Das Lilien-Wunder

09. September 2019 | von

In der italienischen Provinz Chieti gibt es gleich zwei Feste für den heiligen Antonius, am 13. Juni und am 19. August. 

Ein doppeltes Fest wird für den heiligen Antonius gefeiert, hier in Giuliano Teatino, einem Ort mit 1.200 Einwohnern in der Provinz Chieti. Der traditionelle Termin am 13. Juni, ein zusätzlicher am 19. August. Ein seltsames Fest, lustig und schön. Ein starkes Zeichen in einer typischen süditalienischen Gemeinde. „Es ist uns sehr wichtig“, sagt mir der Bürgermeister Nicola Andreacola. Ein Fest, das gleichzeitig weltlich und religiös ist, ein Ausdruck der lokalen Identität.

Viele Vorbereitungen
Ich bin zu spät gekommen: Gilda hat schon an Mariä Himmelfahrt den Sauerteig angesetzt. Nach einem Rezept, das versteht sich von selbst, das geheim gehalten wird, das von Frau zu Frau mündlich und ohne jemals aufgeschrieben worden zu sein weitergegeben wird. Gilda, so erzählt man mir, hat es von Amelia bekommen, die schon gestorben ist. 
Am Tag danach, am 16. August, hat sich ein Grüppchen von vier Männern aufgemacht, um Lorbeerzweige zu holen. In der Nacht vom 16. auf den 17. August treffen sich die Frauen am Backhaus, um Teig zu kneten. Mehr als ein Zentner Mehl, mehr als tausend Eier, Dutzende Kilo Zucker und bunte Zuckerperlen als Dekoration. Die Frauen haben sich um ein Uhr nachts am Backhaus verabredet und bis zur Mittagszeit haben sie die „Taralli di sant’Antonio“, große runde Teigkringel, dekoriert mit Zuckerguss und bunten Bändern, gebacken. Diese Kuchen bäckt man nur an diesem einen Tag im Jahr. Als ich ankomme, sind sie schon aus dem Ofen geholt worden. Am 18. August sind dann die Männer dran: zehn oder zwölf, fast immer dieselbe Gruppe. Sie müssen an einem Vormittag einen Motivwagen bauen. Sie haben den Boden, ein Gerüst aus Eisen, das mit den Lorbeerzweigen bedeckt werden muss. Dort werden dann mit bunten Bändern die Taralli befestigt, einer neben dem anderen, es sieht fast aus wie ein buntes Harlekins-Kostüm. An der Front des Wagens wird ein altes Antoniusbild angebracht, mit der Lilie in der Hand.

Ein Fest wie aus dem Bilderbuch
Dann ist endlich der 19. August, der Festtag, überall sind Lichterketten, Stände und Buden, es gibt Spanferkel und gebrannte Mandeln, am Abend wird es ein Konzert geben. Am Morgen hingegen hat der geschmückte, von einem Traktor gezogene Wagen die Felder und die Straßen des Ortes durchquert, vorne-
weg die Blaskapelle, hintendran die Bewohner, bis hin zur großen Kirche. Nun kommt der Moment der Segnung der Piazza, des Gebetes, des Dankes, der Spenden, der Verehrung des beliebtesten Heiligen. Schließlich wird der Wagen „demontiert“, ein Tarallo nach dem anderen, letztes Jahr waren es 1.800! Sie werden an die Dorfbewohner verkauft, die sie an diesem Tag mit ihren Familien und Freunden teilen.

Blumenwunder
Wer sich ein bisschen umhört, der bekommt rund um den heiligen Antonius in Giuliano Teatino gewiss die folgende Begebenheit erzählt: Am 13. Juni 1892 war ein „frommer Bauer“ mit einer gerade gepflückten Lilie in die Kirche gekommen. Die Statue des heiligen Antonius hatte eine Stoffblume in der Hand. Der Mann fragte den Pfarrer, ob er sie mit seiner frischen Blume tauschen dürfe. Kein Problem, die frische Lilie wurde dem heiligen Antonius in die linke Hand gedrückt. Nach einiger Zeit vertrocknete sie natürlich, aber irgendwer bemerkte, dass etwas Seltsames passierte: Die trockene Lilie hatte eine neue Knospe bekommen. Die Nachricht verbreitete sich sofort im ganzen Dorf. Hatte Antonius ein kleines Wunder bewirkt? Eine wunderbare Blüte hervorgerufen? Und jedes Jahr geschah dasselbe. Die Dorfbewohner versuchten, auch dem heiligen Rochus eine Lilie in die Hand zu geben, aber bei ihm vertrocknete sie einfach, nur die Lilie des Antonius erblühte erneut. Die Menschen von Giuliano Teatino waren sich sicher, dass es sich dabei um ein wunderbares Zeichen handelte. Die neue Blüte erschien immer zwischen dem 18. und dem 19. August, als man erneut den heiligen Antonius feierte, denn in diesen Tagen sind die Felder abgeerntet und die neue Aussaat hat noch etwas Zeit.  

Kein Wunder - alles natürlich?
Die kirchlichen Obrigkeiten wurden hellhörig, die Pfarrer von Giuliano unsicher, man versuchte, den Enthusiasmus der Dorfbewohner zu bremsen: „Es ist schwierig, sie im Zaum zu halten,“ berichtet Don Gennaro noch Mitte der 30er Jahre. Es vergingen fast vierzig Jahre, bevor man begann, sich näher mit diesem Phänomen zu beschäftigen. In der Zwischenzeit jedoch war das Fest Mitte August bereits zur Tradition geworden, jedes Jahr kamen Pilger zu Fuß aus den umliegenden Dörfern. Drei Jahre lang trafen sich Kommissionen von Geistlichen und hohen Persönlichkeiten. Schließlich machte sich Don Ciro Paladino, ein Prälat und Botaniker, im Jahr 1934 auf Einladung vom Bischof von Chieti auf den Weg nach Giuliano, um dort diese wunderbare Blume zu untersuchen. Drei Jahre lang machte er die unterschiedlichsten Experimente. Erst 1941 (der Krieg hatte bereits begonnen) entschied der Bischof Giuseppe Venturi, die Ergebnisse der Forschungen von Don Ciro zu veröffentlichen, die in einer gewählten und etwas umständlichen Sprache verfasst wurden: „Das Phänomen der Lilie, das sich in Giuliano Teatino zeigt, weist kein Element auf, das erlauben würde, es über oder außerhalb der Naturgesetze anzusiedeln, es ist vielmehr ein physiologisches Phänomen, das sich innerhalb dieser Naturgesetze zeigt.“ Für den Prälat und Wissenschaftler erblüht die Antonius-Lilie nicht ein zweites Mal, sondern es handelt sich um eine Fruktifizierung, die Blüte an sich ist ein Fruchtstand. Kein Zauber. Kein Wunder. Als der Bischof nach dem Krieg versuchte, diese Verehrung zu verbieten, stieß er auf den Widerstand der Gemeinde. Seitdem hat sich die offizielle Kirche für vornehmes Schweigen entschieden, ohne diejenigen, die an das Wunder glauben, zu kritisieren.

Rettung im letzten Augenblick
Die Menschen wollen mir auch andere Geschichten aus Giuliano Teatino erzählen. Ich habe schon viele Antonius-Geschichten gehört, aber diese hat mich mehr als alle fasziniert: Der Krieg ist fast zu Ende. Im Jahr 1944 sind die Nazis im Rückzug, wollen aber die Alliierten aufhalten. Auf diesen Hügeln hier wird erbittert gekämpft. Und gestorben: es sterben die Soldaten, aber auch Frauen und Männer aus dem Dorf. Die Deutschen vertreiben die Bewohner von Giuliano. Viele von ihnen fliehen nach Chieti. Und da geschieht es, dass der heilige Antonius einem Dorfbewohner, Luigi Sebastiani, im Traum erscheint und ihn bittet: „Hol mich ab.“ Und Luigi zögert nicht, sondern macht sich mit ein paar Freunden sofort auf den Weg: Sie gehen zu der Kirche, bauen die Statue ab, stecken sie in einen Sack und bringen sie fort. Luigi hatte sich gerade ein paar Schritte entfernt, als die durch die Deutschen verminte Kirche in die Luft gesprengt wird. Nach Kriegsende versuchte der Bischof von Chieti, die Statue in der Provinzhauptstadt zu behalten, aber da war nichts zu machen: Die Menschen aus Giuliano holten sich die Statue und brachten sie in einer Prozession zurück ins Dorf. Und das „Wunder“ der zweiten Blüte zeigt sich jedes Jahr aus Neue.

Der Wunsch zu glauben
Auch ich habe die Knospe am 19. August entstehen gesehen (sie ist eigentlich eine Furcht, wie aus den Zeilen von Don Ciro zu lesen ist). Ich habe sie fotografiert. Und ich habe den 85-jährigen Peppino, der während allen Festgottesdiensten neben der Statue sitzt, gefragt, was er davon hält. Leicht erstaunt hat er mir geantwortet: „Ich möchte gerne glauben, dass es ein Wunder ist.“ Eine junge Frau antwortet mit einer Gegenfrage: „Was ist daran falsch, wenn wir daran glauben? Und das Dorf glaubt daran, es ist schön, daran zu glauben.“ In fast allen Häusern hier gibt es ein Antoniusbild, alle stecken eine gesegnete Lilie dazu: Fast alle diese Lilien „erblühen“ ein zweites Mal. Der alte Pfarrer, Don Rocco, hat mich mit einem freundlichen, stillen Lächeln angesehen. P. Giancarlo Zamengo, der Generaldirektor des „Messaggero“, der mit den Antoniusreliquien aus Padua gekommen ist, hat die Statue und den Wagen gesegnet und freut sich offensichtlich sehr, hier zu sein: „Das ist die Verehrung eines ganzen Dorfes. Das ist sehr wichtig, die Menschen hier müssen die Statue berühren, beten, bitten und danken. Die neue Knospe ist ein Zeichen der Auferstehung, sie steht für die Kraft, neu zu beginnen, neu geboren zu werden.“ 
 

Zuletzt aktualisiert: 09. September 2019
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