Der indische Franziskus verändert die Welt

30. September 2019 | von

Am 2. Oktober jährt sich der Geburtstag von Mohandas Karamchand Gandhi. Unser Beitrag bietet einen Überblick über sein Leben.

Be the change you wish to see in the world. Zu Deutsch: Sei du die Veränderung, die du in der Welt sehen möchtest. Darunter der Urheber, Mahatma Gandhi. Ich las den Satz vor mittlerweile gut 20 Jahren in einer größeren Stadt im Schaufenster eines exklusiven Juweliers. Im Bild hatte ich einen einfachen, bescheidenen Inder, der im Schneidersitz auf dem blanken Erdboden sitzt, mit seinen Händen ein Spinnrad bedient – und mit dessen Worten versuchte nun offensichtlich ein Händler, seine reiche Kundschaft zum Kauf zu bewegen. Es kommt mir heute noch vor wie ein arger Widerspruch. Aber vielleicht gehört es auch zum Schicksal einflussreicher Persönlichkeiten, dass sie von allen möglichen (und unmöglichen) Seiten zitiert und plakatiert werden, auch lange über den Tod hinaus. 

Junge Jahre
Am 2. Oktober 1869, vor 150 Jahren also, wird Mohandas Karamchand Gandhi im westlichen Teil des heutigen indischen Bundesstaates Gujarat geboren. Als Mitglied der Bania-Kaste gehört die Familie zur Oberschicht und stellt mit Großvater und Vater zeitweise auch den Diwan (eine einflussreiche politische Funktion) der Hafenstadt Probandar, wo Mohandas aufwächst. 
Religiös wächst der junge Gandhi in der Tradition seiner Familie auf: Man praktiziert den Vishnuismus, eine Form des Hinduismus, in der man besonders auf Gebet und Frömmigkeit großen Wert legt. Im Alltag wird Ahimsa gefordert – eindeutige Gewaltlosigkeit, weil man davon ausgeht, dass jede Form der Gewalt sich negativ auf die Zukunft des Täters auswirken würde. 
Als Mohandas sieben Jahre alt ist, zieht die Familie in die weit größere Stadt Rajkot um, wo er eingeschult wird – und, wie er in seiner in den 1920er Jahren erscheinenden Autobiografie „Die Geschichte meiner Experimente mit der Wahrheit“ berichten wird, wo er vom verbotenen Wein- und Zigarettenkonsum über einen Bordellbesuch und Suizidgedanken einschneidende Erfahrungen für sein Leben sammelt.

Auf dem Weg zum Juristen
Dass Gandhis Leben so ganz anders geprägt ist, als wir es im europäischen Kulturkreis gewohnt sind, zeigt auch die Tatsache, dass er bereits im Alter von sieben Jahren mit der gleichaltrigen Kasturba Makthaji verlobt wurde, die er im Alter von 13 Jahren gemäß den damaligen Gepflogenheiten schließlich heiratet. Fünf Kinder werden dem Paar geboren, wobei das Erstgeborene bereits nach wenigen Tagen starb. 
Dem Wunsch des Vaters entsprechend soll sein Sohn Rechtsanwalt werden. Das Jura-Studium will er nach einem erfolglosen Studiensemester in Indien in London absolvieren – gegen den Wunsch der Mutter, die fürchtete, der westliche Lebensstil könne ihren Sohn verderben. Auch eine eigens einberufene Kastenversammlung spricht sich gegen den Auslandsaufenthalt aus. Nachdem der Bruder, der seit dem Tod des Vaters die Rolle des Familienoberhauptes übernommen hat, ihm Geld für Reise und Studium leiht, macht sich Mohandas auf den Weg – ungeachtet der Tatsache, dass er nun von seiner Kaste ausgeschlossen wird und Viele seine späteren Wiedergutmachungsversuche für nicht ausreichend halten.

Engagement in Südafrika
Von 1888 bis 1891 studiert Gandhi recht erfolgreich Jura und nimmt dann eine Rechtsanwaltsstelle zunächst in Bombay, dann in Rajkot an – mit mäßigem Erfolg. Es fehlt ihm schlicht und ergreifend an Erfahrung, aber wohl auch an der nötigen Frechheit, die ein erfolgreicher Anwalt im damaligen System an den Tag legen musste. Mit weit besserem Ergebnis löst er für einen indischen Geschäftsmann einen Rechtsstreit in Südafrika, wird dort aber auch mit dem Problem der Rassendiskriminierung konfrontiert. Viele seiner indischen Landsleute sind als Vertragsarbeiter in Südafrika, oft unter ausbeuterischen Bedingungen. Mehr und mehr engagiert er sich für deren Rechte, auch durch öffentlichkeitswirksame Aktionen bei einem Heimataufenthalt in Indien. Seine inzwischen nach Südafrika nachgereiste Familie muss freilich immer wieder mit Vergeltungsmaßnahmen für Gandhis Engagement rechnen. Und auch Mohandas‘ persönliche Lebensführung stellt seine Familie vor die ein oder andere Herausforderung. Ohne Rücksprache mit seiner Frau legt er ein Keuschheitsgelübde ab, um – wie er hofft – sexuelle in spirituelle Energie umzuwandeln und sich so mit höherer Konzentration seinen zunehmenden politischen Aktivitäten widmen zu können. Hier spielt mehr und mehr der von ihm geprägte Begriff Satyagraha („Festhalten an der Wahrheit“) eine Rolle, eine Art passiver Widerstand, eine Strategie der Nichtkooperation, die sich im Übertreten ungerechter Gesetze, im Durchführen von (Hunger-)Streiks oder in Form von Boykotten manifestierte. Bald wird aus Satyagraha eine Bewegung, der es unter anderem gelingt, ein unfaires Meldegesetz für Inder in Südafrika einige Zeit lang zu verhindern – regelmäßige Gefängnisaufenthalte nimmt Gandhi dafür in Kauf. 

Gewaltfreier Einsatz für die Unabhängigkeit
Ende 1914 kehrt Mohandas Gandhi nach Indien zurück und tritt dort dem Indischen Nationalkongress, der Kongresspartei, bei. Als Vorbild für ein von der Kolonialmacht Großbritannien unabhängiges Indien gründet er eine Aschram-Gemeinschaft, für die er elf Selbstverpflichtungsprinzipien einführt: Liebe zur Wahrheit, Gewaltlosigkeit, Keuschheit, Desinteresse an Materiellem, Furchtlosigkeit, vegetarische Ernährung, nicht stehlen, körperliche Arbeit, Gleichheit der Religionen, Einsatz für die „Unberührbaren“ und ausschließliche Verwendung inländischer Produkte. Bekanntheit haben Fotografien erlangt, in denen Gandhi am Spinnrad sitzt – eine Tätigkeit, die allmählich zum Symbol des indischen Strebens nach Unabhängigkeit wird. 
Im August 1920 gibt Gandhi den Startschuss für seine „Kampagne der Nichtkooperation“ in Indien. Er ist zutiefst überzeugt: 100.000 britischen Besatzern würde es nicht möglich sein, ein Land von 300 Millionen Indern zu beherrschen, wenn diese anfingen, sich jeglicher Zusammenarbeit zu verweigern. Doch auch dieser Kampagne geht es wie vielen ähnlichen Initiativen: Sie endet in Gewalt. Nicht nur Inder und Besatzer geraten aneinander, sondern auch Hindus und Muslime untereinander. Gandhi wird schließlich zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt, auch wenn er 1924 vorzeitig entlassen und schließlich zum (wenig erfolgreichen und auch nur kurzzeitigen) Präsidenten seiner Partei gewählt wird. 

Am Ziel – und doch nicht
Eine wichtige Etappe auf dem Weg zur Unabhängigkeit ist im März 1930 der „Salzmarsch“, der gegen das britische Salzmonopol protestiert. Auch wenn 60.000 Inder vorübergehend inhaftiert werden, sie gewinnen nun selbst massenhaft Salz – und haben letztlich damit Erfolg. 
Bis der britische Premierminister Clement Attlee am 3. Juni 1947 die Unabhängigkeit und (die von Gandhi eigentlich abgelehnte) Teilung Indiens in zwei Staaten, das mehrheitlich hinduistische Indien und das überwiegend muslimische Pakistan ankündigen sollte, waren noch etliche Verhandlungen am Runden Tisch, ein Hungerstreik und Aktionen zivilen Ungehorsams von Nöten, doch ein großes Ziel war schließlich erreicht. Wenn Indien Jahr für Jahr am 15. August seiner Unabhängigkeit gedenkt, dann auch des Beitrags Gandhis auf diesem langen Weg. 
Sein Fernziel, eine staatsfreie Gesellschaft mit größtmöglicher Toleranz in religiösen Fragen und einem einheitlichen Lohn für alle, ist noch in weiter Ferne, als der 78-jährige Gandhi am 30. Januar 1948 von einem fantischen Nationalisten, dem Hindu Nathuram Godse, erschossen wird.  
Auch wenn Gandhi nicht in all seinen Meinungen Mehrheiten fand und einige Aspekte seines politischen und gesellschaftlichen Wirkens gewiss kritisch zu durchleuchten sind: Zweifelsohne gehört er zu den großen Persönlichkeiten der vergangenen 200 Jahre. Sein Ehrenname, unter dem er am meisten bekannt ist – Mahatma – wurde ihm vermutlich 1915 von Rabindranath Tagore „verliehen“. Weil er wenig vom Personenkult hielt, konnte Gandhi mit dem Namen wenig anfangen, akzeptierte ihn aber schließlich doch irgendwann und sah ihn als Verpflichtung, der es gerecht zu werden galt. 

Zuletzt aktualisiert: 21. Oktober 2019
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