An der Seite der Verrückten von Grègoire

Caritas Antoniana - Projekt 13. Juni
10. Juni 2019 | von

Lesen Sie den Reise-Bericht von P. Giancarlo Zamengo, dem Generaldirektor des „Messaggero di sant’Antonio“. Er berichtet über ein Projekt in Togo zu Gunsten der Ärmsten der Armen, psychisch kranken Menschen, das von Grégoire Ahongbonon initiiert wurde.

Ich bereite mich wieder einmal vor für eine Reise nach Afrika. Das nächste Projekt zum 13. Juni, dem Fest des heiligen Antonius, wird in Togo realisiert werden, im westlichen Teil des afrikanischen Kontinents. Im Herzen des Projektes stehen dieses Jahr die Ärmsten unter den Armen, und zwar Menschen mit einer psychischen Krankheit. Auf dieser Reise werde ich den Spuren eines Mannes folgen, der einst Autoreifen reparierte und sich nun um die Gesundung von psychisch Kranken kümmert, und zwar in einer Art und Weise, die ihn mit einem berühmten italienischen Psychiater, Franco Basaglia, auf den die Schließung von sogenannten „Irrenanstalten“ in Italien zurückgeht, gleichsetzt, sozusagen als der „Basaglia von Afrika“.   

Angekettet und misshandelt
Ich habe Grégoire Ahongbonon im Jahr 2008 kennengelernt, als er in der Antonius-Basilika den Internationalen Antonius-Preis vom Messaggero di sant‘Antonio überreicht bekam. Damals hatte er eine schwere Eisenkette dabei, die er laut über dem Altar scheppern ließ, wobei er rief, dass in Afrika Tausende Menschen mit solchen Ketten an Blöcke oder Bäume gekettet werden, Misshandlungen, Hunger und Durst ausgesetzt, denn die Tradition sieht sie als von bösen Geistern besessen an. Dabei handelt es sich um Menschen mit psychischen Problemen unterschiedlicher Art, die aus Angst vor einer „Ansteckung“ aus ihren Dörfern vertrieben oder von ihren Familien „Medizinmännern“ oder bestimmten Gebetsschulen anvertraut werden, damit diese sie gegen Bezahlung „befreien“. Die meisten von ihnen könnten geheilt werden, aber in Afrika gibt es keine Kultur der psychischen Krankheiten und auf jeden Fall gibt es kein Geld, um psychiatrische Untersuchungen und Medikamente zu bezahlen. Und so bleiben Viele bis zu ihrem Tod angekettet, oft schneiden sich wegen der erzwungenen Unbeweglichkeit die Eisenketten oder der Draht tief in das Fleisch ein.

Ankunft in Togo
Zusammen mit mir reisen P. Fabio als Fotograf und Federica Ferro, die Projektleiterin der Vereinigung „Jobel“, die von Italien aus die Werke von Grégoire und seiner Vereinigung „San Camillo De Lellis“ unterstützt.
Der Flughafen von Lomè, der Hauptstadt von Togo, ist ein modernes Gebäude, das in scharfem Kontrast steht zu der Armut im Land, das sich an 166. Stelle von 168 Ländern in der Rangliste der Länder hinsichtlich des jeweiligen Entwicklungsstandes befindet. Am Gate empfangen uns Sr. Delia und Sr. Simona in farbenfrohen afrikanischen Gewändern. Beide gehören einer kleinen Kongregation an, den Schwestern „Misericordine di san Gerardo di Monza“. Sr. Simona vor allem wird zu unserem Schutzengel auf unserer Reise. Auf der Fahrt zu der Mission von Afangnagan in der Diözese von Aneho, wo unser Projekt ins Leben gerufen werden soll, erzählt sie uns von ihrer Berufung, die völlig unerwartet ein paar Monate vor dem Abschluss ihres Medizinstudiums geschieht. Heute ist sie Chirurgin im örtlichen Krankenhaus „Saint Jean de Dieu“. In den Tagen unseres Aufenthaltes sehe ich, wie sehr sie sich an unterschiedlichen Fronten einsetzt, zwischen einer Leistenbruch-OP, der geduldigen Pflege von P. Richard, einem psychisch kranken Priester, der abstreitet, krank zu sein, und der Aufmerksamkeit, die sie den Dutzenden von Menschen entgegenbringt, die sie rund um die Uhr um Hilfe bitten. 

Erste Hilfe für 200 Kranke
Und Sr. Simona bringt uns am Tag nach unserer Ankunft zum „Centre Miséricorde de Zooti“, das im Jahr 2015 von Grégoire gegründet wurde. Die Fahrt im Jeep ist eine Odyssee um Schlaglöcher herum. Das Zentrum für psychische Gesundheit kann 200 Kranke aufnehmen. Was hier vor allem getan wird, ist der Schutz dieser Menschen vor den Gefahren der Straße, ein erstes Aufpäppeln und die erste psychiatrische Behandlung. Der nächste Schritt nach Aufnahme und medizinischer Betreuung sollte die Hilfe bei der Suche nach einer Arbeit und die Wiederherstellung der Würde und des Selbstvertrauens der Kranken sein. Deshalb hat die Vereinigung „San Camillo de Lellis“ ein Grundstück gekauft, das nur einen Kilometer entfernt ist vom „Centre Miséricorde“ und die Caritas Antoniana gebeten, bei dem Bau und der Einrichtung eines Berufsbildungszentrums für Patienten, die auf dem Weg ihrer Genesung sind, zu helfen.

Zurückerhaltene Würde
Das „Centre Miséricorde de Zooti“ kann, wie alle von Grégoire gegründeten Einrichtungen, auf nur wenige medizinische Ressourcen zurückgreifen. Wir betreten das einfache Büro der Direktion. Die Einrichtung ist armselig: ein Tisch, ein Stuhl. In dem Bereich, in dem die Kranken wohnen, liegen Männer und Frauen auf dem Boden, notdürftig mit Lumpen bedeckt. In Afrika geht Geisteskrankheit mit Nacktheit einher. Und deshalb, so erklärt uns ein Mitarbeiter, ist es auch der erste Schritt, dem Körper seine Würde wiederzugeben. Die Patienten werden gewaschen, bekleidet, gekämmt und rasiert. Einige Mütter haben Neugeborene auf dem Arm. Besonders eine Frau erscheint mir noch sehr leidend zu sein. Sr. Simona erklärt uns: „Sie wurde Opfer einer Vergewaltigung. Hier glaubt man noch immer, dass das Vergewaltigen einer Frau mit mentalen Problemen dem Vergewaltiger mehr Kraft und magische Fähigkeiten verleiht. Und wir können sie leider nicht immer beschützen.“ In der Stimme von Sr. Simona liegt eine Mischung aus Schmerz und Wut. Zu den Patienten gehört auch Ndi, was in der Ewé-Sprache so viel bedeutet wie „Guten Tag“. Er ist ungefähr neun Jahre alt und niemand hier kennt weder seinen eigentlichen Namen, noch seine Geschichte, man nennt ihn Ndi, weil das das einzige Wort ist, das er ständig sagt. Bei ihm ist Koukou, ein anderer klangvoller Name, der sichtbare Anzeichen einer geistigen Behinderung aufweist. Seine Oma hat ihn hier „abgegeben“, weil er ihr nicht hörte. Ich sehe mich um und es kommt mir vor, als wären wir an einem Hof der Wunder, einem Reigen von Seelen, die nach ihrer Geschichte suchen. 
In den Augen eines Europäers gibt es hier nicht viel für diese Menschen, und doch ist es das Vorzimmer ihrer Rettung. Alternativen gibt es keine. Nur das einzige psychiatrische Krankenhaus, eine echte Rarität in Afrika. Um dort aufgenommen zu werden, braucht man aber Geld und bleibt dennoch angekettet, an den unsichtbaren Block der Medikamente und der Isolierungszellen. Verloren in der eigenen Dunkelheit.  

Kreative Nothilfe
Laut Weltgesundheitsorganisation leiden in Afrika 26 Millionen Menschen an psychischen Krankheiten (Stand: 2004). Zu den Gründen gehört auch das Auseinanderbrechen der afrikanischen Großfamilien durch die Landflucht in die großen Städte. Das Ergebnis davon ist, dass Millionen von Menschen im Fall einer Notsituation keinen Rückhalt haben und dadurch Schwäche entwickeln. Im Hinblick auf diese „Epidemie der dunklen Krankheit“ kann Afrika auf einen Psychiater für fünf Millionen Menschen zählen, in Europa gibt es im Schnitt einen für 1.000 Menschen.    
Nicht ohne Grund hat also Grégoire eine Form rudimentaler Assistenz entwickelt, die aber genau auf afrikanische Verhältnisse zugeschnitten ist: Befreie die Kranken von ihren Ketten, hole sie von der Straße und schicke sie zurück in eine liebevolle Gemeinschaft. Aber es ist weit mehr, denn er fördert in seinen Einrichtungen auch seine Mitarbeiter, alles ehemalige Patienten, die die Krankheiten besser kennen als alle anderen und auch wissen, wie damit umzugehen ist. So gibt er ihnen Arbeit und eine soziale Rolle, er wandelt sozusagen die Stigmata in Ressourcen. Ein positiver Kreislauf, denn so entsteht im Laufe der Zeit eine neue Kultur, Vorurteile werden abgebaut. „Die Kur durch Liebe“ nennt es Grégoire, der mit dieser Methode schon Tausende Leben gerettet und damit alle zum Staunen gebracht hat. Im System von Grégoire gibt es natürlich auch Psychiater, aber weil es so wenige sind, setzt er sie mit Bedacht ein, schickt sie im Turnus in die verschiedenen Zentren, wo sie die Behandlungsprotokolle kontrollieren und die Mitarbeiter schulen.  
Während ich durch das Zentrum gehe, erkennen die Menschen meinen Habit. Sie nähern sich. Mit vor der Brust gekreuzten Armen und geneigtem Kopf „betteln“ sie um eine Berührung oder meinen Segen. Ich lege meine Hand auf ihre Stirn, hinter der sich ihre persönlichen Geister verbergen, und segne sie. Und bete. Ich bin durcheinander, völlig hilflos gegenüber so viel Schmerz. Können wir diesen Menschen wirklich helfen? Und ist das der richtige Weg? Sr. Simona spürt meinen stillen Zweifel: „Heute ist ein großer Tag. Die Caritas Antoniana hat entschieden, sich dieser Menschen anzunehmen. Die großen internationalen Einrichtungen tun das nicht, aber auf den heiligen Antonius ist immer Verlass.“ 

Ein Heiliger – oder ein Verrückter?
Plötzlich hören wir Motorenlärm und Autotüren, die unter Geschrei und Jubel zugeschlagen werden. Es folgen freudige Umarmungen: Grégoire ist gekommen! Er trägt ein Khaki-Hemd, Jeans, Sonnenbrille und versprüht seine typische, unendliche Energie. Vor diesem Leben reparierte er Autoreifen und war Taxi-Besitzer in der Elfenbeinküste. Ein unsteter Mensch, voller Laster, zwar als Christ geboren, aber vom Glauben weit entfernt. Auf einmal jedoch geschieht etwas. Seine Geschäfte laufen schlecht, die Freunde meiden ihn, er wird depressiv und hat Selbstmordgedanken. Nur wie durch ein Wunder wird er gerettet, er wird ein neuer Mensch auf der Suche nach einem Ziel. Das findet er nach einer Pilgerfahrt nach Jerusalem im Evangelium, das er wortwörtlich befolgt bei der Rettung seiner „Verrückten“, die er für das vergessene Antlitz Gottes hält. Heute hat er Zentren in Benin und an der Elfenbeinküste und hat bereits mehrere Tausend Leben gerettet. Viele halten ihn auch für einen Verrückten, manche für einen Heiligen. Er lacht sich ins Fäustchen und sagt: „Du glaubst doch nicht, dass ich das alles hier geschafft haben kann? Ich bin doch nur ein einfacher Reifenhändler!“ 

Göttlicher Ruf
In Togo landet er zufällig – oder als Werk der göttlichen Vorsehung, wie er es sieht. Im Jahr 2014 war er in Frankreich wegen einer Knieoperation, als ihn eine Journalistin aufsucht. Sie ist völlig verstört von dem, was sie in Togo gesehen hat: geisteskranke Menschen, die schlechter behandelt werden als Tiere. Wenn du das einmal gesehen hast, kannst du nicht mehr wegsehen. Es ist der Ruf Gottes. Ein Besuch von Grégoire in Togo eröffnet den Weg. Ein Zweig der Vereinigung „San Camillo De Lellis“ entsteht auch in der Diözese von Aneho, und im Jahr 2015 kann dank des Präsidenten dieser Vereinigung, P. David Mawuko Kakli, das „Centre Miséricorde De Zooti“ eröffnet werden.
Der Rest ist aktuelle Geschichte: Das Zentrum hat die Kranken befreit, ihnen einen Weg der Behandlung und den Zugang zu Medikamenten eröffnet. Nun geht das Staffelholz an uns. Mit Ihrer Hilfe bauen wir ein Rehabilitationszentrum, das den Kranken durch eine Berufsausbildung eine konkrete Hilfe bietet, die Chance auf ein neues Leben. 

Vertrauen in die Vorsehung
Entlang der Straße zum Flughafen von Lomè denke ich darüber nach, wie groß die Herausforderung dieses Jahr ist. Aber ich bin mir sicher, dass der heilige Antonius sicher keinen Rückzieher macht. Mir fallen die Worte ein, mit denen mich Grégoire verabschiedet hat: „Vertraue der Vorsehung! Zu viele Berechnungen und Abwägungen ketten dich an menschliche Logik und entfernen dich vom Herrn. Für ihn ist nichts unmöglich.“ Und während ich noch darüber nachdenke, sehe ich plötzlich aus dem Autofenster einen nackten Mann auf dem Asphalt liegen. Es ist nur eine Momentaufnahme. Ein Symbol für den Schmerz. Unser Auto rast daran vorbei, ich drehe mich um. Ich kann den Mann nicht mehr sehen, aber sein Bild hat sich in mein Herz eingebrannt. Grègoire würde sagen, dass es ein Zeichen der göttlichen Vorsehung war.

Das Projekt:
Bau und Einrichtung 
eines Rehabilitationszentrums 

Projekt: 
Erstellt wird ein Bau mit je einem Bereich für Frauen und einem für Männer. Hinzu kommen einen Brunnen und Wassertanks, sowie Räume für Werkstätten. Vorgesehen ist Land für Gemüseanbau und Viehzucht. 

Aktivitäten:
Neben der Viehzucht und der Landwirtschaft sollen die Nutzer des Zentrums in den Werkstätten arbeiten können. Die vorgesehenen Geschäfte (Bäckerei, Schneiderei, Friseurladen) sind auch für die Menschen aus dem Ort offen.

Ziele:
Wir wollen die Lebensqualität der Kranken verbessern und ihnen bei der Rückkehr in die Gesellschaft helfen. Außerdem sollen Vorurteile gegenüber psychisch Kranken abgebaut werden.

Kosten & Zeitraum: 
Euro 490.860,00 / 2019-2021

Wir bitten um Ihre Unterstützung!

Zuletzt aktualisiert: 10. Juni 2019
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