Das lange Warten der Menschheit auf ihren Erlöser Jesus Christus

22. Oktober 2012 | von

800 Quadratmeter weit wölbt sich der bedeutendste Gemäldezyklus der Welt in der Sixtinischen Kapelle über unseren Köpfen. Vor 500 Jahren wurde Michelangelos Meisterwerk feierlich enthüllt. Seither stehen jährlich bis zu 4 Millionen Besucher Schlange, um das lange Warten der Menschheit auf die Erscheinung Christi zu bestaunen.



Wer kennt ihn nicht, den berühmten Fingerzeig: Mit ausgestreckter rechter Hand braust Gott energisch ins Bild, dem Adam entgegen. Die Augen sehnsüchtig auf den Schöpfer gerichtet, hängt Adam schlaff in der linken Bildhälfte, nackt auf nackter Erde. Halb sitzend, halb liegend stützt er seinen rechten Arm auf das angewinkelte Knie und hält die Fingerspitze der erschaffenden Kraft Gottes entgegen. Die insgesamt neun Fresken am Deckengewölbe der Sixtinischen Kapelle wurden vor 500 Jahren feierlich enthüllt, am 1. November 1512.



SZENEN DER GENESIS

Zeitzeugen beschreiben das beinahe „furchterregende“ Talent des Renaissance-Künstlers Michelangelo, der sich durch diese Fresken verewigt hat. Das gesamte Deckengewölbe besteht aus über 300 Einzelfiguren und ist in verschiedene Ebenen durch eine gemalte Architektur gegliedert. In den höchsten Höhen befinden sich die zentralen neun Bildfelder. Jeweils drei Sequenzen zeigen die Schöpfung der Welt, die Erschaffung des Menschen und Episoden der Geschichte Noahs, die wiederum als einzelne rechteckige Gemäldeteile aneinandergereiht sind. Während die chronologische Reihe mit den Schöpfungsakten beginnt, hat sich der Künstler tatsächlich von der Tür aus zum Altar hin vorgearbeitet, beginnend mit „Trunkenheit Noahs“, so dass die zuletzt geschaffenen Gemälde sich durch eine expressiver werdende Handschrift mit leichtem Pinselschwung auszeichnen. Bei „Scheidung von Licht und Finsternis“ nimmt Gott, gehüllt in ein rosa Gewand, beinahe die ganze Fläche ein. Neueste Studien bestätigen, dass diese Darstellung als giornata entstand, also als Tagwerk, das trotz oder vielleicht gerade wegen seiner komplexen perspektivischen Umsetzung an nur einem Tag gemalt wurde. Von nicht minderer darstellerischer Raffinesse zeugen auch die folgenden Episoden „Erschaffung der Gestirne und Pflanzen“ und „Scheidung von Land und Wasser“.



EVA IM ZENTRUM

Das fünfte Bildfeld liegt genau in der Mitte der Decke und präsentiert an exponierter Stelle die Erschaffung Evas. Eva steht auf felsigem Boden, das rechte Bein angewinkelt, wobei der Fuß vom Brustkorb des im unteren Eck schlafenden Adam verdeckt wird. Sonst verweist nichts auf die biblische Beschreibung, die Frau sei aus der Rippe des Mannes geformt. Diese Frau ist bereits aufrecht, demutsvoll nach vorne gebeugt, mit betend erhobenen Händen, Gott entgegen, der mit beiden Beinen auf der Erde steht und Eva mit väterlich ernsten Augen anblickt. Aber wie kommt die Erschaffung der Frau in die Mitte der Sixtinadecke? Der Kunsthistoriker Heinrich Pfeiffer liefert eine Deutung: An der Altarwand der Kapelle befand sich damals eine Darstellung der Immaculata, auf die Michelangelo Bezug nimmt. Eva, ihrerseits rein und ohne Sünde erschaffen, ist als Typos (Vorausbild) für die zweite Eva, Maria, zu verstehen, die wiederum rein empfangen und ohne Sünde geblieben ist. „Mit Eva zeigt [der Künstler] die ganz ihrem Schöpfer in Anbetung zugewandte Kreatur, die bräutliche Kirche und die bräutliche Seele eines jeden Gliedes der Kirche, das, wenn es vollkommen geworden ist, nach göttlichem Plane der jungfräulichen, ganz reinen Mutter gleicht“, konstatiert Heinrich Pfeiffer.



DAS KOMPLEXE BILDPROGRAMM

Die letzten drei Gemälde handeln von Noah: seinem Opfer, der Sintflut und seiner Trunkenheit. Die Entblößung des betrunkenen Noah (zweiter Stammvater der Menschheit) erklärt sich als Vorausbild für Christus, der am Kreuz verspottet wird. Dadurch erzeugt der Maler eine Beziehung zu dem darunter gelegenen Fresko von Cosimo Rosselli, der in seiner Abendmahlsdarstellung die Szene von Jesu Todesangst im Garten Getsemani und von seiner Kreuzigung aufgreift. Michelangelo fügt sein Deckenfresko geschickt in das bereits bestehende Bildprogramm ein, das verschiedenen Künstlerhänden und Zeiten entstammt. Seine Gemälde wirken aufbauend, ergänzend und erweiternd. Der Maler webt ein dichtes Netz aus komplexen inhaltlichen und bildlichen Verbindungen mit dem Umliegenden, aber auch innerhalb des eigenen Bilderzyklus, der sich in verschiedenen Ebenen mit der Menschheitsgeschichte vor dem Erscheinen Christi befasst.

Um den mittleren Gemäldereigen thronen inmitten von Pilastern jene, die die Ankunft Christi vorausgesagt haben. Die sieben biblischen Propheten und fünf heidnischen Sibyllen lesen in Büchern oder entrollen Pergamente in sichtlich geistiger Anstrengung.



AUSGESUCHTE RANDFIGUREN

In den Stichkappenzwickeln wird das tatsächliche Warten auf den Erlöser illustriert. Von gelangweilt bis gequält entwickelt Michel-angelo in oft schnellen Pinselstrichen und fließenden Farben Variationen der menschlichen Gestik und demonstriert nicht zuletzt seine ausgeprägte Kunstfertigkeit. Eine Ebene darunter schließlich sind die Vorfahren Christi zu sehen nach der Listung aus dem Matthäus-Evangelium 1,1-16. Als Nebendarsteller finden sich am Rande der Genesis-Gemälde männliche, nackte Figuren in unbequemen Posen, die Ignudi. Ihre körperliche Schönheit soll auf das Gute im Menschen verweisen, der als Ebenbild Gottes erschaffen wurde. Sie halten Bänder mit Bronzemedaillons, auf welchen Szenen aus dem Alten Testament zu sehen sind.

Heute verdrehen sich täglich an die 25.000 Menschen den Hals nach dem wohl berühmtesten Deckengewölbe der Welt. Den Auftrag an Michelangelo vergab Papst Julius II., dem auch der Auftrag für die Sixtinische Madonna, über die wir im letzten Heft berichteten, zu verdanken ist. Michelangelo Buonarotti, der 1475 geboren wurde, war schon in jungen Jahren als Bildhauer in Florenz bekannt. 1505 wird ihm die große Ehre zuteil, an den päpstlichen Hof gerufen zu werden, um das Grabmal für Papst Julius II. zu entwerfen. Dieser Auftrag endet allerdings disaströs und erfolglos: Nach Missverständnissen und Enttäuschungen verlässt Michelangelo 1506 abrupt Rom und wird erst einige Jahre später dorthin zurückkehren, diesmal mit dem Auftrag für die Sixtina bedacht, dem er sich von 1508 bis 1512 widmet.



KNOCHENJOB KUNST

Zeitgenossen beschreiben Michelangelo als eine exzentrische, teilweise verrückt anmutende Person. Ebenso legendär wie seine unglaubliche Begabung war seine bis zur Selbstaufgabe reichende Arbeitsweise. Auch in den vier Jahren harter Arbeitszeit an dem monumentalen Deckengewölbe sind seine psychischen wie physischen Krisen dokumentiert: schräg auf dem Rücken liegend, den Hals verdreht, während ständig die Farbe ins Gesicht tropft, malt er unerbittlich mit höchster Konzentration. Am Ende steht ein müder, gealterter 37-jähriger Künstler, der ein Werk geschaffen hat, das ihn unsterblich machen wird.





Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016