Dem Geist ein Fenster im Alltag öffnen

01. September 2017 | von

Zeit ist – oder erscheint jedenfalls – knapp und immer knapper. Unser Autor gibt auf den folgenden Seiten Anregungen zu einer Spiritualität unter Zeitdruck.

 

In den letzten Jahren hat der Begriff „Zeitfenster“ eine immense Konjunktur erfahren und ist seit 2000 sogar im Duden vertreten. In der Geschäftswelt werden Zeitfenster definiert, um Projektphasen festzulegen und Verträge zu terminieren, aber auch im privaten Bereich hört man immer häufiger, dass man doch Zeitfenster finden werde oder Zeitfenster öffnen sollte, um Raum für Sport, die Familie oder Erholung zu finden.

 

Kalender als Dauerbegleiter

Ob man es nun als Ökonomisierung des Privaten sehen und daher ablehnen will, dass auch die Zeit außerhalb der Arbeit immer stärker dem Diktat des Terminkalenders unterworfen ist, sei dahingestellt. Zweifellos ist es aber sinnvoll, auch Zeiträume zu planen, die zu einem erfüllten Leben durch das Zusammenwirken von Zeiten für Arbeit, Ruhe und Erholung, Soziales und Kulturelles vereinigen.

Es gehört zu den Grunderfahrungen unseres Lebens im 21. Jahrhundert, dass uns die 24 Stunden eines Tages schlichtweg nicht ausreichen, allen Anforderungen, Wünschen und Notwendigkeiten nachzukommen. Die Herausforderung der Zeitgestaltung und damit der Zeitdruck lasten aber in keiner Weise nur auf den Erwerbstätigen, auch wenn es bei ihnen offensichtlich immer weniger eine Grenze von Arbeit und Freizeit gibt. Selbst Kinder, so legte es kürzlich eine Umfrage des Lehrerinnen- und Lehrerverbandes dar, führen mittlerweile neben ihrem üblichen „Stundenplan“ oftmals einen Terminkalender, um dort ihre anderen „Verpflichtungen“ zu koordinieren. Und ebenso ergeht es Menschen im dritten Lebensabschnitt. Auch wenn man scherzhaft vom Un-Ruhestand sprach, so werden es mittlerweile richtige Nöte, die weiterhin vielen Anforderungen des Lebens unterzubringen.

 

Volles Glas?

Sowohl in Managementseminaren wie in kirchlichen Gruppenstunden und Seminaren zur Achtsamkeit taucht interessanterweise immer wieder die Geschichte von den Steinen, Kieseln und Sand im Wasserglas (oder auch Gurken-, Einmach- oder Goldfischglas) auf. Sie sei zur Veranschaulichung kurz in Erinnerung gerufen. Ein Lehrer eröffnete seine Vorlesung mit folgenden Worten: „Es geht heute um Zeitmanagement und wir werden dazu ein Experiment machen.“ Er hatte deshalb ein sehr großes Glas und drei verschlossene Kisten aufgebaut und er begann, aus der ersten Kiste große Steine hervorzuholen, die er allesamt in das Glas füllte. Er fragte die Studenten, ob das Glas nun voll sei und sie bejahten dies. Als nächstes öffnete der Lehrer eine zweite Kiste mit Kieselsteinen. Diese schüttete er zu den großen Steinen. Dabei bewegte er das Glas hin und her und die Kiesel trudelten in die verbliebenen Zwischenräume zwischen den Steinen. Dann fragte er die Studenten wiederum, ob das Glas nun voll sei. Sie stimmten nun etwas verhalten zu. Daraufhin öffnete der Lehrer die dritte Kiste. Sie enthielt feinen Sand. Diesen schüttete er ebenfalls ins Glas zur Steine-Kiesel-Mischung. Naturgemäß rieselte der Sand in die nun noch verbliebenen Zwischenräume und füllte diese aus. Der Lehrer fragte nun ein drittes Mal, ob das Glas voll sei und erntete ein zustimmendes Nicken. Schließlich holte der Lehrer noch eine Flasche Wein unter dem Tisch hervor, öffnete sie und schüttete den Inhalt in das Glas und füllte somit auch den letzten Raum zwischen den Sandkörnern aus. 

 

Prioritäten setzen

Anschließend erklärte der Lehrer sein Experiment: „Ich möchte, dass Sie dieses Glas als Sinnbild Ihres Lebens ansehen. Die Steine sind die großen und wichtigen Dinge in Ihrem Leben: Ihre Familie, Ihre Kinder, Ihre Gesundheit, Ihre Freunde. All die entscheidenden und richtungsweisenden Aspekte Ihres Lebens, durch welche – auch wenn sonst nichts mehr bliebe – Ihr Leben trotzdem noch erfüllend wäre. Die Kieselsteine symbolisieren die anderen Dinge im Leben, die ebenso ihren Wert haben, wie Ihre Arbeit, Ihr Haus, Ihr Hobby. Der Sand wiederum steht für alles andere, die vielen Kleinigkeiten, die auch zum Leben gehören. Wichtig ist aber Folgendes: Falls Sie den Sand zuerst in das Glas geben, reicht der Platz weder für die Kieselsteine, noch für die Steine. Und dasselbe gilt für Ihr Leben. Wenn Sie all Ihre Zeit und Energie in die vielen Kleinigkeiten investieren, werden Sie nie den nötigen Platz haben für die wirklich wichtigen Dinge. Achten Sie also immer zuerst auf die Steine und damit die Dinge, die wirklich wichtig sind. Setzen Sie Prioritäten, denn der Rest ist nur Sand und fügt sich fast von selbst.“ Zum Schluss fragte einer der Studenten, welche Rolle denn der Wein am Ende spielen solle. Der Lehrer antwortete schmunzelnd: „Das zeigt Ihnen, egal wie schwierig oder vollgepfropft Ihr Leben auch erscheinen mag – es ist immer noch Platz für ein oder zwei Gläser Wein mit einem Freund!“

 

Zeit für den Geist!

Zweifellos eine anregende Geschichte, die mit ihrem Plädoyer für ein bewusstes Zeitmanagement und der persönlichen 

Prioritätensetzung gut in unsere Zeit passt. Dass die Erweiterung (beruflicher) Leistungsfähigkeit Zeiten für Weiterbildung, der Körper nicht nur Ruhe, sondern auch sportlichen Ausgleich benötigt und es kultureller Anregungen bedarf, um sich weiter zu entwickeln, scheint mir weitgehend anerkannt. Dass auch der Geist Zeit benötigt, um sich durch Reflexion, Meditation und Gebet zu entfalten, ist hingegen nicht die Überzeugung vieler. Erst recht nicht, dass die spirituelle Entwicklung ebenso wie die berufliche, intellektuelle und soziale Fortentwicklung Kontinuität oder besser auch Durchhaltevermögen und Konsequenz bedarf.

 

Dauerhaft: liebende Aufmerksamkeit

Ich selbst halte daher wenig von großen Sabbaticals, Sabbatjahren und damit Auszeiten für den Alltag, die das gewohnte Leben für eine lange Zeit ausschalten. Vor allem dann nicht, wenn diese Auszeiten gerade nicht dazu führen, ganz grundsätzlich den Blick auf das Wesentliche zu richten und dieses (wieder-)gewonnene Fundament als dauerhaften Bezugspunkt für das eigene Leben im Alltag zu festigen. Ich habe bisher niemanden kennen gelernt, der nach einem Sabbatjahr sein Leben auf Dauer grundlegend verändert hat. Die wenigen Ausnahmen, die längere Auszeiten sinnvoll genutzt haben, schafften es, Zeit für Spirituelles in den Alltag und damit ins Gewöhnliche über die Zeit des Außergewöhnlichen hinaus zu integrieren. Wir können eben nicht aus dem Boot, das uns auf dem Meer des Lebens von Geburt an trägt, aussteigen, sondern bestenfalls für längere Zeit das Tempo der Fahrt drosseln und die Fahrtrichtung überprüfen. Was wir aber können, ist der kontinuierliche Blick „voller liebender Aufmerksamkeit“ auf sich selbst und damit auf die kleinen, nahezu täglichen Kurskorrekturen.

 

Jesuitischer Tagesrückblick

Ignatius von Loyola hat ein wunderbares Ritual geschaffen, um dem Geist täglich ein Zeitfenster zu schaffen – den Tagesrückblick. Diese „allgemeine Erforschung“ (EB 43) oder auch das sogenannte „Gebet der liebenden Aufmerksamkeit“ setzt sich (nach Pater Wendelin Köster SJ) aus fünf Schritten zusammen: Erstens gilt es zur Ruhe zu kommen und Gott zu bitten, diesen konkreten Tag in seinem Licht zu sehen. Zweitens sollen die Ereignisse, Begegnungen und Beschäftigungen des Tages Stunde für Stunde vor das geistige Auge gerufen werden, zunächst ohne sie zu werten. Dabei gilt es, alle inneren Bewegungen, Impulse, Reaktionen wahrzunehmen und zu unterscheiden. Drittens wird der Blick auf die empfangenen „Wohltaten“ d.h. alles was mir an diesem Tag an Gutem widerfahren ist, gelenkt und Gott dafür gedankt. Im vierten Schritt gilt es zu erkennen und einzugestehen, was nicht „in Ordnung“ war und dafür um Verzeihung zu bitten. Zum Abschluss ruft man sich die Grundausrichtung seines Lebens ins Gedächtnis. Heinrich Spaemann hat dies so formuliert: „Was wir im Auge haben, das prägt uns, da hinein werden wir verwandelt, und wir kommen, wohin wir schauen.“

Natürlich ist die letztgenannte „Grundausrichtung“ und damit das, was wir im Auge als Ziel haben sollen, nur in einem intensiveren Prozess zu finden. Aber so hilfreich Exerzitien und Sabbatzeiten sind, das Ziel, das während dieser Zeit ins Auge gefasst wird, verschwindet bald wieder als Leitstern am Horizont, wenn der tägliche Tagesrückblick, der nicht mal mehr als 15 Minuten in Anspruch nimmt, nicht als beste Auszeit eines Tages wahrgenommen wird. 

 

Täglich 15 Minuten

Als Faustregel, um sich spirituell weiter zu entwickeln, oder – auch ganz offen formuliert –, um die „spirituelle Intelligenz“ (Danah Zohar; Ian Marschall) zu fördern, kann gelten: Eine Viertelstunde Tagesrückblick täglich, eine Stunde der Meditation in der Woche, ein spiritueller Tag im Monat und eine spirituelle Woche (Exerzitien) im Jahr. 

Für den täglichen Rückblick gilt es, ihn als exerzitium in den täglichen Tagesablauf zu integrieren. Dabei ist es nicht nötig, diese 15 Minuten am Ende des Tages einzuplanen; es kann genauso sinnvoll sein, ihn zu einem festgelegten Zeitpunkt am Tag, beispielsweise in der Mittagspause, abzuhalten. Neben diesem Tagesrückblick im Sinne des Ignatius von Loyola, der damit übrigens auch ganz im Geiste des heiligen Bonaventura und anderer Kirchenlehrer stand, um die Bedeutung der täglichen Reflexion zu unterstreichen, gibt es heute viele weitere Anregungen, um inne zu halten und kurz zurück zu blicken. Erst kürzlich hat der Heilige Vater eine Papst-App vorgestellt, die unter dem Motto click to pray Impulse zum Innehalten gibt, und seit Jahren finden sich internetgestützte Angebote vieler Ordensgemeinschaften, wie beispielsweise der Tagesimpuls Sacred Space (www.sacredspace.ie) oder das Stundenbuch online. Aber ob nun im modernen, technischen Gewand oder schlichtweg mit Bleistift in den Kalender geschrieben, bleibt die Herausforderung, die wenigen Minuten am Tag verbindlich für den Geist und das Gebet zu reservieren.

 

Verbindliche Planung

Für eine vertiefte Auseinandersetzung mit Spiritualität ist eine Stunde pro Woche, die der Meditation dient, förderlich. Es liegen dazu zahlreiche Bücher und mittlerweile auch Internetangebote vor, um sich Anregungen zu einer Text- oder Bildmeditation einzuholen. Die Leitlinien unserer Lebensgestaltung und damit auch unserer Persönlichkeit werden im längeren Rückblick nach einer Woche deutlich, und eine derartige Meditation schließt damit an den täglichen Rückblick an und bildet die Brücke zu einer monatlichen Verabredung mit sich selbst (und Gott).

Um eine vertiefte spirituelle Auszeit zu nehmen, kann ein (oder wenigstens ein knapper) Tag pro Monat diese wöchentlichen Meditationsübungen vertiefen. Natürlich ist es hier ein großer Reichtum, wenn man dazu einen geistlichen Begleiter gewinnen kann, der die spirituellen Entwicklungsprozesse begleitet und für die eigene Gebets- und Meditationspraxis einen Leitfaden gibt. Aber auch hier bleibt es wichtig, einen derartigen Tag verbindlich zu planen und außerhalb der üblichen Räume des beruflichen und privaten Lebens durchzuführen. Das mag die Natur sein, aber auch die Rückzugsorte in urbanen Welten wie Kirchen, Friedhöfe und Klöster. Manche machen daraus auch einen jour fixe wie im beruflichen Leben, also einen vereinbarten Termin wie beispielsweise jeden ersten Samstag im Monat einen meditativen Spaziergang alleine oder einen Besuch im nahe gelegenen Kloster.

 

Grundausrichtung überprüfen

Um immer wieder auch die Grundausrichtung des Lebens, vor allem bei großen Entscheidungen, neu zu überprüfen, sind einwöchige Exerzitien im Jahr von großer Hilfe. Auch hier bietet das Internet schnell eine gute Orientierung, wie bespielweise durch die Übersicht der ADDES (Arbeitsgemeinschaft deutscher Diözesen für Exerzitien und Spiritualität) unter www. exerzitien.info. Wer eine etwas längere Abwesenheit nicht mit seinem Arbeits- und Familienleben vereinbaren kann, kann auf die vielfach angebotenen „Exerzitien im Alltag“ zurückgreifen. 

Mir scheint es ganz wichtig, sich nicht immer selbst auf große Auszeiten im Leben zu vertrösten und darauf zu hoffen und/oder zu warten, dass man in irgendeinem der kommenden Urlaube oder gar der Pensionierung Zeit findet, sich spirituell zu vertiefen. Mir scheint es wichtiger, dem Geist im Alltag ein Fenster zu öffnen. Darum muss es gehen.

 

UNSER AUTOR

Dr. Siegfried Grillmeyer (Jahrgang 1969) leitet seit 2008 das Caritas-Pirckheimer-Haus in Nürnberg, die Akademie der Erzdiözse Bamberg. Nach dem Studium der Fächer Geschichte, Sozialkunde und Theologie ist der promovierte Historiker in der katholischen Jugend- und Erwachsenenbildung tätig. Er ist bekannt für seine umfangreiche Vortrags- und Publikationstätigkeit zu historischen, religionswissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Fragen, darunter die mehrbändige Reihe „Fragen der Zeit“ im Echter Verlag, Würzburg.

Zuletzt aktualisiert: 01. September 2017
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