Die Angst vor dem Anderen und die Faszination des Fremden

01. Januar 1900 | von

Ferne Länder bereisen, fremde Kulturen kennen lernen und natürlich auch entsprechende Abenteuer zu bestehen... diesem Traum haben Generationen von Jungen und Mädchen nachgehangen. Auch wenn er selten Realität wurde, die Phantasie der Kinder wurde oftmals in unzähligen Nächten genährt, in denen sie - anstatt zu schlafen - heimlich unter der Bettdecke Karl-May-Bücher verschlangen. Ob Coopers Lederstrumpf, Jules Vernes fantastische Reisen, oder später auch Sciencefiction-Bücher, in denen die Helden neue Welten entdecken, immer wieder verstanden es die Autoren, dieses Fernweh und die Entdeckerlust der Leser anzusprechen und zu entfalten.
Die Sehnsucht, aus der Enge des heimatlichen Ortes auszubrechen, das Bekannte hinter sich zu lassen und zu neuen Ufern aufzubrechen, ist in der Jugendzeit ein bekanntes und möglicherweise auch lebensnotwendiges Gefühl.

Fernweh. Das Reizvolle und Geheimnisvolle einer fernen Welt spiegelt grundsätzlich etwas von dem Reiz und dem Geheimnis menschlichen Lebens wieder und weckt, gerade bei jungen Menschen, die Lebenskräfte, derer es bedarf, um das vor sich liegende Leben anzugehen und erobern zu wollen.
Dass es sich bei der Faszination des Fremden allerdings nicht nur um ein pubertäres Lebensgefühl handelt, davon zeugt die zahlreiche Literatur, die in den vergangenen Jahrhunderten entstanden ist und im Stil von Reiseberichten und Abenteuerromanen auch durchaus erwachsene Menschen in ihren Bann schlug. Fremde Kulturen, Gebräuche und Sitten, sie übten und üben eine merkwürdige Faszination aus, und so mancher Schlager hat aus diesem Gefühl der Menschen Kapital geschlagen. Seemann, deine Heimat ist das Meer, deine Freunde sind die Sterne, über Rio und Shanghai über Bali und Hawaii - dieses Lied der zwanziger Jahre, das dann Jahrzehnte später zum Hit wurde, greift mit vielen anderen Schlagern dieser Zeit das Thema Fernweh auf und sollte beim Hörer wohl vielfältige Assoziationen und Bilder erzeugen: blumenbekränzte Mädchen auf Hawaii, dunkle Opiumhöhlen in Shanghai, oder buntes Karnevalstreiben in Rio. Natürlich wurden damit vor allem Klischees bedient, aber zweifellos konnten sie auch nur Erfolg haben, weil die Ferne und das Fremde Menschen immer auch fasziniert und anzieht.  

Lust auf das Fremde. Aber auch sehr ernst zu nehmende Entdecker und Wissenschaftler wurden getrieben von dieser Lust auf das Fremde. Neben dem sicherlich vorhandenen Eroberungsdrang mit dem Ziel, fremde Länder in erster Linie nur zu besetzen und dem eigenen Herrschaftsbereich zu unterwerfen, spielte bei vielen dennoch auch die Neugier auf andere Lebensformen, auf bis dahin unbekannte Entwürfe menschlicher Gesellschaft eine große Rolle. In einer Zeit, in der es den meisten Menschen unmöglich war, weit zu reisen, gaben die in der Alten Welt veröffentlichten Berichte über das Gesehene und Erlebte Einblick in ferne Länder und Kulturen und weiteten damit auch den Horizont der Daheimgebliebenen. Jedoch begnügten sich manche der weit Gereisten nicht mit dem Erzählen ihrer Erlebnisse, dem Mitbringen unbekannter Nahrungsmittel oder dem Vorzeigen fremdartiger Gegenstände. Aus der heutigen Sicht heraus unfassbar, brachten sie von ihren Reisen auch immer wieder Menschen mit, die auf Märkten und Rundreisen in Europa regelrecht ausgestellt wurden. Wie wilde Tiere angekettet, wurden sie einer staunenden mitteleuropäischen Gesellschaft vorgeführt und dienten so zuallererst dem finanziellen Gewinn ihrer Besitzer.
Sie lösten Faszination und Erstaunen aus, aber gleichzeitig zeigt diese Art der Begegnung mit dem Fremden, von wie vielen Angstgefühlen sie zugleich auch geprägt war. Dies war beileibe nicht nur ein Kennzeichen früherer Zeiten, sondern kann getrost auch heute noch als eine Wurzel der Fremdenfeindlichkeit angesehen werden.

Unvertrautes macht Angst. Die Angst vor dem Unbekannten, Unvertrauten, die Angst im Angesicht des Fremden, das Eigene nicht bewahren zu können, ist bis heute mit ein Grund für die Ausgrenzung von Emigranten, Ausländern und Asylsuchenden. Die Rede von der Überfremdung der Gesellschaft gründet neben anderen Ursachen auch in der uns Menschen innenwohnenden Furcht vor dem ganz Anderen. Um dieser Angst Herr zu werden, haben sich traditionell zwei Handlungsmuster angeboten: Entweder das Fremde gesellschaftlich einzugliedern, also dem Eigenen anzupassen, sich vertraut zu machen und ihm damit das Erschreckende zu nehmen, oder aber es auszugrenzen und gesellschaftlich außen vor zu lassen. Durch Entdeckungsreisen wurde die Welt immer kleiner und bekannter, bis schließlich die letzten weißen Flecken von den Landkarten verschwunden waren. Damit war das Fremde zwar nicht mehr ganz so exotisch, hatte aber seine Bedrohlichkeit nicht verloren. Die Problematik wurde in einen neuen Kontext gestellt. Zum einen war die Begegnung mit dem Anderen nicht mehr nur wenigen vorbehalten, sondern wurde zunehmend eine Erfahrung, die viele Menschen machten. In der wissenschaftlichen Diskussion taucht hierfür der Begriff des nahen Fremden auf. Als nahe Fremde wurden seit der Jahrhundertwende zunehmend auch Menschen begriffen, die zwar in der gleichen Gesellschaft lebten, aber als anders wahrgenommen wurden: Sinti und Roma, Juden, Homosexuelle, um nur einige Beispiele zu nennen. Dass die Angst vor ihrem Anderssein gerade in Deutschland katastrophale Folgen hatte, braucht kaum eigens erwähnt zu werden.
Die Psychologen entdeckten, dass das Unbehagen im Umgang mit dem Fremden untrennbar mit den verdrängten und unbewussten Anteilen der eigenen Seele verbunden ist. Sie lehren uns einen Fremdheitsbegriff, der sich nicht nur auf das äußere Fremde bezieht. Das Unbewusste in uns, die eigene Psyche wurde unversehens zu einem unentdeckten Kontinent in uns, der angstauslösend und befremdlich daherkommen kann. 

Ambivalenz und eigenes Leben. Woher kommt nun diese erstaunliche Ambivalenz des Gefühls - Faszination und Erschrecken - mit der wir Menschen dem Fremden begegnen?
Was uns ganz und gar unvertraut ist, kann uns faszinieren, ebenso aber auch in Schrecken versetzen, so schreibt Rolf-Peter Janz in dem Vorwort seines Buches über Faszination und Schrecken des Fremden, und beide Erfahrungen liegen dicht beieinander.
Wenn man sich einmal vor Augen hält, was der Begriff des Fremden aussagt, kann man dieser Zwiespältigkeit vielleicht ein wenig auf die Spur kommen.
Der Begriff des Fremden ist ein Begriff, der für sich genommen, noch nichts aussagt. Das Fremde an sich gibt es nicht. Was den einen fremd erscheint, ist anderen vertraut, und was ihnen bekannt vorkommt, das erfahren die anderen als fremd und unbekannt. Wissenschaftler sprechen daher von einem Beziehungsbegriff, der seine Bedeutung erst dadurch erlangt, dass derjenige, der ihn benutzt, gleichzeitig immer auch sich selbst dabei im Blick hat. Nur von seinem eigenen Standpunkt, seinen Erfahrungen und seiner Lebenseinstellung her gesehen, kann ihm etwas als fremd erscheinen. Ob nun angstauslösend oder faszinierend, immer bedenkt der Mensch unbewusst sein eigenes Leben mit und setzt es so in Beziehung zum Fremd-Erlebten. Kein Wunder also, dass das Fremde auf dem Hintergrund des Vertrauten eine gute Möglichkeit ist, alle eigenen Ängste, Vorurteile, aber auch Sehnsüchte und Hoffnungen hineinzulegen. Das Fremde ist uns so unversehens und ohne es bewusst zu merken erstaunlich nahe. Die Faszination, die von ihm ausgeht, wäre dann gleichsam ein Hinweis darauf, dass der Mensch spürt, wie viele ungeahnte Möglichkeiten des Lebens er in sich selbst trägt, und die Angst vor dem Fremden eine Ahnung von der Möglichkeit, dass das eigene Leben scheitern kann.

Propheten prangern Fremdes an. Ein biblisches Beispiel für die Ambivalenz im Hinblick auf Fremdes findet sich in der alttestamentlichen Prophetenkritik. Die Propheten prangerten den Abfall des alten Israels vom Jahwe-Glauben an, indem sie ihm vorwerfen, den Baalskult zu betreiben.
Offensichtlich hatten die Fruchtbarkeitsriten der Kanaaniter, die gemeinsam mit den Israeliten das Land besiedelten, eine starke Versuchung und Anziehungskraft auf Israel ausgeübt, was nicht verwundert, da das Volk natürlich immer wieder auch von Dürreperioden heimgesucht wurde. So entstand auch in Israel eine Verehrung des Baal, eine Adaption von religiösen Vorstellungen, der die Propheten vehement entgegentraten. Für sie war die Teilnahme an kultischen Handlungen, die die Vereinigung des männlichen Baals-Gottes mit Mutter Erde im Nachahmungskult zu befördern suchten, unvereinbar mit dem Glauben an Jahwe. Sich auf diese fremden Kulte einzulassen bedeutete daher, die Identität Israels und damit seine Existenz aufs Spiel zu setzen. So mussten die Propheten das Fremde abwehren, um den Jahwe-Glauben zu bewahren, und sie taten dies mit durchaus drastischen Worten.

 Biblische Gastfreundschaft. Es wäre allerdings verkehrt anzunehmen, dass im Alten Testament alles Fremde durchgängig als schlecht und zu bekämpfen angesehen wird. Erst recht die Frage, wie man einem Fremden im eigenen Land zu begegnen hat, wird eindeutig anders beantwortet:
So heißt es im Buch Exodus: Einen Fremden sollst du nicht ausbeuten. Ihr wisst doch, wie es einem Fremden zumute ist; denn ihr selbst seid in Ägypten Fremde gewesen. Der Verfasser dieser Zeilen begründet das Gebot der Gastfreundschaft mit den eigenen Erfahrungen der Menschen. In Ägypten als Fremde gelebt zu haben, in der Knechtschaft, wie es an anderer Stelle heißt, diese Erinnerung soll die Menschen davor bewahren, selbst ungerecht und menschenverachtend zu handeln. Die Verknüpfung von eigenem Fremdsein und dem Erleben der Fremden in der eigenen Heimat zeigt auch, dass schon die Bibel um die Relativität des Fremd-Begriffs wusste. Jeder kann zum Fremden werden, und biblisch gesehen ist damit sicher auch immer das Bild des Ausgeliefertseins, der Hilf- und Rechtlosigkeit in der Fremde verbunden.

Liebet die Fremden! Über das Gebot, den Fremden nicht auszubeuten, geht die Forderung Gottes im Buch Deuteronomium noch hinaus: Er (der Herr) liebt die Fremden und gibt ihnen Nahrung und Kleidung - auch ihr sollt die Fremden lieben, denn ihr seid Fremde in Ägypten gewesen. Hier bringt Gott selbst sich mit ins Spiel. In seiner Liebe macht er keinen Unterschied zwischen Nächsten und Fernen, Vertrauten und Fremden. Er nivelliert die menschlichen Erfahrungen nicht, das Fremde bleibt fremd, aber hier zeigt sich dann der wesentliche Unterschied: Gott verlangt, dass die Menschen auch im Fremden den Mitmenschen erkennen, ihn achten als Geschöpf Gottes, das nicht weniger von seiner Liebe gehalten ist. Wenn man bedenkt, wie viel Angst und Aggression es im Umgang mit Fremden auf der einen Seite gibt und auf der anderen Seite den manchmal fast naiv anmutenden Versuch, kulturelle Unterschiede zu verwischen, um sich gar nicht erst mit dem Fremden auseinander setzen zu müssen, dann scheint dieser biblische Text geradezu wohl tuend in seiner Perspektive: Das Fremde muss nicht bekämpft werden, sondern darf und kann in seiner Andersartigkeit angenommen werden – weil Gott es selbst liebt und angenommen hat.

Christus in allen. In diesem Sinne kann auch der Kolosser-Brief die Christen ermutigen: ...Ihr habt den alten Menschen mit seinen Taten abgelegt und seid zu einem neuen Menschen geworden, der nach dem Bild des Schöpfers erneuert wird, um ihn zu erkennen. Wo das geschieht, gibt es nicht mehr Griechen oder Juden, Beschnittene oder Unbeschnittene, Fremde, Skythen, Sklaven oder Freie, sondern Christus ist alles und in allen. Der Glaube an Gott und Jesus Christus kann die Menschen von der unseligen Angst vor dem Anderen befreien, weil er in jedem Menschen Christus selbst erkennen kann. Es bleibt schlicht die Faszination, in wie vielen Spielarten menschlichen Lebens Gott sich ausdrücken kann, der für uns Menschen, um es mit dem Theologen Paul Tillich zu sagen, selbst der Absolut Fremde ist und bleibt.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016