Der Stein der Schande

26. Juli 2005 | von

Der Gerichtssaal im Paduaner „Palazzo della Ragione“ ist ein touristischer Höhepunkt der Stadt. Freilich sind die meisten Besucher des Saales derart beeindruckt von seinen Dimensionen, dass sie gerne mal einen darin stehenden, unscheinbaren Stein übersehen. Zu unrecht, denn er bezeugt Antonius’ außergewöhnliches Wirken zum Wohle der Menschen. 

 

Ganz unscheinbar in einer Ecke steht er. Vom Großteil der Besucher unbeachtet, wird er meist erst beim Hinausgehen eines kurzen Blickes gewürdigt. Dabei ist er doch eigentlich ein Zeugnis für das außergewöhnliche Wirken des heiligen Antonius in Padua. Die Rede ist vom so genannten “pietra del vituperio“ – dem “Stein der Schande“ im Palazzo della Ragione im Zentrum von Paduas Altstadt.

Man kann es den Besuchern des Palazzo della Ragione, des kommunalen Justizpalastes, allerdings auch gut nachempfinden, dass sie beim erstmaligen Betreten des oberen Saales, von seiner Größe und Höhe völlig überrascht sind und den dunklen Stein auf dem dreistufigem Sockel zu ihrer Rechten gar nicht bemerken.

 

Demütigende Prozedur. Wer doch neugierig wird und dann in einem gängigen Stadtführer nachschlägt, erfährt dort, dass dieser Schandstein auf Veranlassung des heiligen Antonius 1231 als Ersatz für die übliche Gefängnisstrafe für zahlungsunfähige Schuldner eingeführt worden sei. Der Schuldner konnte, statt ins Gefängnis zu gehen, seine gesamten Güter mit der folgenden Prozedur abtreten: Im Beisein von hundert Menschen musste er sich nur mit Hemd und Unterhose bekleidet, also im wahrsten Sinne des Wortes in seinem letzten Hemd, denn mehr durfte er nicht behalten, dreimal auf den Stein setzen. Dabei hatte er laut die Worte “Cedo bonis“ – “Ich überlasse die Güter“ auszurufen. Danach wurde der jetzt Besitzlose aus der Stadt und auch aus den Vororten verbannt und konnte sich nun aber als immerhin freier Mann an einem anderen Ort niederlassen. Nach Padua durfte er jedoch nur zurückkommen, wenn er seine gesamten Schulden begleichen konnte. War er dazu nicht in der Lage und kehrte trotzdem zurück, wurde er ergriffen und wieder in den Palazzo della Ragione gebracht. Dort musste er erneut dreimal auf dem Stein Platz nehmen und zusätzlich wurde ihm dabei jeweils ein Eimer Wasser über den Kopf geschüttet. Außerdem musste der Säumige wieder seine gesamte Kleidung bis auf das berühmte letzte Hemd seinen Gläubigern überlassen. Aber nicht nur das, sondern er sollte auch eine Geldstrafe von 100 Soldi bezahlen, wobei diese Strafe in Anbetracht der finanziellen Probleme des Pechvogels etwas unsinnig erscheint. Anschließend wurde er wieder aus der Stadt verbannt.

 

Urheber Antonius? Dass der Zahlungsunfähige bei diesem Spektakel demütigend zur Schau gestellt werden sollte, ist offensichtlich. Aber das ist es auch, was einem an dieser angeblich auf Vorschlag des heiligen Antonius eingeführten Prozedur sehr ungewöhnlich vorkommt. Dass ein Schuldner die Güterabtretung einem mittelalterlichen Gefängnis vorzog – was wohl mit einem mehr oder weniger frühzeitigen Tod gleichbedeutend war – ist äußerst nachvollziehbar, und dass Antonius damit vielen Menschen, die durch Wucherer in diese unglückliche Lage gekommen waren, geholfen hat ebenfalls. Aber dass er als Ersatz diese demütigende Show instituiert haben soll, klingt eigentlich so gar nicht nach ihm.

Und in der Tat ist der “Stein der Schande“ erst 30 Jahre nach dem Tod des Heiligen nämlich 1261 eingeführt worden, wie in den Statuten der Kommune aus jenem Jahr festgehalten ist. Darin wird detailliert die oben beschriebene Prozedur geschildert.

 

Nicht ganz ungeschoren. Im März des Jahres 1231 hingegen hatte man auf Antonius Fürsprache die Gefängnisstrafe für säumige Schuldner, wenn diese im Gegenzug ihren Besitz abtraten, abgeschafft. Bis dato hatte man die Unglücklichen gleich nach ihrer Verurteilung im großen Gerichtssaal in das direkt über eine Brücke an der Westseite angeschlossene Gefängnis abgeführt. In den Statuten von 1231 ist sogar ausdrücklich festgeschrieben, dass dieses Gesetz nicht verändert oder abgeschafft werden kann.

Aber wie es scheint, war man in der Kommune dreißig Jahre nach Antonius’ Tod mit der ersatzlosen Streichung der Gefängnisstrafe nicht mehr zufrieden und wollte die Zahlungsunfähigen doch nicht ganz ohne Pein ausgehen lassen - und so wurde jenes “Schuldnerverfahren“ eingeführt. Wobei sicher nicht nur ein gewisser Abschreckungseffekt, sondern vor allem wohl eine Genugtuung für die Gläubiger eine Rolle gespielt haben wird. Der Stein kam dabei immerhin bis 1640 zur Anwendung. Seitdem ist er nur noch ein historisches Zeitdokument und irgendwann ist er dann in der nordöstlichen Ecke des Gerichtssaales gelandet. Ursprünglich war er jedoch über Jahrhunderte der Mittelpunkt des seinerzeit “größten hängenden Saales der Welt“.

 

Imposanter Gerichtssaal. In seiner heutigen Gestalt hat der Saal die Ausmaße von 79 mal 27 Metern und die Decke erhebt sich in einer Schwindel erregenden Höhe von fast 27 Metern in Form eines freitragenden umgedrehten Schiffsbugs. Diese geniale Konstruktion war während des Umbaus 1306-1309 vom großen Meister Fra Giovanni degli Eremitani errichtet worden. Zu Zeiten des heiligen Antonius war der Palazzo erst gut zehn Jahre alt und besaß noch nicht das heutige charakteristische Dach, sondern ein normales Walmdach. Innen existierten neben einem großen noch mehrere kleine Räume, die erst 1420 nach einem verheerenden Brand zu einem einzigen enormen Saal vereint wurden.

Auch der wertvolle astrologische Freskenzyklus, von Giotto um 1312-1313 ausgeführt, der ursprünglich die Seitenwände schmückte, ist bei jenem Brand zerstört worden und anschließend mit ähnlichen, noch heute erhaltenen Fresken ersetzt worden. Nur der Schandstein hat als einziges Ausstattungselement des ursprünglichen Palazzo della Ragione die Wirren der Zeit unbeschadet überstanden.

 

 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016