf sei“.

Nach der Einlieferung der Westjuden im Herbst 1941 wurde es in den Straßen des Ghettos bunter und etwas lebendiger. Diese neue Erscheinung wird von Oskar Rosenfeld in seinen Notizen festgehalten: „Durch diese einst von Unterweltfiguren und Proletariern und polnischen Kleinbürgern bewohnten Straßen schleichen jetzt Menschen aus Wien, Prag, Berlin, Frankfurt, Hamburg, Danzig, Luxemburg, München... in halbwegs modischen Kleidern wie Touristen, die an einen ungewohnten Ort gelangt sind, zwischen den Einheimischen, den aus Lodz Deportierten, das heißt nach Litzmannstadt-Ghetto Gejagten.“



GESELLSCHAFTLICHE HIERARCHIE

Rosenfeld steht aber der Anpassung der westeuropäischen, assimilierten Juden an das neue Milieu sehr skeptisch gegenüber, denn seiner Meinung nach gibt es „Gestalten und Gruppen, die morphologisch ins Ghetto gehören, weil sie seit eh und je im Ghetto Polen gelebt haben, und Figuren, die – europäisch geformt in Kleidung und Haltung – sich nicht amalgamieren lassen”. Diese Meinung teilt der andere Prager Autor, Oskar Singer, indem er in seinen Essays Zum Problem Ost und West die Kluft zwischen Ost- und Westjuden immer wieder betont.

Im Ghetto hat sich der soziale und materielle Status der Einwohner aus Prag, Wien, Berlin, Frankfurt, Köln und Hamburg völlig verändert. Die gesellschaftliche Hierarchie wurde in Frage gestellt; die ehemalige Elite verrichtete die schmutzigsten Arbeiten: „Universitätsprofessoren, die auf dem Katheder vortrugen, laufen mit ihrem Topf um eine Suppe, namhafte Sänger drücken einen Kohlenwagen, Rechtsanwälte stehen Posten in einer Fastnachts-Uniform (Armschleife und bunte Kappe), bedeutende Chemiker und Schauspieler warten vor zerfallenen Baracken auf den Ruf, in einem Ressort (Stroh, Altmaterial...) unterzukommen.“

Oskar Rosenfeld, der bis 1941 in solchen Metropolen wie Wien und Prag gelebt hatte, findet im jüdischen Bezirk wenig Gemeinsamkeiten mit städtischen Formen, die ihm vertraut waren. Er sieht in diesem Ghetto die „Ausgeburt von einer Stadt“, „ein Unikum“, den „Golem unter den Städten der Welt“. Rosenfeld zitiert in seinem Tagebuch die Nazis, die das Lodzer Ghetto „Krepierwinkel Europas“ nannten. Oskar Singer bezeichnet das Ghetto als „die Stadt der Kulis“ und das „Shanghai des Westens“.



STÄNDIGE ANGST

Das Leben der Bevölkerung des Ghettos war von ständiger Angst vor Deportationen begleitet. Die Transporte gingen zuerst ins Vernichtungslager Kulmhof, dann nach Auschwitz. Der erste Transport nach Kulmhof fuhr am 16. Januar 1942 ab. Die Opfer wurden in Lastwagen getrieben, in deren Inneres Abgase geleitet wurden. Nach einigen Minuten erstickten die Menschen an den Abgasen. Bis zum 15. Mai 1942 vergasten die Nationalsozialisten dort über 57.000 Juden, davon über 10.000 Westjuden.

Die Listen für die Deportation musste der Judenälteste Rumkowski zusammenstellen. Die meisten Opfer waren nicht berufstätig. Es gab unter ihnen viele Kranke und Alte, welche der Strategie Rumkowskis „Rettung durch Arbeit“ im Wege standen. Sie beanspruchten Wohnplätze und Lebensmittel, erbrachten aber nicht die gewünschte Arbeitskraft. Im Ghetto blieb das Schicksal der Deportierten unbekannt.



SELEKTION DER KINDER

Eine große Tragödie ereignete sich in der Zeit vom 5. bis 12. September 1942 während der so genannten „Großen Sperre“. Zuvor hielt Rumkowski am 4. September 1942 am Basarplatz eine öffentliche Rede, in der er von den Eltern verlangte, ihre kleinen Kinder zur Deportation freizugeben. Für seine Entscheidung, Tausende Menschen zu opfern, argumentierte er mit der Möglichkeit, viel mehr Menschenleben retten zu können: „Ich muss diese schwere blutige Operation durchführen, ich muss Glieder amputieren, um den Körper zu retten! Ich muss Kinder nehmen, denn andernfalls – Gott behüte – werden andere genommen.“

Zuerst durch den jüdischen Ordnungsdienst, dann durch die Deutschen wurden Kinder und Greise brutal zusammengetrieben, Menschen aus Krankenhäusern auf die Straße geworfen, Eltern, die ihre Kinder nicht zur Deportation freigeben und beschützen wollten, erschossen und lebendige Säuglinge aus Fenstern geworfen. Kinder unter zehn Jahren, alte Menschen über 65 Jahre, Kranke und Arbeitsunfähige, insgesamt ca. 20.000 Menschen, wurden nach Kulmhof verschleppt und sofort ermordet. Nach dieser Deportationswelle wurde das Ghetto in ein Arbeitslager umgewandelt, in dem ein Recht auf Leben nur diejenigen hatten, die arbeitsfähig waren.



ENDE IN AUSCHWITZ

Die Deportationen setzten erneut Mitte Juni 1944 ein, angesichts der Offensive der Roten Armee. Im Ghetto lebten damals noch 68.561 Menschen. Für ihre Vernichtung wählten die Nationalsozialisten das Konzentrationslager Auschwitz. Am 29. August 1944 verließ der letzte Transport, mit dem auch der Judenälteste Rumkowski deportiert wurde, Lodz und fuhr nach Auschwitz. Das letzte Ghetto auf polnischem Boden hörte auf zu existieren.

Geblieben sind schriftliche Zeugnisse aus dem Ghetto.

Zu diesen zählen u.a. die vier Jahre lang täglich verfasste Chronik des Ghettos mit über viertausend Seiten, Tagebücher, Reportagen, Essays, Erzählungen und Gedichte. Hervorzuheben ist die Enzyklopädie des Ghettos, ein Lexikon dieser Zwangsgemeinschaft, das 1944 von einem Autorenkollektiv verfasst wurde und das vergeblich seinesgleichen in der Holocaust-Weltliteratur sucht.

Das Lodzer Ghetto und vor allem der umstrittene Judenälteste Mordechai Chaim Rumkowski inspirieren auch Literaten.

Andrzej Bart verfasste den Roman Fliegenfängerfabrik und Steve Sem-Sandberg den Roman Die Elenden von Lodz, um nur zwei Beispiele aus dem Jahre 2012 zu nennen. Uns bleibt das Gedenken, wie Papst Benedikt XVI. im Mai 2009 in der Halle der Erinnerung der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem sagte: „Mögen die Namen dieser Opfer niemals untergehen. Möge ihr Leiden niemals bestritten, verharmlost oder vergessen werden.“




Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016