Der Revolutionär der Landschaftsmalerei

16. September 2004

Seine Nähe zur Natur ist unübertroffen – bis ins kleinste Detail schilderte der niederländische Maler Jacob van Ruisdael Bäume, Wolken, Häuser und Kirchen seiner Heimat. Und dennoch: All seine spannungsgeladenen Landschaftsbilder und Stadtansichten sind inszeniert, aus Fragmenten der Wirklichkeit. Sie dienen der Illustration des ganz großen Themas: Vergänglichkeit und Ziel des Lebens.
 
Was für ein Bild! Es irritiert und fasziniert zugleich: Ein überdimensionierter Baumtorso ragt links im Vordergrund auf und beherrscht die Landschaft. Von gleißendem Licht erfasst stößt er wie ein mahnender Finger in den Himmel. Der zimtbraune Stamm – hohl, an einigen Stellen geborsten – windet sich merkwürdig nach oben, so als ob er in Todesqualen erstarrt wäre. Rechts davon strebt der Blick in die Tiefe, gleitet über eine Furt in goldenem Sonnenlicht. Durch deren klares Wasser treibt ein Hirte sein Vieh der Stadt am Horizont entgegen: Giebel, Kamine, verschachtelte Dächer bilden ein munteres Grüppchen rund um den hoch aufragenden Turm der Kathedrale – ein Bild der Behaglichkeit und Beständigkeit. Und welch ein Kontrast zu dem toten Baum, der an die Vergänglichkeit des Lebens gemahnt.
Ein erstaunliches Meisterwerk voller sinnlicher Reize, spannender Gegensätze und mit tiefgründigem Gedankenspiel – umso erstaunlicher, dass es von der Hand eines 19-Jährigen stammt. 1648 schuf Jacob van Ruisdael diese “Ansicht von Egmond an Zee“ (Currier Gallery of Art, Manchester). Bereits zwei Jahr zuvor legte der junge Künstler einen rasanten Start hin: Ganze 13 Landschaften malte er binnen eines Jahres – keinesfalls unsicher tastende Anfängerarbeiten: die meisten davon monumental und eigenwillig komponiert, eine wehmütige Stimmung ausstrahlend, die Einzelheiten detailliert und plastisch herausgearbeitet. Individualität, Spannung und Kontraste kennzeichnen diesen furiosen Auftakt, mit dem van Ruisdael als entscheidender Neuerer der niederländischen Landschaftsmalerei in Erscheinung tritt. Die herausragenden Meister seiner Zeit, Jan van Goyen und sein Onkel Salomon van Ruysdael, strebten in ihren Kompositionen eher einen einheitlichen Farbton an, der alle Gegenstände umhüllte und sie zu einem harmonischen, wenig aufregenden Ganzen zusammenführte.
  
Dürftige Quellenlage. Jacob van Ruisdael muss wohl ein außergewöhnlicher Mensch gewesen sein, mit einem starken und eigenwilligen Charakter ausgestattet – das legen zumindest die Sprache seiner Bilder und seine künstlerische Entwicklung nahe. Leider geben nur wenige zeitgenössische Quellen Auskunft über seine Person. Geboren wurde er wahrscheinlich 1629 im niederländischen Haarlem, in eine Malerfamilie hinein. Sein Vater Isaack van Ruisdael war Rahmenmacher, Kunsthändler und Künstler – er malte ebenso wie sein jüngerer Bruder Salomon Landschaften. Ursprünglich plante er für seinen Sohn eine andere Karriere als die eigene, denn  Jacob lernte in seiner Jugend Latein und begann Medizin zu studieren. Doch er brach sein Studium vorzeitig ab. Erst später, gegen Ende seines Lebens, sollte er es wieder aufnehmen – 1676 ist sein Name in der Amsterdamer Ärzteliste aufgeführt. Die Eindrücke seiner Umgebung hatten ihn wohl geprägt, die Kunstwerke, die im Laden des Vaters ein- und ausgingen mögen den Jungen fasziniert haben. Vielleicht hat der Vater ja auch der Begeisterung seines Sohnes gerne nachgegeben, denn die reichen Bürger des prosperierenden Haarlem holten sich damals mit Vorliebe Ansichten aus Stadt und Umgebung in ihre Häuser. Das Geschäft florierte schon seit zwei Jahrzehnten und schien relativ stabil. Jakob lernte vermutlich in der Werkstatt seines Vaters und bei seinem Onkel Salomon die grundlegenden Techniken und das Repertoire der Motive, die eine Landschaft enthalten sollte: Dünen, Wolken, Bäume, bewaldete Flussufer, Windmühlen und Kirchtürme.

Symbolisch aufgeladen. 1646 also trat der 17-jährige Wunderknabe ins Rampenlicht der Haarlemer Kunstszene: 13 Werke, alle signiert und datiert. In den folgenden Jahren scheint der Stil seiner Bilder bereits so bekannt gewesen zu sein, dass der Künstler auf sein Namenszeichen verzichten konnte.
1648 wurde Ruisdael in die Haarlemer St. Lukasgilde aufgenommen und konnte nun offiziell als freischaffender Maler tätig sein. Das tat er mit Erfolg. Seine innovativen Gemälde trafen den Geschmack der vermögenden Kaufleute.
Auf der Suche nach neuen Motiven reiste der Künstler von 1650 bis 53 mit seinem besten Freund und Malerkollegen Nicolaes Berchem in das deutsch-niederländische Grenzgebiet. Die Reise dorthin gab Ruisdael einen enormen Impuls und leitete eine neue Phase in seinem Werk ein. Die Formen wurden massiver, die Farben vibrierender, die Komposition konzentrierter und dramatischer in der Wirkung. Außerdem belegte der Künstler seine Landschaften von da an vermehrt mit einem symbolischen Gehalt. All diese Merkmale vereint eines seiner berühmtesten Meisterwerke: “Der Judenfriedhof“ (1655, Gemäldegalerie, Dresden). Goethe zeigte sich von diesem Bild beeindruckt und machte es durch seinen Aufsatz “Ruisdael als Dichter“ (Goethe 1813, in: Goethes Werke, München, 1981, S. 141f) populär.

Bild als Memento mori. Die Szene zeigt einen verfallenden jüdischen Friedhof unter einem dunklen, mit schweren Unwetterwolken verhangenen Himmel. Im Hintergrund die Ruine einer großen Kathedrale, deren Giebelfront sich schon vom Baukörper gelöst hat und dadurch wie ein Fingerzeig gen Himmel wirkt. Ihr antwortet kompositorisch eine abgestorbene Birke im Vordergrund, deren Rinde vom kalten Gewitterlicht erfasst wird. Beide verklammern das Zentrum des Bildes im Mittelgrund, auf das hin sich das gesamte Bild konzentriert: drei Sarkophage, deren Fronten von kalt-weißem Licht getroffen werden. Auch sie sind im Verfall begriffen, “Grabmäler von sich selbst“, wie es Goethe ausdrückte. Alles spricht von Vergänglichkeit. Selbst der Bachlauf kündet nicht von Leben, vielmehr gemahnt er – rasch eine Geländestufe hinabstürzend – an dessen eiliges Dahinfließen. All diese Landschaftselemente sprechen ein Memento mori aus. Es schwingt jedoch auch Hoffnung in dieser düster-dramatischen Atmosphäre mit. Hoffnung auf ein Leben im Jenseits: der Regenbogen links hinten, der sich aufhellende Gewitterhimmel und die gebärdengleich nach oben weisende Baumleiche verweisen auf das wahrhaft beständige Leben bei Gott. Theologische Inhalte hat der gläubige Mennonit Ruisdael – 1657 trat er zur reformierten Kirche über – in viele seiner Bilder gelegt.

Gewaltige Raumentwicklung. Kurz nach der Entstehung dieser Ikone der holländischen Landschaftsmalerei, um 1656/57, verließ der Künstler seine Heimatstadt, deren wirtschaftliche Blütezeit zu Ende ging. Er zog nach Amsterdam, der damals größten und reichsten Stadt der jungen Republik. Dort brachte er es zu einigem Ansehen und bescheidenen Wohlstand. 1667 scheint Ruisdael ernsthaft krank gewesen zu sein, denn er setzte zwei Testamente auf. Doch er erholte sich wieder und trieb seine Kunst einem weiteren Höhepunkt zu: in den sogenannten Haarlempjes. Diese Gruppe von sieben Ansichten seiner Vaterstadt entstand um 1670. In ihnen finden Tiefen- und Höhenerstreckung des Bildraumes ihren Höhepunkt – und auch die holländische Panoramadarstellung.

Der Himmel das Maß. Als exemplarisch für diese Werkgruppe gilt die Ansicht der “Bleichwiesen bei Haarlem“ (um 1670, Ruzicka-Stiftung, Zürich). Ruisdael vermochte in ihr die grenzenlos scheinende Weite des holländischen Flachlandes in einer festgefügten Komposition einzufangen und dem Betrachter einen beeindruckenden Blick auf Haarlem zu bieten. Von einem erhöhten Standpunkt aus überschaut er die weite Ebene bis hin zum Horizont: an einem See die Bleichwiesen, auf denen ausgebreitete Stoffbahnen im Sonnenlicht aufblitzen, verstreute Gehöfte, ausgedehnte Weiden und Waldgebiete. Am Horizont schließlich leuchtet im Sonnenlicht die Stadtsilhouette mit der dominanten St. Bavokerk auf, deren Maßstab vom Künstler manipuliert wurde – wie überhaupt die ganze Ansicht aus einzelnen Realitätsfragmenten konstruiert ist. Darüber ein hoher Himmel mit gewaltig raumüberspannender Kraft. Erst dieser schafft in seinem plastischen Über- und Hintereinander der Wolkentürme Raum und bietet zugleich das Maß für die in winzige Formen gegliederte Welt. Ein Sinnbild für die Herrlichkeit der Schöpfung, die Allmacht und Güte Gottes. Zugleich scheint dieses Bild wie eine Zusammenfassung eines außergewöhnlichen Künstlerlebens und die Vorausschau auf seine Vollendung: Kurz vor seinem Tode kehrte Jacob van Ruisdael in seine Heimatstadt zurück, um dort zu sterben. Am 14. März wurde er in der Haarlemer St. Bavokerk beigesetzt.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016