Die Lossagung vom leiblichen Vater

14. September 2007 | von

In der Oberkirche der Franziskusbasilika in Assisi gibt es ein bekanntes Fresko, das dem Betrachter sofort in die Augen sticht, wenn er den Zyklus mit den 28 Bildern von Giotto und seiner Schule über das Leben des heiligen Franz betrachtet. Es ist das fünfte von vorne rechts und befindet sich ziemlich genau in der Mitte des Kirchenschiffes. Das Bild fällt durch seine besondere Komposition auf. Da stehen sich zwei Parteien mit unterschiedlichen Positionen gegenüber, die durch eine gähnende Leere getrennt sind. Vom Betrachter aus gesehen rechts sehen wir den jungen Franziskus, wie er ruhig und würdig dasteht, nackt und unbekümmert, seine Augen und Hände nach oben erhoben. Nur der Mantel des Bischofs verdeckt seine Blöße. Eine kleine Gruppe Kleriker umgibt die beiden.

Der Entschlossene. Dem Franziskus gegenüber steht sein leiblicher Vater, umgeben von einer größeren Gruppe Mitbürger. Auf seinem linken Arm hält er die Kleider seines Sohnes fest an sich gedrückt, in raffgieriger Haltung. Sein rechter Arm ist ausgestreckt zum Schlag, wird aber von einem der Mitbürger zurückgehalten. Sein Gesicht drückt Wut und Enttäuschung, Unverständnis und Verbitterung aus.

Dass es sich um eine Rechtsprechung handelt, deutet der Maler durch die Hand Gottes an, die oberhalb der linken, vom Vater Bernardone angeführten Gruppe erscheint. Sie zeigt auf Franz, als wollte Gott ihm sagen: „Du hast Recht; dein Entscheid ist gut für dich." Den Text zu diesem Bild finden wir bei verschiedenen Autoren.

Bei Thomas von Celano, einem der ersten und auch gut dokumentierten Biographen des heiligen Franz, lautet er wie folgt: „Darauf schleppte er (der Vater) ihn (Franz) vor den Bischof der Stadt, damit er in dessen Hände auf sein ganzes Vermögen verzichte und alles zurückgebe, was er habe. Dem stimmte Franziskus nicht nur freudig zu, vielmehr beeilte er sich voll Freude, die Forderung mit bereitwilligem Herzen zu erfüllen. Vor den Bischof geführt, duldete er weder Aufschub noch irgendeine Verzögerung; ja, nicht einmal Worte wartete er ab, noch sprach er solche, sondern legte sofort all seine Kleider ab, warf sie hin und gab sie dem Vater zurück. Nicht einmal die Hose behielt er zurück, vollständig entblößte er sich angesichts aller. Als aber der Bischof seine Entschlossenheit bemerkte, erhob er sich allsogleich voll hoher Bewunderung für seinen glühenden Eifer und seine Standhaftigkeit, schloss ihn in seine Arme und bedeckte ihn mit dem Mantel, den er trug. Klar sah er ein, dass der Entschluss von Gott komme, und er erkannte, dass das Tun des Mannes Gottes, das er mit eigenen Augen gesehen, ein Geheimnis in sich berge. Daher wurde er von nun an sein Beschützer und Gönner, der ihn ermutigte und mit innigster Liebe umfing. Siehe, jetzt ist es so weit, dass er nackt mit dem Nackten ringt, alles von sich wirft, was der Welt ist, und einzig und allein an die göttliche Gerechtigkeit denkt."

Der Suchende. Wann und wo genau sich diese Szene abspielte, ist nicht mit Sicherheit bewiesen. Wahrscheinlich fand sie vor dem Haus des Bischofs statt, vor der ehemaligen Kathedrale Maria Maggiore. Durchaus denkbar ist auch, dass der Vater diesen Entscheid vor den Augen aller auf dem Rathausplatz, der piazza del comune, herbeiführen wollte, unweit von seinem Haus und seinem Tuchladen entfernt. Das ist aber im Grunde genommen völlig unwichtig, wie auch das genaue Datum nicht von Bedeutung ist. Wahrscheinlich fand diese Begegnung zwischen Vater und Sohn im Jahr 1206 statt.

Franz war ein sensibler junger Mann, offen für das Leben mit seinen vielfältigen Möglichkeiten. Und er hat das Leben mit seinen Freunden in vollen Zügen genossen. Die Krankheit und die Gefangenschaft haben ihn wohl gezwungen, etwas tiefer über das menschliche Dasein und dessen Sinn nachzudenken. Als er wieder in Assisi war, finden wir einen nachdenklicheren, suchenden Franz vor. Einerseits stellte er viele Fragen an die Gesellschaft mit ihren Werten und andererseits blieb ihm das Elend der armen und entrechteten Bevölkerung nicht verborgen. Diese Ungerechtigkeit bewog ihn, nach einem Leben zu suchen, das mehr hergab als nur Macht und Ansehen, Karriere und Besitz. Der Umbruch in der damaligen Gesellschaft, das langsame Ende der Feudalherrschaft und das Aufkommen des neuen Bürgertums in den Städten trugen zu diesem Suchen bei. Auch der Zustand der Kirche und die neuen kirchlichen Armutsbewegungen waren nicht ohne Einfluss auf ihn. Er befasste sich vermehrt mit der Lehre Christi. Ich bin überzeugt, dass er die Bibel nicht nur einmal las, sondern sie fast auswendig kannte. Wenn wir seine Schriften lesen, merken wir, wie er ihre Worte frei zitieren konnte. Seine erste Regel für die Brüder war praktisch nur eine Sammlung verschiedener Bibelzitate.

Der Konsequente. Was da 1206 auf einem öffentlichen Platz in Assisi geschah, war für Franziskus die logische Konsequenz seiner inneren Haltung. Der Biograph erläutert es klar. Franz entschied sich radikal und ganz für die Haltung Christi. Nur unter diesem Blickpunkt können wir ihn und seine Lebensweise verstehen. Er wollte Christus nachfolgen, nahm ihn zum Vorbild, in äußerst einfacher Weise, buchstäblich bis ins Detail. Das macht ihn einerseits so sympathisch, andererseits aber auch etwas wirklichkeitsfremd. Ich denke konkret an die Armutsfrage, um die es auf dem genannten Bild besonders geht. Franziskus hat den Text aus dem Philipperbrief vor Augen, wo steht: „Denkt immer daran, was Jesus Christus für einen Maßstab gesetzt hat. Er war wie Gott. Aber er betrachtete diesen Vorzug nicht als unaufgebbaren Besitz. Aus freiem Entschluss gab er alles auf und wurde wie ein Sklave. Er kam als Mensch in die Welt und lebte wie ein Mensch" (Phil 2,5-7). Alles gab Jesus auf, sogar seine Gottheit, um den Menschen nahe zu sein. Er wollte diese Gottheit nicht als Besitz für sich behalten.

Diesen konsequenten Verzicht auf alles hat Franziskus vor Augen gehabt, als er nach einem Weg für sein persönliches Leben suchte und seinem Vater alles zurückgab, auch die Kleider; nichts mehr wollte er für sich behalten. Und der Vergleich mit Christus liegt auf der Hand. Dazu kommt noch etwas Anderes. Im Philipperbrief steht, dass Christus als Mensch in die Welt kam und wie ein Mensch lebte. Und er wurde nicht in einem Palast geboren, sondern im Stall, in Armut. Die Menschen, und zwar alle Menschen, sind für Christus gleich wichtig. So muss Franz konsequenterweise alle Menschen als Schwestern und Brüder ansehen, nicht nur die reichen Mitbürger seiner Oberschicht. Er traf die Wahl der totalen Armut, um auch dem ärmsten Menschen noch in die Augen schauen zu können, der genauso ein von Gott geliebtes Kind ist wie er selber. Diese Gleichheit aller Menschen lässt ihn auch Räuber und Diebe als Brüder ansehen, genauso wie den Bischof und den Papst.

Der Überzeugende. Eine solch konsequente Haltung hat Folgen für den Betroffenen und seine Umgebung. Sein neues Leben stößt bei den mei-sten Bewohnern der Stadt zuerst einmal auf Widerstand und Ablehnung. Der reiche Kaufmannssohn zieht im Kleid der ärmsten Knechte umher, lebt nur von den zusammengebettelten Esswaren, die er unter vielen Demütigungen bei den einst Seinesgleichen erbittet. Unverständnis und Beschimpfungen sind die Folgen. Er aber lässt sich nicht entmutigen, weil er sich auf dem richtigen Weg weiß, denn er wird am Ende des Lebens in seinem Testament schreiben: „So hat der Herr mir, dem Bruder Franziskus, gegeben, das Leben der Buße zu beginnen." Diesen Ausdruck „der Herr hat mir gegeben", „der Herr hat mir gezeigt", finden wir noch mehrmals in seinem Testament. Er zeigt deutlich, wie Franziskus sich voll und ganz im Einklang mit dem Willen Gottes wusste, ja sich nahezu gesandt sah, dieses Leben der Armut und der Einfachheit zu führen. Nur so fand er seinen inneren Frieden.

Das konnte auf die Dauer nicht verborgen bleiben. Es stimmte einige Leute nachdenklich und lud sie ein, ihr Leben und die Werte der aufkommenden Gesellschaft zu hinterfragen und für sich Entscheide zu treffen. So kamen sie zu Franziskus und baten darum, seine Lebensweise mit ihm teilen zu dürfen. Es war nie seine Absicht gewesen, einen Orden zu gründen. Aber durch sein überzeugendes Leben nach den Werten des Evangeliums steckte er andere an. In Kürze hatte er einige Jünger und 1209 pilgerte er nach Rom zu Papst Innozenz III., um ihn um Erlaubnis zu fragen, in Armut das Evangelium leben zu dürfen. Mündlich bestätigte ihm der Papst diese Absicht.

Dass er diese Erlaubnis erhielt, beweist, dass er einflussreiche Kleriker in der Kirche von der Echtheit seines Lebens überzeugt hatte. Wir wissen, dass der Bischof von Assisi dazu gehörte, ebenso der Bischof von Ostia, Kardinal Hugolin, Graf von Segni, der später als Papst Gregor IX. die Kirche leitete.

Würdevoller Umgang. Es ist erstaunlich, wie es Franz gelungen ist, für seine radikale Art und Weise, die Armut zu leben, den Segen der Kirche erhalten zu haben. Das Testament gibt einen Hinweis. Da sagt Franz deutlich, dass er die Autorität der Kirche anerkennt. Dazu hat er eine große Achtung vor den Priestern und übte nie negative Kritik an der Kirche, obwohl er dazu entsprechend Grund gehabt hätte. Aber die Achtung vor jedem Menschen und die Einsicht, welche Rolle die Kirche für das Heil der Menschen bedeutet, erlaubten eine Maßregelung der Vertreter der Kirche nicht. Das war gegen seine Überzeugung, denn er begegnete jedem Menschen, auch dem größten Sünder, mit Respekt und Achtung. Außerdem war Franz nicht stur, kein engstirniger Fanatiker. Er hat in vielen Bereichen seine Regel der Wirklichkeit und den erforderlichen Umständen angepasst und nicht seine eigene Vorstellung mit Gewalt durchsetzen wollen. Der Mensch und seine Würde waren ihm wichtiger als das Gesetz. Diese Flexibilität und die Einsicht, dass jeder Mensch auf seine persönliche Weise den Lebensweg finden muss, schützten ihn vor Fundamentalismus und übertriebenem Eifer. Er kannte kein elitäres Denken, das meistens ein Zeichen einer sektiererischen Haltung ist. Denn er sah ein, dass er seine Überzeugung für sich leben muss und ließ die Überzeugung der anderen gelten. Diese Haltung, sein integres Leben und die positiven Auswirkungen der neuen Gemeinschaft überzeugten auch die Vertreter der Kirche, die ihm drei Jahre vor dem Tod seine mehrmals abgeänderte Regel bestätigten.

Dass der Orden nach einer Schätzung beim Tod des heiligen Franz rund 15.000 Mitglieder hatte, ist für die damaligen Verhältnisse einzigartig. Auch die junge Klara aus dem adeligen Haus der Offreducci erkannte seine Ideale, besonders das Ideal zur radikalen Armut, als ihren Lebensinhalt und wurde zur Gründerin der Klarissen. Möglicherweise erlebte sie als 16-Jährige die große Wende des jungen Franz in der Auseinandersetzung mit seinem Vater. Da soll Franz aus voller Überzeugung gesagt haben: „Ich sage jetzt nicht mehr ‚Vater Pietro Bernardone’, ich sage nur noch ‚Vater, Du, im Himmel’."

Der Großzügige. Eine Frage bleibt bei der großen Wende im Leben des jungen Franz von Assisi. Warum bemühte er sich so stark um das Leben in Armut? War es nur eine Reaktion zum Reichtum, ja möglicherweise zur Habgier seines Vaters? Also ein Konflikt der Generationen? Das allein kann es wohl nicht sein, denn so etwas hält man nicht das ganze Leben durch. Wir haben schon erwähnt, dass sich Franz stark mit dem Leben Jesu auseinandersetzte und in dessen Nachfolge den Sinn des Lebens suchte. Das ist bestimmt einer der Hauptgründe für die Wahl der Armut. Allerdings zeigt uns die Bibel, dass Jesus im Alltag kaum so arm lebte, wie das Franziskus nach seiner geistigen Wende tat. Denn als Rabbi haben ihn und seine Jünger viele Leute, besonders Frauen unterstützt. Natürlich ging es Franz mehr noch um die geistige Armut, den Verzicht Jesu auf seine Gottheit und das Leben als Mensch unter uns Menschen. Diese Solidarität mit den Armen ist wohl der eigentliche Beweggrund seiner neuen Lebensweise. Es geht um die Einsicht der Menschlichkeit, der Gleichheit und der Gerechtigkeit für alle, wie wir sie in der Bibel finden. Die Erzählung, dass Franz einmal sogar die Bibel verschenkte, um der armen Mutter eines Bruders und ihrer Familie zu helfen, die einzige Bibel, die er und seine Brüder besaßen, weist darauf hin. Franz soll gesagt haben: „Es ist besser, wir setzen die Forderung der Bibel in die Tat um, als dass wir darin nur lesen."

Ist es nicht ein klarer Hinweis auf seine Großzügigkeit, die wir überall in seinem Leben antreffen? Großzügig im Denken, großzügig in der Liebe, großzügig im Handeln. Diese weite, offene Sicht für die anderen und deren Not lässt ihn verzichten auf das bequeme Leben des reichen Mannes. Er will nicht nur seinen ganzen Besitz mit den Armen teilen, er will sein Leben mit ihnen teilen und er tut es in einer Großherzigkeit und Liebe, die ihresgleichen kaum findet.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016