Die Stimme eines Kindes aus unmenschlicher Zeit

17. Mai 2004 | von

Die Geschichte der Anne Frank ist weltweit bekannt geworden durch ihr Tagebuch – ein ergreifendes Dokument über das Seelenleben eines sensiblen Mädchens und das Schicksal einer von den Nationalsozialisten verfolgten Familie. Vor 75 Jahren wurde die Verfasserin in Frankfurt am Main geboren.

“Aus dem Fenster schauen oder hinaussehen dürfen wir natürlich nie. Auch müssen wir leise sein, denn unten dürfen sie uns nicht hören.“ Diese zwei Sätze vertraute die 13-jährige Anne Frank am 8. Juli 1942 ihrem Tagebuch an – und sie verraten schon einiges von der beklemmenden Situation, in der das jüdische Mädchen damals leben musste.
Welch ein Schock muss für die Heranwachsende das Leben im Untergrund gewesen sein und welch ein Kontrast zur Zeit davor. Was damals in ihr vorging, zeichnete Anne Frank in ihrem Tagebuch auf. Für uns Nachgeborene die Stimme eines Kindes aus unmenschlicher Zeit.

Tochter eines jüdischen Bankiers. Annelies Marie, kurz Anne, kam am 12. Juni 1929 als Tochter des wohlhabenden jüdischen Kaufmanns Otto Heinrich und seiner jüdischen Frau Edith (geb. Holländer) in Frankfurt am Main zur Welt. Sie erblickte das Licht der Welt in einer unruhigen Zeit. Vier Monate später kam es zum berüchtigten Börsenkrach an der Wall Street, der Umsatz des kleinen väterlichen Bankhauses stürzte infolgedessen um 90 Prozent ab. Otto Frank war wirtschaftlich angeschlagen.
Am 30. Januar 1933 ernannte der greise Reichspräsident Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Kanzler des Deutschen Reiches. Bereits am 11. März 1933 vertrieben braune Horden den jüdischen Oberbürgermeister Frankfurts aus Amt und Stadt. Zwei Tage später wehte die Hakenkreuzfahne auch über dem Römer. Otto Frank, der sich seit dem ersten Erscheinen der Braunhemden auf Frankfurts Straßen mit Auswanderungsplänen trug, machte nun Nägel mit Köpfen. Seine Wahl fiel auf Amsterdam.

Jugendträume in Amsterdam. Am 16. August 1933 meldete sich Frank dort an. Er wohnte zunächst allein in Untermiete, ab Dezember bezog er mit seiner Familie das zweite Stockwerk des Hauses Merwedeplein 37 in der “Rivierenbuurt“, einem Neubauviertel im Süden Amsterdams. Nach und nach ließen sich dort weitere jüdische Flüchtlinge aus dem Reich nieder, bis zum Einmarsch der Deutschen Wehrmacht in die Niederlande am 10. Mai 1940 war ihre Zahl auf rund 18.000 angewachsen.
Bis dato verlief das Leben der Familie im Exil in relativ geordneten Bahnen. Vater Otto verdiente seinen Lebensunterhalt als Vertreter für ein Geliermittel, die beiden Mädchen gingen zur Schule, lediglich Edith Frank haderte mit ihrem Schicksal und trauerte ihrer Frankfurter Zeit nach. Anne und ihre ältere Schwester Margot lernten schnell Holländisch und schlossen Freundschaften mit jüdischen und nicht jüdischen Kindern. Anne war ein extrovertiertes Mädchen. Zu Hause, bei Tisch, redete sie wie ein Wasserfall. Sie liebte, so ihre Freundin Hannah später, “Geheimnisse und Schwätzen“. Wie viele ihrer Alterskolleginnen, sammelte sie leidenschaftlich Fotos von Filmschauspielern oder Angehörigen des englischen und holländischen Königshauses. In jenen Tagen begann Anne, die einmal Journalistin werden wollte, mit ihren Aufzeichnungen. Von da an vertraute sie sich zunächst fliegenden Blättern, ab ihrem 13. Geburtstag einem richtigen Tagebuch an, das ihr Vater ihr zum Geburtstag geschenkt hatte.
Zu Ihrem Vater hatte Anne ein äußerst inniges Verhältnis, das zu der zurückhaltenden Margot war nicht zuletzt von deren Eifersucht auf die quirlige und weltoffene jüngere Schwester geprägt, die die Herzen ihrer Umgebung meist im Sturm eroberte. Zu ihrer Mutter hatte Anne ein angespanntes Verhältnis. Es veränderte sich in Gleichgültigkeit während der Zeit im Versteck.

Isoliert im Untergrund. Dieses hatte Otto Frank im Sommer 1941 nach und nach im Hinterhaus der Prinsengracht 263 eingerichtet. Die Zeichen der Zeit und die Judendeportationen gen Osten richtig deutend, bereitete er sich auf ein Leben im Untergrund vor. Am 5. Juli 1942 erhielt Margot die Einberufung zum “Arbeitsdienst nach Deutschland“. Otto Frank beschloss, samt seinen Lieben unterzutauchen. Für gut zwei Jahre wurde das erste Stockwerk des Hinterhauses zum Versteck.
Versorgt wurde die Familie, zu der später noch Hermann, Auguste und Peter van Pels sowie Fritz Pfeffer stießen, von vertrauenswürdigen Mitarbeitern Otto Franks, die in dessen Büro im Vorderhaus arbeiteten. Miep Gies, Johannes Kleiman, Victor Kugler und Bep Voskuijl brachten sich durch diese Hilfe selbst in Lebensgefahr; Juden zu helfen, ahndeten die Besatzer mit drakonischen Strafen.
 
Ergreifendes Dokument. Der Alltag im Versteck bedeutete zuallererst, nicht aufzufallen. Die Fenster wurden verhängt, die Eingeschlossenen mussten sich flüsternd unterhalten und auf Zehenspitzen gehen. Wenn im Vorderhaus und im Lager unterhalb ihres Refugiums gearbeitet wurde, war selbst das Benutzen der Toilette tabu.
Sieben Menschen auf engstem Raum, ohne Rückzugsmöglichkeit, angewiesen auf Unterstützung und in Lebensgefahr. Das Tagebuch wurde Anne Frank zum engsten Vertrauten. In ihm schrieb sie ihre Empfindungen nieder. Todesangst oder aufkeimende Liebe zu Peter Pels, sexuelles Erwachen, Frauwerdung oder Pläne für die Zeit nach der Befreiung, Freud und Leid, Beobachtungen über ihre Leidensgenossen, frohe oder traurige Botschaften aus dem Radio, scharfsinnige Analysen ebenso wie Jungmädchenträume. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Verraten und ermordet. Am 4. August 1944 drangen die Häscher in das Versteck ein. Wer die Untergetauchten verraten hatte, konnte bis heute nicht geklärt werden.
Am 3. September 1944 wurden Otto, Edith, Margot und Anne Frank, Hermann, Auguste und Peter van Pels sowie Fritz Pfeffer mit dem letzten Transport vom Durchgangslager Westerbork nach Auschwitz deportiert. Anne und Margot Frank wurden bald darauf weiter nach Bergen-Belsen verschleppt. Dort starben die beiden Schwestern, vermutlich um den März 1945, wenige Wochen vor der Befreiung des Konzentrationslagers. Ihre Mutter war ihnen bereits am 6. Januar 1945 in Birkenau in den Tod voraus gegangen.
Von den sieben Eingeschlossenen überlebte Otto Frank als Einziger das Inferno. Er sorgte für die Veröffentlichung des Tagebuchs seiner ermordeten Tochter, das Miep Gies über den Krieg gerettet hatte. Er starb am 19. August 1980.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016