Der Heilige der kleinen Dinge

06. Mai 2019 | von

Brive liegt ungefähr 1.000 Kilometer entfernt von Padua. Kurz nach dem Tod des heiligen Antonius begannen Pilger, an den Orten zu beten, an denen der Heilige gerade einmal einen Sommer verbracht hatte. Acht Jahrhunderte später gibt es an diesem Ort eine große Kirche, ein Hotel und ein Franziskanerkloster. Und jedes Jahr kommen 50.000 Menschen zu den „Grotten des heiligen Antonius“.

Frère Michel Laloux, 60 Jahre alt, singt mir ein kleines Liedchen vor: „Saint Antoine, grand voleur, grand filou, rendez c’est que n’est pas à vous“, was so viel bedeutet wie „heiliger Antonius, großer Dieb, großer Schlingel, gib zurück, was nicht dir gehört“. Michel ist der Provinzialminister der Franziskanerprovinz von Frankreich und Belgien und hat ein ansteckendes Lachen. Ich habe mich neben ihn gesetzt, um etwas mehr über diesen heiligen Antonius in Frankreich zu erfahren. Oder besser, den heiligen Antonius von Brive. Ich hatte mich gerade vom heiligen Antonius in Padua verabschiedet und finde ihn nun hier, im Süd-Westen Frankreichs, zwischen Limoges und Toulouse, in blendender Verfassung vor. In Frankreich, das seit jeher gezeichnet war von wilden Auseinandersetzungen zwischen den Religionen und zwischen Staat und Kirche, kommt doch jedes Jahr eine ansehnliche Zahl von Pilgern hier nach Brive, um der Heiligkeit von Antonius zu begegnen. Brive, genauer gesagt Brive-la-Gaillarde, ist eine kleine Stadt, 50.000 Einwohner. Sie ist geprägt von Handel und Landwirtschaft. 

Antonius in Frankreich
Antonius, der franziskanische Prediger, kommt 1224 in den Süden Frankreichs. Geschickt wurde er direkt von Franziskus. Es sind schlimme Zeiten, Jahre der Rache und des religiösen Hasses. Weniger als 20 Jahre zuvor hatte Papst Innozenz III. einen Kreuzzug von Christen gegen Christen erklärt, die Kirche des katholischen Mittelalters gegen die Katharer, Vertreter einer Religion extremer „Reinheit“. Ein Krieg der Religionen, hinter dem sich Konflikte um Macht und Reichtum verbergen: der Norden Frankreichs gegen den Süden. Blut fließt über die Wege, die Antonius gegangen ist. Danik, 61 Jahre alt, ein Bruder der Gemeinschaft von Brive, liest meine Gedanken: „Der heilige Antonius hat die Ketzer herausgefordert, und zwar mit Härte. Seine Waffen waren seine Worte.“ Er wetterte gegen die Korruption von Bischöfen und katholischen Priestern. Der Kreuzzug endete erst 1229. Die Katharer wurden ausgerottet.
Antonius reist durch Südfrankreich, er predigt und gründet theologische Schulen. In Montpellier, Toulouse, Bourges. Er war Guardian in Puy und Kustos in Limoges. Und dann schließlich Eremit in Brive. Hier hat er am Ende des Sommers 1226 nach zwei Jahren der Anstrengung und der Auseinandersetzungen einen Ort des Friedens gefunden. Kurz vor der Stadt gibt es vier Höhlen, einfache Unterschlüpfe im Gestein. Mittelalterliche Hirten nutzten sie als Ställe für ihre Schafe. Antonius bleibt einige Wochen dort. Genug Zeit, dass sich die Erinnerung an ihn tief in das Herz der Menschen dort eingeprägt hat. 

Innige Verehrung
Der heilige Franziskus stirbt 1226. Antonius geht nach Italien zurück. Der Ruhm seiner Predigten ist groß. Er wirkt Wunder, fasziniert die Menschen. Er stirbt 1231. Gerade einmal ein Jahr später wird er heiliggesprochen. Und in Brive, mehr als tausend Kilometer von Padua entfernt, beginnen Pilger sofort, an den Orten zu beten, wo der Heilige gerade einmal einen Sommer verbracht hatte. Acht Jahrhunderte später gibt es hier am Waldrand eine große Kirche, ein Hotel und ein Franziskanerkloster. Sechs Brüder leben hier. 50.000 Menschen kommen jedes Jahr hierher, zu den Grottes de Saint Antoine. Um diese Geschichte zu erzählen, füge ich verschiedene Bilder meiner schönen und angenehmen Tage hier in Brive zusammen. 

Wasser, Zettelchen, Wald und Kerzen
Der Park des Heiligtums besteht aus fünf Hektar Mischwald an der Stadtgrenze von Brive und ist immer geöffnet. Es ist ein Ort des Friedens. „Es ist der ‚andere Ort‘“, sagt mir eine Frau. Zu jeder Stunde kommen Männer und Frauen mit leeren Flaschen. In der Wasser-Grotte entspringt eine Quelle. Ist es Heilwasser? Einige Frauen diskutieren. Sie erzählen von wundersamen Heilungen. Das Wasser ist frisch und gut. Man nimmt Vorrat davon mit nach Hause. Man kommt zu den grottes, um spazieren zu gehen, den Hund auszuführen, mit den Kindern zu spielen, zu trinken und sich im Sommer im Schatten der Bäume auszuruhen. Die grottes sind ein wunderbarer Ort. Man zündet große Kerzen an. Man betet und man unterhält sich. Manche stecken kleine Zettelchen in die Felsspalten. Man bittet um Heilung von Krankheiten oder um Hilfe bei der Arbeit, in der Liebe, für die Schule. Dienstags während der „Antonius-Messe“ werden einige dieser Bitten vorgelesen.

Fromme Frauen, Sänger, Tänzer
Ich spreche mit einigen frommen Frauen. Monette, Marguerite, Maria, Christiane, Elène. Sie sagen mir: „Der heilige Antonius wirkt Wunder. Er ist der beliebteste Heilige. Und er hat uns die Brüder hierher gebracht.“ Eine andere: „Meine Nachbarn sind nicht religiös, aber zu den Grotten kommen sie trotzdem.“ Sie lächeln: „Der heilige Antonius ist schön.“ 
Ich war nur wenige Tage in Brive, aber ich wurde Zeuge wunderbarer Geschichten: Christen, die mit Hingabe und unter der Leitung von Br. Michel jüdische Tänze um den Altar tanzen. Eines Morgens ging ich in die Kirche, wo ein Orchester im Chorraum Werke von Vivaldi spielt. Der Dirigent ist ein kleiner Mann mit auffälligen schwarzen Hosenträgern. Eines Nachmittags kommt auch ein Agraringenieur, er begleitet uns in den Wald und erzählt uns etwas über die Bäume und die Schnecken. Er kommt mir vor ein heiliger Franziskus. Die Leute, die sagen, die Grotten von Brive seien eine andere Welt, haben recht. Unvorhersehbar. Und diese Menschen kommen mir alle wie ein fröhlicher, moderner heiliger Antonius vor.
Und dennoch ist der heilige Antonius in Frankreich eher unbekannt. Bruder Eric, der 52-jährige (ehemalige) Guardian in Brive, gesteht mir: „Ich wusste nichts über ihn, bis ich hierhergekommen bin.“ Beim Essen mit anderen Gästen des Heiligtums sagen viele, dass sie den heiligen Antonius erst in Brive kennengelernt haben. Br. José sagt mir, dass man nichts über ihn lernt im Noviziat. Eine Frau erklärt mir: „Ich wende mich an ihn, wenn ich etwas verloren habe.“ Ja, das ist eines der „Wunder“, die Antonius hier (und nicht nur hier) wirkt.

Zwiebeln, geklaute Bücher und das Maultier
Mir gefallen die kleinen Wunder des heiligen Antonius in Frankreich. In Toulouse verweigert ein ausgehungertes Maultier das Heu und kniet vor dem Altar nieder (etwas ganz ähnliches geschah auch in Rimini). In Brive hatten die Brüder nichts zu essen. Eine Frau geht in den Garten, um etwas Gemüse für sie zu ernten. In dem Moment bricht ein Gewitter los, aber sie erreicht das Kloster, ohne auch nur einen Tropfen Wasser abzubekommen. Das ist das Zwiebel-Wunder. Daran wird im Spätsommer erinnert, mit einem großen Bauernmarkt. Und noch ein Wunder: Ein junger Bruder haut aus dem Konvent ab, mit einem Buch, das Antonius sehr wichtig war. Eine unerklärliche Macht stoppt ihn und zwingt ihn, das Buch zurückzugeben. Deshalb gilt Antonius in Frankreich als der Heilige der verlorenen Dinge. Man wendet sich an ihn, wenn man einen Ohrring, das Handy, die Haustürschlüssel verloren hat. Der Heilige der kleinen Dinge, des Alltags. Eine Frau ist überzeugt: „Auch wer den Glauben verloren hat, kann den heiligen Antonius bitten, ihn wiederzufinden.“ Oder aber: „Eine Frau kam viele Jahre lang nach Brive, sie hat dann ihren Sohn wiedergefunden, der im Krieg verschollen war.“

Hartnäckigkeit, Beharrlichkeit und Widerstand
Br. Michel sagt mir: „Die Franziskaner sind diesem Ort hier eng verbunden. Antonius selbst hat uns hierher gebracht.“ Ich lese die komplexe und schwierige Geschichte des Konvents von Brive. Die erste Kapelle wurde um das Jahr 1330 errichtet. Die französischen Religionskriege, Calvinisten gegen Katholiken, haben blutige Spuren in diesem Gebiet hinterlassen. Im Jahr 1565 wurden die Grotten ausgeplündert und der Konvent zerstört. Aber ein Jahrhundert später kehrten die Franziskaner nach Brive zurück. Dann zog die Revolution wie ein Unwetter über das Land: 1793 hat der Terror durch Robespierre das Heiligtum ein weiteres Mal vernichtet. Aber siebzig Jahre später entstand hier die erste franziskanische Bruderschaft von Frankreich. Die Wallfahrten begannen wieder.
1903 ist es der französische Staat, der die Brüder vertreibt: Die religiösen Orden werden aufgelöst, es gibt eine harte Spaltung zwischen Republik und Kirche. Aber 1915 kehren die Franziskaner erneut zurück.
Eine hartnäckige Geschichte, starrköpfig und unerbittlich. In den furchtbaren Jahren des Nationalsozialismus versteckt man im Konvent Juden und Partisanen. In den Zellen der Brüder wird die Befreiung von Brive organisiert. Ein Bruder aus dem Elsass spricht mit dem Kommandanten. Sie ziehen ab. Für die Menschen aus Brive ist das ein weiteres Wunder des heiligen Antonius. Die Stadt ist die erste Stadt in Frankreich, die befreit wird. 1947 wird eine große Antonius-Statue auf dem Hügel des Heiligtums errichtet. Der Heilige beschützt die Stadt. Jetzt verstehe ich: „Der heilige Antonius ist Brive“.

Von Antonius lernen
„In Frankreich gibt es Menschen, die den heiligen Antonius einfach für einen populären Heiligen halten,“ erklärt mir Br. Eric. „Die Intellektuellen ignorieren ihn. In Brive erst habe ich ihn kennengelernt: Die Pilger haben mir dabei geholfen. Ich habe ihre Verehrung gesehen.“ Br. Danik erinnert sich: „Vor 30 Jahren hat mir die Ökologie sehr am Herzen gelegen. Ich arbeitete in einer Bank und dachte an die Natur. So habe ich den heiligen Franziskus entdeckt und bin Bruder geworden. In Brive habe ich dann die Natur wiedergefunden. Dieser Ort ist ein Wunder des heiligen Antonius.“

Zuletzt aktualisiert: 06. Mai 2019
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