Das unsichtbarste Volk der Welt

21. Juni 2004 | von

“Die Aborigines sind das unsichtbarste Volk der Welt“, schreibt der erfolgreiche Autor Bill Bryson in seiner Reisebeschreibung “Frühstück mit Känguru“, und nennt sie auch “das vergessene Volk Australiens“. Das liegt einerseits an ihrer geringen Zahl: Von den rund 20 Millionen Australiern stammen nur 2 Prozent, also etwa 400.000, von den Ureinwohnern ab. Das liegt aber vor allem auch an ihrer Geschichte, die mit der Besiedelung Australiens durch Europäer vor nur etwas mehr als 200 Jahren eine fatale Wende nahm.

Ahnen aus der Traumzeit. Mindestens 40.000 Jahre vor den ersten Weißen kamen die ersten indigenen Bewohner aus Südostasien auf den Kontinent und die Inseln der Torres-Straße. Sie bilden somit die älteste noch lebendige Kultur der Erde. Die Erzählungen über die Ahnen aus der “Traumzeit“, dem Beginn der Welt, werden bis heute ununterbrochen an die Kinder und Enkel weitergegeben: Geschichten, Zeichnungen, Zeremonien, Tänze et cetera über die Erschaffung der Welt, über die Wanderungen der Ahnen, über deren Gesetze und Riten. 
Als die Engländer ab 1788 aus Australien eine Sträflingskolonie machten, weil die Gefängnisse im eigenen Land überquollen, erkannten nur wenige die Würde der Urbewohner. Für die meisten waren sie unzivilisierte, wilde Untermenschen. Noch in den 1960er Jahren wurden sie bei Volkszählungen nicht berücksichtigt!
Die Tatsache, dass sich die Bevölkerungszahlen der etwa 500 eigenständigen Nomadenstämme nach der englischen Landnahme rapide verringerten, hatte mehrere Ursachen: Da sie nicht als Menschen betrachtet wurden, hatten viele Weiße kein Unrechtsbewusstsein, wenn sie Ureinwohner für Nichtigkeiten töteten oder sogar in Treibjagden niedermetzelten. Doch die meisten Opfer gab es durch bis dahin unbekannte Krankheiten wie Windpocken, Grippe oder Masern, gegen die die Urbewohner sich nicht wehren konnten. So reduzierte sich die Zahl von einigen Hunderttausend (Schätzungen gehen bis zu einer Million) auf etwa 75.000. Die herkömmliche Lebensweise wurde ferner dadurch beeinträchtigt, dass die indigenen Bewohner sich nicht mehr frei im Land bewegen konnten: Zäune der Farmer versperrten die über Generationen benutzten Wege zu den heiligen Stätten, Vieh trampelte die Pflanzen und Insekten nieder, die den Jägern und Sammlern als Nahrung gedient hatten.

Die gestohlene Generation. Ab etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts begannen die Engländer, die in ihren Augen “Wilden“ zu kultivieren und zu assimilieren. Gesetze unterstellten die Aborigines der weißen Obrigkeit. Die Eltern galten nicht als Erziehungsberechtigte ihrer Kinder. Dies ging so weit, dass Kinder, vor allem Mischlingskinder, ihren Müttern weggenommen und in Heime oder Pflegefamilien gebracht wurden. Dadurch sollten sie an die europäische Lebensweise angeglichen werden. Viele Kinder dieser “Gestohlenen Generationen“ sahen ihre Familien nie wieder. Andere kehrten mit 17 oder 18 Jahren zurück, kamen dann aber mit der Lebensweise ihrer Verwandten nicht mehr klar. Wie menschenverachtend diese Politik war, kam den Verantwortlichen nicht in den Sinn. Man war überzeugt, den Kindern etwas Gutes zu tun.
Die Kirche ließ sich in diese Politik verwickeln, vor allem durch die Missionsstationen, zu denen viele dieser Kinder gebracht wurden. Auf den kulturellen Hintergrund der Kinder wurde auch dort keine Rücksicht genommen.
Die Auswirkungen dieses Systems sind bis heute zu spüren. Viele Aborigines kennen ihre Ursprungsfamilien nicht, greise Eltern wissen nichts über das Schicksal ihrer Kinder. Entwurzelung prägt das Lebensgefühl vieler Ureinwohner.

Kaum Perspektiven. 1967 wurden sie endlich als Bürger anerkannt, doch Gleichheit war und ist damit noch lange nicht hergestellt. Dies belegen Zahlen der Regierung von 2002: Die durchschnittliche Lebenserwartung der indigenen Bevölkerung beträgt 20 Jahre weniger als die der anderen Australier. Die Kindersterblichkeit ist dreimal so hoch. Nur 36 Prozent haben einen Schulabschluss nach 12 Jahren Unterricht, woraus fast zwangsläufig eine hohe Arbeitslosigkeit resultiert. Auch hier ist die Quote dreimal so hoch wie die der restlichen Australier. Dazu muss ergänzt werden, dass von den Arbeitsplätzen, die Aborigines haben, ohnehin etwa 70 Prozent durch die Regierung finanziell unterstützt werden. Mit dieser Arbeitsmarktproblematik hängen dann auch andere soziale Schwierigkeiten zusammen: Die Kriminalitätsrate ist erhöht, ebenso familiäre Gewalt und Missbrauch, oft bedingt durch Alkoholismus und Drogenkonsum. So überträgt sich die Perspektivlosigkeit der Elterngeneration, die vor allem durch die Diskriminierung und Entwurzelung hervorgerufen wurde, auf die Kinder und Jugendlichen, obwohl diese rechtlich keine Nachteile mehr haben. Oberstes Ziel ist es heute, den Kreislauf der Abhängigkeit von der staatlichen Wohlfahrt zu durchbrechen.
Doch viele indigene Bewohner sind inzwischen antriebslos und erdulden ihr Schicksal. Es gibt nur wenig Eigeninitiative. Wer einmal im Teufelskreis von Armut, Gewalt und Rauschmitteln gelandet ist, findet kaum aus eigener Kraft wieder heraus. Immerhin gibt es heutzutage eine Reihe von Aborigines, die sich durch Kunst und Kunsthandwerk ihr Geld verdienen. Bilder, T-Shirts, Geschirr, Tücher, Krawatten und vieles mehr mit authentischem aboriginalem Design sind vor allem bei den Touristen sehr beliebt. Besonders hoch in der Rangliste: Boomerangs und Didgeridoos.

Allmähliche Einsicht. Das Umdenken bei den Weißen geht langsam. Privat hat man wenig Berührungspunkte mit den Urbewohnern, da diese überwiegend in abgelegenen Gebieten oder aber in ghettoartigen Stadtteilen leben. Auch gibt es nur wenige Aborigines, die in herkömmlichen, für uns alltäglichen Berufen wie Verkäufer, Sekretärin oder Krankenschwester arbeiten. Das ist übrigens einer der Gründe dafür, dass die Aborigines auch für den Touristen ein “unsichtbares Volk“ sind.
Die Gesetzgebung ist ebenfalls langsam. Etwa von den 1970er Jahren an wurden einige Teile des Landes an die Urbewohner zurückgegeben, so zum Beispiel  1985 das Land rund um den weltberühmten “Ayers Rock“, eigentlich “Uluru“ im roten Zentrum des Kontinents. Dieses Heiligtum der Ureinwohner liegt nun in einem Nationalpark, der von einem gemeinsamen Komitee aus weißen und indigenen Mitgliedern verwaltet wird. Hier geben die Aborigines auch ihr Wissen um die Natur weiter.
Erst 1992 entschied der Oberste Gerichtshof, dass es Unrecht von den Europäern war, den längst vor ihnen auf dem Kontinent Lebenden das Land wegzunehmen. Nach dem “Native Title“-Gesetz können Aborigines unter bestimmten Umständen Land zurückfordern, auf dem sie seit Jahrtausenden lebten. Inzwischen sind 15 Prozent des Landes tatsächlich zurückgegeben worden. Die Vorstellung der Weißen, ein von Menschen unbewohntes Land “entdeckt“ zu haben (terra nullius) – die Ureinwohner wurden ja nicht als Menschen betrachtet – wurde damit endlich offiziell revidiert.
1998 wurde der erste “National Sorry Day“ gefeiert, an dem das australische Volk die Aborigines um Entschuldigung für das angetane Leid bittet.

Versöhnung. Die katholische Kirche hat sich inzwischen für ihre Rolle bei den “gestohlenen Generationen“ entschuldigt. Auch sie schreibt das Wort Versöhnung heute sehr groß und nimmt mehr Rücksicht auf das spirituelle Erbe der katholisch gewordenen Aborigines.
Anlässlich des Papstbesuches 1996 entstand das folgende Gebet, das auch am jährlichen “Aboriginal-Sonntag“ vielerorts gebetet wird und das das Bemühen der Urbewohner zeigt, ihre Jahrtausende alten Wurzeln mit ihrem katholischen Glauben zu verbinden und eine Zukunft zu haben:


Vater aller Menschen, du gabst uns die Traumzeit.
Du hast durch unseren Glauben zu uns gesprochen,
und hast dann deine Liebe zu uns verdeutlicht in der Person Jesu.
Wir danken dir für deine Sorge.
Wir gehören dir. Du bist unsere Hoffnung.
Stärke uns angesichts der Probleme des Wandels.
Wir bitten dich, den Menschen von Australien zu helfen,
uns zuzuhören und unsere Kultur zu respektieren.
Lass alle Menschen dich mehr und mehr erkennen,
damit du in uns zu Hause sein kannst,
und damit wir jedem Menschen in unserem Land ein Zuhause geben können.
Amen.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016