Der Gott mit den zwei Gesichtern

21. Januar 2019 | von

Woran der Monat Januar uns erinnert – und was wir aus „heidnischem“ Gedankengut lernen können.

Nicht nur die heutigen Schriftgelehrten, sondern auch die „Heiden“ der antiken Welt können Christenmenschen gelegentlich zum Nachdenken bringen. Denn längst nicht alles, was die früher von den Jesusleuten verabscheuten „Miss-“ oder „Nichtgläubigen“ sich erdacht haben, gehört auf den Misthaufen der Menschheitsgeschichte. Das leuchtet uns schon ein, wenn wir die antiken Mythen etwas genauer betrachten. Bekanntlich handeln die Mythen (genauso wie Märchen) von Dingen, die nie geschehen sind und sich doch täglich neu ereignen.
Der eben eingetretene Jahreswechsel ist eine gute Gelegenheit, das mittels eines Beispiels zu explizieren.

Janus mit zwei Gesichtern
Bekanntlich leitet sich der Januar, der erste Monat des Jahres, von Janus ab, dem römischen Gott der Türen und Tore, und symbolisiert damit den Anfang. Am 1. Januar brachten die Römer dem Gott Janus Opfer dar, in der Hoffnung, dass dieser über das kommende Jahr sein Füllhorn des Segens über sie ausschütten möge. Das Kennzeichen des Janusgottes ist ein Kopf mit zwei Gesichtern, die in zwei entgegengesetzte Richtungen blicken.
Dies veranlasste den römischen Dichter Ovid (43 v. bis 17 n. Chr.) zu der Erzählung von der Nymphe Cardea. Die veräppelte ihre Verehrer, indem sie sich mit ihnen zum Stelldichein verabredete – und ihnen dann entwischte, sobald diese sie auch nur kurz aus dem Auge ließen. Das gelang ihr aber bei dem doppelgesichtigen Janus nicht, und so musste Cardea sich ihm ergeben.
Das war nur möglich, weil Janus fähig war, gleichzeitig  vor- und rückwärts zu schauen. Und die Menschen so daran erinnerte, dass der Blick nach vorn erst dann zu klaren Einsichten führt, wenn man die Vergangenheit nicht aus dem Auge verliert. Und dass manches, was früher als gut oder als schlecht empfunden wurde, im Nachhinein manchmal in einem ganz anderen Licht erscheint.

Keine klare Vorstellung
Die schwedische Nobelpreisträgerin Selma Lagerlöf illustriert dies auf eindrückliche Weise in ihrer Legende Der Weg zwischen Himmel und Erde. Die Geschichte handelt davon, wie der Tod eines Nachts an die Tür eines alten Offiziers klopft und ihm mitteilt, dass er noch vor der nächsten Mitternacht wiederkomme. Beunruhigt ob dieser Nachricht, sucht der alte Haudegen, mit seiner Vergangenheit ins Reine zu kommen: „In seinem Leben hatte der Oberst eine ganze Reihe von Dingen mitgemacht, die nicht gerade so beschaffen waren, dass er gern daran zurückdachte. Es waren große Dinge und kleine. Manche konnte er ohne Weiteres herausgreifen und sagen, was daran war, aber da waren auch andere, mit denen er nicht so rasch fertig zu werden vermochte. Auf welche Seite des Rechenschaftsbuches sollte er solches schreiben, das übel ausgegangen war, obwohl er es ursprünglich nicht böse gemeint hatte, oder solches, das er sich selbst nie als Sünde angerechnet hatte, aber das wohl so genannt werden musste? Je länger er an die Sache dachte, desto unsicherer wurde er, was er sich zugute schreiben durfte. Er sah keine Möglichkeit, mit klarer, geordneter Rechnung vortreten zu können. Er wurde immer düsterer und missmutiger, je länger er in seiner Seelenprüfung fortfuhr ... Unterdessen hatte sich der Himmel mehr und mehr erhellt, und plötzlich wurden die ersten Sonnenstrahlen sichtbar. Da hob der Alte den Kopf und blickte nach Osten, wo der große Sonnenball den Himmel hinanrollte, glänzend und majestätisch, und von der Welt Besitz ergriff. Angesichts dieses Schauspiels musste er wohl irgendwie zu der Erkenntnis gekommen sein, dass er bald einem Wesen entgegentreten würde von so wunderbarer Herrlichkeit, dass es ihm nicht möglich war, es zu erfassen oder zu begreifen. Er, der der Sonne ihre Bahn vorschrieb, war einer, der nicht rechnete, wie wir rechnen, nicht maß, wie wir messen. Vor ihm kam doch alles zu kurz, der die Kraft und das Licht war, die Freude und das Wunder.“
Offensichtlich verhält es sich so, wie der Oberst empfindet, nämlich dass wir uns selber oft gar nicht so richtig im Klaren sind über uns und unsere Vergangenheit – und über unsere Vorstellungen hinsichtlich unserer Zukunft. Und dass unser Maß wohl nicht das einzig richtige ist angesichts der Tatsache, dass alles menschliche Denken und Tun aus einem anderen, weiteren Blickwinkel beurteilt werden müsste.

Erkenntnis im Nachhinein
Solange es uns gelingt, unsere Vorhaben zu verwirklichen, meinen wir, das Leben zu verstehen. Spätestens wenn wir erkennen, dass unsere Lebensgeschichte ganz anders aussieht als unser ursprünglicher Lebensentwurf, sind wir fassungslos – sei es vor Glück, sei es vor Schmerz. Wenn wir unser Leben mit all seinen Höhen und Tiefen betrachten und uns dabei auch auf all die vielen Irrungen und Wirrungen besinnen, mag es uns manchmal vorkommen wie die Rückseite eines geknüpften Teppichs. Was wir sehen, sind nur Knoten und Fäden und Farben. Das Bildmuster auf der anderen Seite nehmen wir in der Regel erst viel später wahr. Dann erkennen wir vermutlich, dass manches, was eine Hoffnung zunichtemachte, möglicherweise doch einen Sinn hatte. Selbstverständlich trifft das nicht für alles zu, was unseren ursprünglichen Erwartungen entgegenstand. Tröstlich wäre es, wenn wir im Nachhinein dahin gelangten, selbst in schmerzlichen Erfahrungen so etwas wie eine höhere, gar göttliche Fügung zu erkennen.
Es scheint, dass der dänische Denker Sören Kierkegaard (1813-1855) einmal mehr recht behält, wenn er behauptet: „Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.“

Zuletzt aktualisiert: 21. Januar 2019
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