Dort, wo alles begann

27. Januar 2004 | von

Sich mit dem Umfeld Jesu vertraut machen, hilft sein Leben und Wirken besser zu verstehen. In einer neuen Serie (s. Kasten) beschreibt unser Autor die politischen, sozialen, wirtschaftlichen, geographischen und kulturellen Gegebenheiten, die vor 2000 Jahren den Alltag in Palästina bestimmten. Im Blickpunkt der ersten Folge: Jesu Heimat Galiläa.

Nach dem Zeugnis der Evangelien war Galiläa das bevorzugte Gebiet des Wirkens Jesu. Wahrscheinlich hat  Jeshua  ben  Joseph bis zum Beginn seines messianischen Wirkens (das nicht länger als zwei Jahre währte) in Nazaret als Handwerker gelebt und gearbeitet. Trotzdem wird Kafarnaum am See Gennesaret seine Heimstadt genannt. Hier hat er im Familienverband des Simon Petrus und seiner ersten Jünger gewohnt. Hier begann seine Mission. Galiläas Kleinstädte und Dörfer und das angrenzende heidnische Gebiet der Dekapolis (östlich des Sees) waren die Orte seines Wirkens.

Ausgangspunkt. Die Evangelien berichten darüber hinaus von den Wallfahrten, die Jesus mit den Jüngern nach Jerusalem unternahm, um zu den großen Festen den Tempel zu besuchen. Das hat bei vielen den verzerrten Eindruck erweckt, Jesu hätte in Samaria, Judäa und Jerusalem genauso gewirkt wie in seiner Heimat Galiläa.
Das Auftreten des Propheten aus Nazaret hat „Wellen geschlagen“, vom See Gennesaret über das Mittelmeer und rund um die Welt. Ausgangspunkt für diesen „Wellenschlag“ war seine Heimat Galiläa im Norden des heutigen Israel, das heute noch zu den schönsten Landschaften des Nahen Ostens gehört. Diese Heimat, die Jesu Leben und Botschaft auch geprägt hat, wollen wir in unser Blickfeld nehmen.
Der Evangelist Matthäus zeigt ein besonderes Interesse für Jesu messianisches Wirken in Galiläa. Die Geographie wird in die Verkündigung einbezogen und heilsgeschichtlich gedeutet. Matthäus wird uns die Deutung dafür geben, warum nicht Jerusalem, sondern die Provinz, die den „Rechtgläubigen“ suspekt war, von Gott auserwählt wurde.

Bespöttelte Herkunft. „Kann denn aus Nazaret etwas Gutes kommen?“ (Joh 1,46) – So fragt Natanel seinen Meister, den Täufer Johannes, als dieser ihn zu Jesus „dem Größeren“ hinführt.
Völlig negativ urteilt der Hohe Rat in Jerusalem, um den Ratsherrn Nikodemus, der sich für Jesus einsetzte, zu überzeugen: „Sie erwiderten ihm: Bist du vielleicht auch aus Galiläa? Lies doch nach: Der Prophet kommt nicht aus Galiläa.“ (Joh 7,52). Auch nichtbiblische Quellen bestätigen das. In den ersten siebzig Jahren unserer Zeitrechnung lässt sich in Galiläa gerade ein einziger Gesetzeslehrer namentlich ausfindig machen: Rabbi Nittaj aus Arbel.
Auch die Sprache der Galiläer, ihre charakteristische Aussprache des Aramäischen, fiel überall auf, und wurde wahrscheinlich als „Bauerndialekt“ abfällig beurteilt: Petrus erkannten die Jerusalemer Bediensteten im Vorhof des Hohenpriesters an seiner Sprache: „Du bist doch auch ein Galiläer!“  Übrigens verstand er auch zu fluchen wie ein Galiläer. (vgl. Mt 26,73f).

Geschichte des Galil. Der Name Galiläa leitet sich aus dem hebräischen Wort galil (Land-Kreis) ab. In den Jahren 734/33 v. Chr. wurde das Nordreich Israel durch den assyrischen Herrscher Tiglatpileser erobert und dem assyrischen Großreich einverleibt. Danach kam es zu einer Vermischung religiös-ethnischer Gruppen (2Kg 15,29). Juden wurden deportiert und Nichtjuden aus verschiedenen Regionen des assyrischen Reiches in Galiläa und Samaria angesiedelt. Damals sprach man vom „Galil der Heiden“ (vgl. Jes 8,23).
Im Zeitalter der Makkabäer wohnten hier nur wenige Juden (vgl. Makk 5,14-23). Wahrscheinlich gehörte der Galil damals zum Machtbereich der phönizischen Städte.
Nach der Eroberung Palästinas durch Pompeius wird Galiläa ein Bezirk im Reich des Hohenpriesters Johannes Hyrkan, eines Schattenkönigs von Roms Gnaden. Unter diesem Hohenpriester wurde die Bevölkerung Galiläas, Ende des 2. Jahrhunderts v.Chr., zur Ausübung des jüdischen Glaubens angehalten und auch gezwungen. Gläubige jüdische Familien wurden hier angesiedelt. Die Vorfahren des Josef aus Nazaret könnten zu diesen Ansiedlern gehört haben. Josef hatte Familienbesitz in Betlehem und musste deshalb zur Volkszählung (Steuererklärung) in seine Heimatstadt Betlehem reisen.
Die Schriftgelehrten und Pharisäer aus Judäa und Jerusalem hielten nicht viel von ihren Glaubensgenossen aus dem Norden, weil diese ständig mit Heiden in Berührung kamen und die religionsgesetzlichen Vorschriften nicht so ernst nahmen. Deswegen war es für die „Rechtgläubigen“ in Jerusalem eine ausgemachte (von Gott beschlossene) Sache, dass der Prophet (Messias) nicht aus Galiläa kommen könne. Arrogant sprachen sie von diesem „...Volk, das vom Gesetz nichts versteht, verflucht sei es“ (Joh 7,49).

Land der Widerstandskämpfer. Die Galiläer mussten um ihren Glauben viel stärker ringen als die Stämme des Südens. Das erklärt sich schon aus der geographischen Lage des Galil – der Provinz – durch die eine der wichtigsten Militär- und Karawanenstraßen des Vorderen Orients führte, die Via maris. Sie verband das Zweistromland über Damaskus, den See Gennesaret, die Ebene Jesreel und das Mittelmeer entlang mit Ägypten. Über sie wurde das Land Jahrhunderte lang von verschiedenen Völkern und Söldnerheeren heimgesucht. Das Volk hatte grausame und schreckliche Leiden zu ertragen. Deswegen waren in dieser Region die Messiashoffnungen viel stärker politisch gefärbt. Man erwartete vor allem einen neuen David, der den Goliath aus Rom besiegen sollte. Mit diesen Erwartungen seiner Jünger hatte Jesus sich ausein- anderzusetzen.
Herodes der Große hat in den Jahren 40 bis 37 v. Chr. viermal mit seinen Truppen in Galiläa eingreifen müssen, um Widerstandskämpfer mit ihrem Gefolge niederzuringen.  Judas aus Gamala, hat das königliche Arsenal von Sepphoris geplündert, um so rasch wie möglich die Schuldurkunden zu vernichten.
Es war das Land des Eleasar ben Jair, der als Befehlshaber einer Widerstandstruppe auf Massada den Römern nach dem ersten Krieg (66 bis 70 n. Chr.) am längsten die Stirne bot. Es ist leichter im damaligen Galiläa Namen von Widerstandskämpfern zu finden als Namen von Theologen und Propheten.
Viele willkommene Angaben über Galiläa enthalten die Werke des Flavius Josephus, der in Galiläa den jüdischen Widerstand (ab 66 n. Chr.) gegen die Römer organisierte und Galiläa aus eigener Anschauung gut kannte.
 
Mit Fruchtbarkeit gesegnet. Die naturgegebene Fruchtbarkeit des Galil, nochmals überboten in den subtropischen Gebieten rund um den See, war geradezu sprichwörtlich. Bei solchen reichhaltigen Gaben der Natur brauchten die Menschen nicht zu darben. Sie reichten nicht bloß für die Nahversorgung, sondern ließen auch den Export zu. Orte wie das an der Via maris gelegene Kafarnaum waren auch Marktorte.
Die Fischerei im See Gennesaret, „dem Meer“, wie die Galiläer ihn nannten, war weit über Palästina hinaus bekannt. Blühend war auch das galiläische Handwerk. Josef und Jesus waren Handwerker (vgl. Mk 6,3). Der Beruf des tekton ist eher im Bauhandwerk anzusiedeln, es ging um die Bearbeitung von Holz und Stein. Wir können uns Josef als selbständigen Handwerker vorstellen, denn Arbeit hat es damals genug gegeben. Zur Zeit Jesu war die nur einige Kilometer von Nazaret entfernte Residenzstadt Sepphoris im Aufbau.
Auch der Handel spielte eine nicht unbedeutende Rolle. Die Verbindung zu den großen Verkehrswegen war nicht schlecht, auch wenn diese mehr von den mächtigen Nachbarn benutzt wurden.

Die Zeit ist erfüllt. Ausgerechnet in diesem „Galiläa der Heiden“, in diesem Land der politisch und religiös unzuverlässigen Bevölkerung ist Jesus aufgetreten und hat die Menschlichkeit Gottes begreifbar gemacht. Jesus verlässt seinen Heimatort Nazaret und nimmt in Kafarnaum Wohnung. Von keinem Ort des Neuen Testamentes gibt es eine größere Fülle an Überlieferungen über Predigt und Wirken Jesu. Und so berichtet es Matthäus:
„Als Jesus hörte, dass man Johannes ins Gefängnis geworfen hatte, zog er sich nach Galiläa zurück. Er verließ Nazaret, um in Kafarnaum zu wohnen, das am See liegt, im Gebiet von Sebulon und Naftali. Denn es sollte sich erfüllen, was durch den Propheten Jesaja gesagt worden ist. Das Land Sebulon und das Land Naftali, die Straße am Meer, das Gebiet jenseits des Jordan, das heidnische Galiläa: das Volk, das im Dunkel lebte, hat ein helles Licht gesehen; denen, die im Schattenreich des Todes wohnen, ist ein Licht erschienen. Von da an begann Jesus zu verkünden. Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe.“ (Mt 4,12-17).
Matthäus beruft sich auf die Erfüllung der Schrift. Er hat dabei verschiedene Prophetenworte zusammengefügt. Damit soll begründet werden, warum Jesus im wenig angesehenen Galiläa lebt und wirkt. Das Land Sebulon und Naftali liegt am See und jenseits des Jordan. Es ist Diaspora-Gebiet – Land der Heiden, bewohnt von einem „Volk in der Finsternis“. Unter diesen Menschen ist Jesus als großes Licht aufgegangen. Der Ruf zur Umkehr angesichts des nahen Himmelreiches ist das Summarium der ganzen Botschaft Jesu (V. 17).
Jesus geht am galiläischen See entlang und ruft zwei Brüderpaare in seine Nachfolge (Mt 4,18-22). Es sind die Fischer Simon, der später Fels (Petrus) genannt wird und Andreas, und die Zebedeäussöhne Jakobus und Johannes. Seine Schüler sollen „Menschenfischer“ werden, das heißt sie sollen Schüler gewinnen und selbst einmal Lehrer sein.
Jesus ist Wanderprediger, Verkünder des nahen Himmelreiches und Heiler in der Kraft Gottes.
„Er zog in ganz Galiläa umehr, lehrte in den Synagogen, verkündete das Evangelium vom Reich und heilte im Volk alle Krankheiten und Leiden“ (Mt 4,23-25).

Zöllner, Sünder und Heiden. Die Kritik der Frommen an Jesu, er solle doch nicht mit Zöllnern und Sündern Gemeinschaft pflegen, war vom Standpunkt ihrer selbst gefertigten Frömmigkeit durchaus berechtigt. (vgl. Lk 5,30). Bereits in Kafarnaum stellt Jesus seinen Auftrag über die Bewahrung verknöcherter Normen. Er kam, um die hereinzuholen und im Volk Israel zu sammeln, die man hinausgedrängt hatte. Im dubiosen Galiläa, an der Peripherie Israels, suchte er auch die Ränder der Gesellschaft auf. Beim Zöllnermahl nach der Berufung des Matthäus lässt er seinen Kritikern ausrichten: „Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken ....... Denn ich bin gekommen, um die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten“ (Mt 9,12f).
Die Begegnung mit dem römischen Hauptmann von Kafarnaum, dessen Diener Jesus heilt, war ein erster Meilenstein für die spätere Heidenmission. Jesus lobt den großen Glauben des römischen Beamten und provoziert zugleich fromme Juden: „Amen, das sage ich euch: Einen solchen Glauben habe ich in Israel noch bei niemand gefunden“ (Mt 8,10).
Jesus hat keine Berührungsängste und wohl schon seit seiner Jugend Erfahrungen und Kontakte mit nicht-jüdischen Menschen unterschiedlicher Kulturen, Denk- und Glaubensweisen gehabt.

Er geht euch voraus. Frauen aus Galiläa haben nach dem Zeugnis der Evangelien als erste die Auferstehungsbotschaft vernommen (vgl. Mt 28,9ff; Mk 16,67). Maria aus Magdala und die andere Maria erhalten vom auferstandenen Herrn den Auftrag: „Geht und sagt meinen Brüdern, sie sollen nach Galiläa gehen, dort werden sie mich sehen“ (Mt 28,10). Dort wo alles begonnen hat, dort werden sie ihm begegnen, dort sollen sie den Weg mit ihm nochmals aufnehmen – diesmal geht der Weg in alle Welt hinaus (Mt 28,16-20).

ALLTAG ZUR ZEIT JESU

Mit seiner neuen Artikelserie möchte der Autor Hintergrundwissen vermitteln, das dem besseren Verständnis der Person und des Wirkens Jesu dient.
Leben und Lehre Jesu sind eingebettet in eine bestimmte Geschichte, in eine große Glaubenstradition, in eine Kultur und in politische Verhältnisse, das heißt in Realitäten, die uns heute sehr fremd sind. Schon die Evangelisten mussten der nichtjüdischen Umwelt die jüdische Tradition deuten. So gibt der Evangelist Markus eine Erklärung der jüdischen rituellen Vorschriften des Händewaschens: Die Juden essen nur, „wenn sie vorher mit einer Handvoll Wasser die Hände gewaschen haben, wie es die Überlieferung der Alten vorschreibt. Wenn sie vom Markt kommen, essen sie nicht, ohne sich vorher zu waschen“ (Mk 7,3f).
Um die Menschwerdung des Wortes tiefer zu verstehen, müssen wir mit seiner „menschlichen Umwelt“ und der „Heimaterde“ vertraut werden.
Dazu einige Themen in wahlloser Folge: Geographische und politische Gliederung des Landes, die verschiedenen religiösen Gruppen, die soziale Lage der Bevölkerung, die Besatzungsmacht der Römer, die Großfamilie, Sabbat und Synagoge, Handwerker, Bauern und Fischer, das Geldwesen, die religiös-politischen Hoffnungen...

 

 

 

 

 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016