Die Stunde ist gekommen

01. Januar 1900

 

Jesus betet in Todesangst: Vater, wenn du willst, nimm

diesen Kelch von mir! Petrus, Johannes und Jakobus, die drei Jünger, die

Jesus mitgenommen hatte, wachen nicht und beten nicht - sie schlafen. In der

Ferne naht Judas, im Gefolge die Soldaten und Gerichtsdiener. Die beiden

Maler Giovanni Bellini und Andrea Mantegna haben das selbe Thema

künstlerisch gestaltet. Beim Vergleich fällt auf, dass sie ihre Bilder ganz

ähnlich aufgebaut haben, denn sie griffen auf dieselbe Skizze ihres Vaters

und Schwiegervaters Jacopo Bellini zurück. Aber die Stimmung ist

grundverschieden.

Bei Mantegna drückt die Angst. Alles ist fest, felsig und schwer: das

schroff gefaltete dunkle Gewand Jesu, sogar die Wolken und die Engel, die

die Leidenswerkzeuge tragen - die Säule, an der Jesus gegeißelt, das Kreuz,

an das er geheftet, der aufgespießte Schwamm, mit dem er mit Essig getränkt,

die Lanze, mit der sein Herz durchbohrt werden wird. Hart und klar wirken

die Stadt Jerusalem, die Soldaten, die Tiere und Pflanzen.

Sanfter ist der Eindruck bei Bellini, sanft das Tal, die Windungen des

Flusses, die Hügel, sanft das Licht. Bei Mantegna gehört Jesus ganz der Erde

an - das Haupt ist noch von einer bewaldeten Bergkuppe hinterfangen. Auch

bei Bellini lastet der Körper Jesu schwer auf dem Felsen, während Jesus, von

uns abgewandt, im verlorenen Profil, angstvoll betet: Abba, Vater, alles

ist dir möglich. Nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht, was ich will,

sondern was du willst, soll geschehen.

 

Doch im Gebet scheint Jesus zu entrücken. Der Anstieg, auf dem er

kniet, ist wie eine Schanze, die emporträgt. Goldenes, göttliches Licht

umfängt das Haupt Jesu und macht den sonst üblichen Heiligenschein

überflüssig. Der leichte Himmel zieht ihn nach oben wie die schwerelos

gleitenden Wolken. Am Himmel erscheint ein Engel, gemäß dem Bericht von

Lukas, um Jesus neue Kraft zu geben. Sein Körper ist nur aus

durchscheinendem Licht gebildet. Er trägt den Kelch.

 

Auch die Zeichen des Todes sind unübersehbar. Jesus und die Jünger lagern

auf nacktem Boden, außerhalb des grünenden Gartens, dessen Tür so einladend

offen steht. Ist das eine Anspielung auf den Paradiesgarten, der durch das

Opfer Jesu wieder offen steht? Der Fels, auf den Jesus sich stützt, ist wie

zu einem Altar aufgeschichtet. Jenseits des Baches Kidron, der das Tal

teilt, ragt ein kahler Baum kerzengerade auf wie der Stamm des Kreuzes. Und

schon nahen die Soldaten mit Schilden und Lanzen. Der beginnende Morgen ist

ausdrücklich von der Abendseite beleuchtet: die Gewänder, Jesu Füße, von

denen deutliche Schatten ausgehen, die helle Siedlung auf dem Hügel. Der

neue Tag bringt Jesus den Lebensabend.

 

Was ist eigentlich Jerusalem? Die Stadt im gleißenden Licht, die

Siedlung im Tal oder die Maueranlage unter dem Engel mit dem Turm, die im

Schatten liegt? Bei Mantegna gibt es da keine Zweifel. Er hat ein stolzes

Jerusalem gemalt, das breit den Berg Zion umgürtet. Die rosa Stadtmauern

entsprechen der damaligen Maltradition. Unter die mittelalterlichen Paläste

und Turmhäuser mischen sich Renaissancebauten und Türme, die mit dem

Halbmond bekrönt sind - er steht für die Juden und Römer. Als römische

Relikte finden sich hinter Jesus ein Amphitheater und eine Triumphsäule,

darauf ein Reiterstandbild. Dem äußersten Stadttor entströmt ein nicht enden

wollender Zug von Menschen, die Judas folgen. Stellt sich ganz Jerusalem

Jesus entgegen?

 

Gleich wird Jesus zu seinen Jüngern gehen: Schlaft ihr immer noch und ruht

euch aus? Es ist genug. Die Stunde ist gekommen; jetzt wird der Menschensohn

den Sündern ausgeliefert. Steht auf, wir wollen gehen! Seht, der Verräter,

der mich ausliefert, ist da.

 

 

 

 

 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016