Der lange Weg vom Kohlenstaub zum Sonnenlicht

01. September 2020 | von

Die Corona-Krise hat Umweltthemen von den vordersten Plätzen in den Nachrichtensendungen verdrängt. Der Klimawandel ist damit aber längstens nicht ad acta gelegt. Unser Thema des Monats nimmt die Energiewende in den Blick.

Rauchende Schlote und dreckige Zechen, so stellen sich bis heute viele Menschen in Deutschland das Ruhrgebiet vor, den größten Ballungsraum der Bundesrepublik mit über fünf Millionen Einwohnern. Es hält sich noch das Bild, dass man im Ruhrgebiet die Wäsche nicht draußen aufhängen darf, weil sie am Abend zwar trocken, dafür aber wegen des Kohlenstaubs auch schwarz ist. Geboren bin ich 1986, mitten in dieser Region, und habe das nie erlebt. Mit dem Bergbau hat nicht nur meine Generation in der Regel nichts mehr zu tun. Und doch prägt der Bergbau bis heute das Lebensgefühl, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, ja sogar der Identität der Menschen des Ruhrgebiets, was nicht nur am Steigerlied liegt, das vor jedem Heimspiel des FC Schalke in der Schalke-Arena von den über 60.000 Zuschauern gesungen wird.

Kultur statt Zechen
Auf der riesigen Zechenanlage der sogenannten Gutehoffnungshütte in Oberhausen wurde im Jahre 1996 eines der größten Einkaufs- und Freizeitzentren Europas eröffnet. Auf dem Gelände ist ein Sportboothafen am Rhein-Herne-Kanal entstanden, es gibt einen Vergnügungspark, ein Erlebnisschwimmbad und fußläufig erreichbar den Kaisergarten, eine große Parkanlage mit Tiergehegen mit heimischen Wild- und Haustieren. So kenne ich meine Heimatstadt. Mit der berühmten Zeche Zollverein in Essen verbinde ich in erster Linie nicht Kohle und Stahl, sondern das UNESCO-Weltkulturerbe und ganzjährig spannende Kulturveranstaltungen. 2010 war das Ruhrgebiet Kulturhauptstadt Europas. Die Abraumhalde der letzten, vor zwei Jahren geschlossenen Steinkohlezeche in Deutschland Prosper-Haniel kenne ich nur als grün bewachsenen Hügel, auf dem ein Kreuzweg installiert ist, den der Essener Bischof an jedem Karfreitag mit hunderten von Menschen betet. Predigt und Segen am Gipfelkreuz. Der Altar: ein Förderwagen mit Platte drauf. Das, was das Ruhrgebiet ausmachte, Kohle zur Energiegewinnung, ist für mich nicht mehr als Nostalgie. Grund dafür: Die enormen Kosten des Steinkohlebergbaus in Deutschland, Grund dafür letztendlich auch: die Energiewende.
Eine zweite Szene: Ich mag die Nordsee. Ich genieße die Weite des Meeres. Doch in nordöstlicher Richtung ist der Blick vom Sandstrand der Insel gar nicht mehr so unverstellt wie früher. 15 Kilometer entfernt, nicht bedrohlich nah, aber auch nicht ganz weit weg, immerhin gut erkennbar, erhebt sich aus dem Wasser inzwischen der Offshore-Windpark Nordergründe: 18 Windräder mit einem Rotordurchmesser von 126 Metern. Grund dafür: die Energiewende.
Zwei Szenen, die mir deutlich machen: Wir sind mitten drin in der Energiewende, dem ambitionierten Projekt, der von Menschen gemachten Erderwärmung entgegenzuwirken und die Emissionen von CO2 zu drosseln.

Ziel: Nachhaltige Energieversorgung
Worum geht es bei der Energiewende eigentlich? Energiewende bezeichnet den Übergang von der nicht-nachhaltigen Nutzung von fossilen Energieträgern und der Kernenergie zu einer nachhaltigen Energieversorgung mittels erneuerbarer Energien. Ökologische, gesellschaftliche und gesundheitliche Probleme sollen minimiert, die Kohlenstoffdioxidemissionen reduziert und die Nutzung von Erdöl, Kohle und Erdgas vermindert bzw. irgendwann ganz beendet werden, um der globalen Erderwärmung entgegenzuwirken. Fossile Energieträger sind immer nur begrenzt, und nicht unerhebliche Gefahren gehen von ihrer Nutzung aus. Neben Strom geht es bei der Energiewende auch noch um die Sektoren Wärme und Mobilität. In Deutschland z.B. umfasst der Stromsektor nur etwa 20 % des gesamten Energiebedarfs, 80 % des Energiebedarfs liegen im Wärmen, Kühlen, im Transport etc. Unter erneuerbaren Energien werden Wasserkraft einschließlich der Wellen-, Gezeiten-, Salzgradienten- und Strömungsenergie verstanden, daneben die Windenergie, die Sonnenenergie, Energie aus Biomasse einschließlich Biogas, Biomethan, Deponiegas und Klärgas sowie aus dem biologisch abbaubaren Anteil von Abfällen aus Haushalten und Industrie, und die Geothermie, also die Nutzung der im zugänglichen Teil der Erdkruste gespeicherten Wärme.

Atomausstieg und Windkraftboom
Begonnen hat ein Umdenken hinsichtlich der Energiegewinnung in Deutschland schon in den 1970er Jahren mit der Anti-Atomkraft-Bewegung. Mit dem Einzug der Grünen in den Deutschen Bundestag 1983 forderte zum ersten Mal eine Bundestagspartei den sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie. Seit der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl im April 1986, als eine immense Menge Radioaktivität in die Atmosphäre freigesetzt wurde, deren Folgen durch radioaktiv belastete Böden und Wildtiere selbst in Teilen Deutschlands bis heute nachweisbar sind, machte sich auch die SPD für den Atomausstieg stark. Ein sehr wichtiger Schritt war 1990 das Stromeinspeisungsgesetz, das mit breiter Mehrheit im Bundestag angenommen wurde. Es regelte erstmals die Verpflichtung der Elektrizitätsversorgungsunternehmen, elektrische Energie aus regenerativen Quellen abnehmen und vergüten zu müssen. Durch dieses Gesetz nahm die Ökostrombranche schnell Fahrt auf. Drehten sich beispielsweise 1991 noch weniger als 1.000 Windräder in Deutschland, waren es 2001 schon 11.500 und 2019 knapp 30.000.
Ein weiterer Schritt Richtung Ökostrom war im Kabinett Schröder das 100.000-Dächer-Programm, das eine Förderung von Privatpersonen, Freiberuflern und kleinen bis mittleren Unternehmen vorsah, die Photovoltaikanlagen errichteten. Schließlich hat die Nuklearkatastrophe von Fukushima im März 2011 dazu beigetragen, dass im Bundestag das Ende der Kernenergienutzung ein für allemal beschlossen wurde. In gestaffelter Abschaltung der Kernkraftwerke ist der Ausstieg für das Jahr 2022 vorgesehen.

Gesetzliche Grundlagen
Gesetzliche Grundlage der Energiewende ist das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), das 2000 erstmals in Kraft trat. Das EEG soll im Interesse des Klima- und Umweltschutzes einerseits eine nachhaltige Entwicklung der Energieversorgung ermöglichen und somit fossile Energieressourcen schonen, andererseits aber auch die Weiterentwicklung von Technologien zur Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Quellen fördern. Lag der Anteil erneuerbarer Energien an der Bruttostromerzeugung im Jahr 2000 noch bei 6 %, ist er bis 2018 schon auf 38 % geklettert. Das EEG sieht vor, dass der regenerative Anteil am Strommix bis 2025 auf 40 bis 45 % gesteigert werden, im Jahr 2035 dann 55 bis 60 % betragen und bis 2050 schließlich auf 80 % gestiegen sein soll. In 30 Jahren sollen damit mindestens 60 % des Gesamtenergieverbrauchs durch erneuerbare Energien gedeckt werden. Gleichzeitig soll der Treibhausgasausstoß in Einklang mit den EU-Zielen um 80 bis 95 % (verglichen mit dem Jahr 1990) reduziert werden. Große Ziele sind damit im EEG formuliert.

Endlager-Suche – ohne Ende
Dass mit der Energiewende und der Erreichung dieser Ziele nicht alle Probleme gelöst und alle Herausforderungen gemeistert sind, liegt auf der Hand. Zwar hat Deutschland den Atomausstieg beschlossen, doch ist die Frage nach der Endlagerung radioaktiver Abfälle immer noch unbeantwortet. Seit 1979 wird im niedersächsischen Gorleben ein Salzstock als Atommüll-
endlager erkundet, indes sieht das 2011 verabschiedete Standortauswahlgesetz eine ergebnisoffene Suche nach einem Endlager vor. Aufgrund der langen Halbwertszeiten vieler radioaktiver Substanzen fordert die deutsche Gesetzgebung eine sichere Lagerung von hochradioaktivem Atommüll von einer Million Jahre (!). Die Arbeitsgruppe der Endlager-Suchkommission hält den „Zustand eines verschlossenen Endlagerbergwerks zwischen 2095 und 2170 oder später“ für erreichbar. In etwa 150 Jahren „oder später“ soll der Atommüll also erst sicher endgelagert sein. Die Endlagerungskosten werden auf ca. 49 bis 170 Mrd. Euro prognostiziert. Kosten und Umweltfolgen in nicht vorstellbaren Größen. Eine Million Jahre Endlager, das sind 30.000 Generationen, für eine Atomtechnologie, die in Deutschland gerade einmal 60 Jahre in Betrieb war.

Teurer Strukturwandel
Deutschland versucht, seine Klimaziele darüber hinaus durch den Ausstieg aus der Kohle bis zum Jahr 2038 zu erreichen, denn die deutschen Braun- und Steinkohlekraftwerke verursachen aktuell gut 80 % der CO2-Emissionen des Stromsektors. Betreiber von Braunkohlekraftwerken und Tagebauen sollen für das vorzeitige Abschalten von Kraftwerken Entschädigungen von insgesamt 4,35 Milliarden Euro bekommen, die Entschädigungen für die Stilllegung von Steinkohlekraftwerken werden auf weitere zwei Milliarden Euro beziffert. Bis zu fünf Milliarden Euro stellt der Bund als Hilfe für die bisherig Beschäftigten in Kraftwerken und Tagebauen in Aussicht. Den Bergbauregionen, die einen Strukturwandel zu vollziehen haben, sind 40 Milliarden Euro Unterstützung zugesagt.
Es beißt sich etwas, dass der Kohleausstieg feststeht, vor wenigen Monaten aber erst das neue Kraftwerk Datteln 4 kommerziell in Betrieb ging, das zig Millionen Tonnen Kohle verfeuert, vorwiegend aus Russland und den USA importiert. Die Regierungen von Bund und Land NRW argumentieren, dass im Gegenzug mehrere ältere Steinkohlekraftwerke abgeschaltet und die zusätzlichen Kohlendioxidemissionen von Datteln 4 kompensiert werden würden. Umweltverbände befürchten, der billige Strom aus Datteln werde umweltfreundlichere Alternativen vom Markt drängen.

Netz- und Speicherprobleme
Eine weitere große Herausforderung sind unsere Stromnetze und Stromspeicher, die ausgebaut werden müssen. Sorgte der Sturm Sabine im Februar dieses Jahres für einen Rekord an Windenergie, können die Stromleitungen die produzierte Energie noch gar nicht aufnehmen. Strom muss von dort, wo er produziert wird, zum Ort des Verbrauchers transportiert werden können, auch über lange Distanzen hinweg. Mehr als 7.000 Kilometer neue Höchstspannungsnetze braucht Deutschland für die Energiewende, von denen bisher nur 1.800 Kilometer genehmigt und erst 1.100 Kilometer gebaut sind. Proteste und Klagen gegen Betreiber und geplante Leitungsprojekte sind dafür verantwortlich. Die meisten Deutschen befürworten die Energiewende, aber den Strommast wollen viele dann doch nicht in der Nähe des Dorfes haben. Ca. 50 Milliarden Euro prognostizieren die Netzbetreiber für Investitionen in das Übertragungsnetz bis 2030.

Nötiges Umdenken
Der Sektor Mobilität verursacht rund 20 % der Treibhausgase in Deutschland – überwiegend durch Pkw und Lkw. Bisher konnte der Verkehrssektor seine CO2-Emissionen nicht reduzieren. Neben der Weiterentwicklung von Infrastruktur und 
E-Autos (wobei die mit der Gewinnung der benötigten Rohstoffe für die Batterien verbundenen Umwelt- und Sozialprobleme nicht aus dem Auge verloren werden dürfen) bedarf es in diesem Bereich auch der Änderung des Mobilitätsverhaltens. Privat müssten mehr Menschen auf das Fahrrad, die Bahn und den Öffentlichen Personennahverkehr umsteigen. Zwar leisten im Verkehrssektor vor allem Biokraftstoffe wie Bioethanol, Biodiesel oder Biogas seit einigen Jahren einen Beitrag zum Klimaschutz, doch wird hier noch ein langer Weg zur Erreichung der gesteckten Ziele zu gehen sein. 
Für einen weiteren Anteil von rund 25 % der deutschen Treibhausgasemissionen ist die Wärmeversorgung von Gebäuden verantwortlich. Zum Klimaschutz würden energetische Sanierungen, also z.B. bessere Wärmedämmung, und ein Umstieg bestehender Heizsysteme auf erneuerbare Energien beitragen. Mit Beginn des Jahres 2020 hat die Bundesregierung die steuerliche Förderung für energetische Sanierungsmaßnahmen eingeführt. Wer seine alte Ölheizung gegen eine neue, effizientere und klimafreundliche Heizung austauscht, profitiert seit Januar von einer Austauschprämie für Ölheizungen mit Fördersätzen von bis zu 45 %.

Schöpfung bewahren
Deutschland verfolgt, weltweit betrachtet, sehr ambitionierte Ziele beim Übergang zu einer nachhaltigen Energieversorgung und bietet dennoch höchste Versorgungssicherheit. Auch wenn das beruhigen kann, ist es geboten, sein eigenes Konsumverhalten im Großen und im Kleinen zu hinterfragen. Beim Licht ausmachen fängt das schon an. Wir stehen in der Verantwortung, wie Papst Franziskus immer wieder deutlich macht: „Die 
Zivilisation braucht Energie, aber der Gebrauch der Energie darf die Zivilisation nicht zerstören.“
 

Zuletzt aktualisiert: 01. September 2020
Kommentar