Ein Ort zum Leben, Wachsen, Lernen und Heilwerden

22. November 2012 | von

Antonia Werr (1813-68) hat 1855 in Zell bei Würzburg die Kongregation der Dienerinnen der heiligen Kindheit Jesu gegründet und sich 1863 dem Regulierten Dritten Orden des heiligen Franziskus angeschlossen. Ihre Lebensaufgabe fand sie mit ihren Gefährtinnen darin, für jene Frauen und Mädchen da zu sein, die in leibliche, geistliche und seelische Not geraten waren und sich ohne Hilfe nicht daraus befreien konnten.



Weihnachten ist das Hochfest unserer Gemeinschaft. Antonia Werr war fasziniert vom göttlichen Kind, dem Sinnbild für das Heilsein und Ganzsein des Menschen. In den Armen und Unglücklichen, besonders in den geächteten Frauen, entdeckte unsere Gründerin das Gesicht des menschgewordenen Gottessohnes.

Was in Oberzell begann, ist Hintergrund, Basis und Vermächtnis für die heilpädagogisch-therapeutische Einrichtung für Mädchen und junge Frauen in St. Ludwig bei Schweinfurt, die von der Kongregation als Gesellschafterin getragen wird. Im Antonia-Werr-Zentrum nehmen wir Mädchen und junge Frauen auf, die mit sich und ihrem Umfeld alleine nicht mehr zurecht kommen und dringend stationäre Hilfe benötigen. Sie sind 12-21 Jahre alt, stammen aus schwierigen Verhältnissen, haben einen belasteten Lebensweg hinter sich, sind traumatisiert, erlebten Gewalt oder Missbrauch. Im Rahmen der Jugendhilfe lernen uns die Mädchen und jungen Frauen kennen und entscheiden, ob sie zu uns kommen wollen. Im Zentrum finden sie einen Ort zum Leben, Wachsen, Lernen und Heilwerden.



DIENST AN DER MENSCHWERDUNG

Wir glauben an die unantastbare Menschenwürde in jedem Menschen – bringen zum Vorschein, was bisher verschüttet war. Wir wollen Wunden verschließen, Narben verheilen lassen. Wir wohnen, arbeiten, spielen, reden, tanzen, singen, weinen, kämpfen, lachen, laufen, essen, diskutieren, feiern, musizieren, toben, lernen, leben zusammen. Wir begegnen uns – kommen in Beziehung. Bei uns erfahren die Mädchen Zuwendung und intensive fachliche Hilfe, erleben die Kraft der Liebe im Miteinander durch Höhen und Tiefen. Dabei gibt es feste Regeln und Orientierung. Klarheit, Verlässlichkeit und Struktur fördern ein Gefühl der Sicherheit und des Aufgehobenseins. Damit die Maßnahmen gelingen, werden die Mädchen und jungen Frauen und deren Angehörige im Hilfeprozess beteiligt und wirken mit. Wir wollen erreichen, dass die Mädchen und jungen Frauen wieder Selbstwertgefühl aufbauen und sich als wertvoll erleben, an ihre Fähigkeiten glauben und sie nutzen, wieder Vertrauen zu ihren Mitmenschen aufbauen, mit sich und ihrer Umwelt zurecht kommen, einen Sinn finden und ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Wir helfen ihnen, sich mit ihrer Lebensgeschichte, mit sich selbst, mit den Mitmenschen und mit Gott zu versöhnen. Wir wollen, dass sie wieder Glück empfinden. Mit dem „LuiRat“, einem internen Gremium, in dem die jungen Frauen in der Mehrzahl sind, werden demokratische Strukturen gelernt und Mitbestimmung konkret praktiziert. Grundsätzlich streben wir zwei Ziele an: Entweder gelingt die Rückführung in die Herkunftsfamilie oder der Weg führt in die Verselbständigung.



IN IDYLLISCHER LANDSCHAFT

Das Antonia-Werr-Zentrum ist ein Ort, an dem Schule, Ausbildung und Wohnen einzigartig verbunden sind. St. Ludwig liegt auf dem Land, umgeben von Wald und Wiesen. Da ist viel Grün, eine Quelle, Stille. Man hört die Vögel singen, sieht das Laub fallen. Das Zentrum hat heimelig-moderne Wohnungen und Häuser, in denen die Mädchen und jungen Frauen zusammen wohnen und rund um die Uhr pädagogisch betreut werden. Wir haben eine Kirche, in der wir singen, tanzen und beten. Es gibt einen Konvent mit Schwestern, die immer da sind. In der Gärtnerei wachsen aus den Samen Pflanzen, die Früchte tragen und geerntet werden. Wir haben Lehrwerkstätten. Mit unserer Hände Arbeit entstehen Kleider, Teppiche, Keramiken, gutes Essen. In unserer Schule wird jede nach ihren Möglichkeiten gefordert und gefördert. Wir haben viele Frei-Räume und Platz für Freizeitaktivitäten. Wir haben einen Sportplatz, eine Turnhalle und einen Weiher. Wir sind ein kleines Dorf. Wir sind eine Oase und fördern zugleich die Integration in die Region. Für Freizeitbeschäftigung wie Tanzschule oder Disco, Mitgliedschaften in Vereinen, den Besuch weiterführender Schulen oder Praktika sowie für externe Therapien und Behandlungen verlassen die Mädchen und jungen Frauen das Zentrum. Besuche von Freunden und Familienmitgliedern sind willkommen.



HEILPÄDAGOGISCHE WOHNGRUPPEN

In sieben heilpädagogischen Innenwohngruppen leben die Mädchen und jungen Frauen, die sich in Schule oder Ausbildung befinden. Die Wohnungen beziehungsweise Wohnhäuser sind mit Einzel- und Doppelzimmern modern ausgestattet. Essen planen, einkaufen, Preise vergleichen, abrechnen, kochen, waschen, bügeln, aufräumen, putzen, fernsehen, spielen, chillen, stylen. Das sind einige Beispiele für das Zusammenleben und die Selbstversorgung in der Gruppe mit strukturiertem Alltag und altersgemäßen Freiräumen. Integriert in die Innenwohngruppen sind therapeutische Plätze – belegt von Mädchen und jungen Frauen, die unter Verhaltensauffälligkeiten, psychischen Störungen und tiefgreifenden seelischen Beeinträchtigungen leiden.



MUTTER-KIND-GRUPPE

Schwangere Mädchen oder junge Frauen und minderjährige Mütter, die für sich und ihr Kind gezielte Hilfen benötigen, finden Aufnahme in der Mutter-Kind-Gruppe. Wir beziehen den Kindsvater mit ein sowie die Eltern der werdenden Mutter und arbeiten eng zusammen mit Gynäkologin, Hebamme und Kinderarzt. Nach der Geburt helfen wir den jungen Müttern, eine sichere Bindung zu ihren Kindern aufzubauen. Das bedeutet, dass sie die Bedürfnisse ihres kleinen Kindes wahrnehmen lernen und sich darauf einlassen: dem Kind Gefühle entgegenzubringen und zuzulassen, die die junge Mutter vielleicht selbst nie erlebt hat. Sich an vorgelebten Handlungen der Erzieherinnen und im Kreis der Gruppe zu orientieren, um immer weiter in die Verantwortung hineinzuwachsen. Förderlich dafür ist eine Schul- und/oder Berufsausbildung, die auch dem Kind auf lange Sicht zugute kommt. Eine Kinderbetreuung erleichtert den jungen Müttern, diese zu absolvieren. Bei Bedarf sorgen wir für Frühförderung, Ergotherapie sowie eine psychotherapeutische Begleitung von Mutter und Kind.



INOBHUTNAHME-JUGENDSCHUTZSTELLE

Die Inobhutnahme-Jugendschutzstelle ist eine separate Abteilung des Antonia-Werr-Zentrums. Sie ist räumlich, personell und organisatorisch von den heilpädagogischen Innenwohngruppen getrennt. Wir sind rund um die Uhr erreichbar und können jederzeit Mädchen und junge Frauen ab neun Jahren aufnehmen, die aufgrund einer akuten Krisensituation kurzfristig vorübergehend untergebracht werden müssen. Liebevoll ausgestattete Zimmer mit eigener Dusche stehen bereit. Die Inobhutnahme ist Teil einer umfassenden Krisenintervention. In Zusammenarbeit mit dem zuständigen Jugendamt und gegebenenfalls mit den Erziehungsberechtigten wird nach Lösungen und Perspektiven gesucht. Weiterführende Hilfen werden eingeleitet. Bei Bedarf findet eine psychologische sowie kinder- und jugendpsychiatrische Diagnostik und Krisenintervention statt. Bei längerem Aufenthalt besteht die Möglichkeit der Beschulung.



AUSSENWOHNGRUPPE, VERSELBSTÄNDIGUNG

Ein Hauptaspekt unserer Arbeit ist die eigenverantwortliche Lebensführung. Dafür stehen den Mädchen und jungen Frauen nach ihren individuellen Entwicklungsstadien unterschiedliche Angebote zur Verfügung. Eine heilpädagogische Außenwohngruppe befindet sich in der Würzburger Innenstadt mit einem Wohn- und Betreuungsangebot für Mädchen ab 15 Jahren. Im Antonia-Werr-Zentrum gibt es spezielle Appartements als heilpädagogische Einheit zur Verselbständigung. Eine weitere Alternative ist das betreute Einzelwohnen in Wohnungen außerhalb des Zentrums. Ziele und Inhalte des Betreuten Wohnens werden in einem Vertrag mit der jungen Frau festgelegt und je nach Entwicklungsstand fortgeschrieben. So lernt sie, auf eigenen Beinen zu stehen, ohne dabei allein gelassen zu werden.



VON-PELKOVEN-SCHULE

„Du bist gut“ steht über dem Eingang zum Direktorat der zentrumseigenen Von-Pelkhoven-Schule. Sie ist eine private, staatlich anerkannte Förderschule mit dem Schwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung, mit Hauptschule, einer Klasse zur Lernförderung sowie einer Berufsschule. Die etwa 80 Schülerinnen kommen aus den vollstationären Gruppen, den Ambulanten Hilfen, der Inobhutnahmestelle oder von extern. Sonderschullehrer und Lehrerinnen verschiedener Schularten, heilpädagogische Förderlehrer, eine Ergotherapeutin und Werkmeisterinnen unterrichten und fördern zielgerichtet und individuell die Schülerinnen. Ein intensiver Austausch zwischen Schule, heilpädagogisch-therapeutischen Wohngruppen und Ausbildungsbetrieben ist selbstverständlich. Häufig sind Mädchen, die zu uns in die Schule kommen, in einer Negativspirale gefangen, die aus Versagen, Angst, Blockade, Aggression, Resignation und Depression besteht. Diese heißt es zu durchbrechen. Mit Hilfe des Regelunterrichts, zusätzlichem Förderunterricht und einer speziellen Aufbauklasse verfolgen wir das Ziel, bei den Mädchen und jungen Frauen wieder Interesse und Freude am Lernen zu wecken.



BERUFLICHE AUSBILDUNG

Mädchen und junge Frauen, die den Anforderungen der Ausbildung in der freien Wirtschaft nicht entsprechen, können im Antonia-Werr-Zentrum Berufe in Hauswirtschaft, Schneiderei und Gärtnerei erlernen. Wir bilden praxisbezogen aus, legen Wert auf Teamfähigkeit, Kundenfreundlichkeit und eigenverantwortliche Übernahme von Aufgaben. Im Unterschied zu „draußen“ ist unsere Ausbildung Teil des heilpädagogischen Prozesses. Ausbilder, Erzieherinnen, Lehrkräfte und Therapeutinnen arbeiten Hand in Hand am Gelingen der Maßnahme. Auch unsere Betriebe müssen wirtschaftlich arbeiten, wir werden dabei aber unseren Mädchen und deren Problemen gerecht, passen uns den Situationen an. Für die Ausbilderinnen bedeutet dies einen besonderen Betreuungsaufwand. Dank externer Kooperationsbetriebe in der näheren Umgebung erweitern unsere Auszubildenden durch Praktika ihre Erfahrungen in ihren beruflichen Arbeitsfeldern.



THERAPEUTISCHE ANGEBOTE

Im Musikraum wird getrommelt, im Pavillon Tischtennis gespielt oder gekickert, die Kletterwand an der Turnhalle erfordert Mut, meditativer Tanz inspiriert, vor dem Spiegel in der Theaterwerkstatt werden Rollen einstudiert, beim Töpfern lässt sich gut reden, Sport- und Spielplatz und die umgebende Landschaft laden ein zu Bewegung, und die Pferde im Nachbardorf warten schon auf die Mädchen zum Reiten und Voltigieren. Die Mädchen und jungen Frauen können aus diesen heilpädagogisch-therapeutischen Angeboten gruppenübergreifend frei wählen. So werden sie in ihrer Persönlichkeitsentwicklung durch ein Medium gefördert, das ihnen Spaß macht, Hemmungen, Ängste und Fehlentwicklungen abbauen hilft und ihr Selbstbewusstsein stärkt. Psychotherapeutische Angebote sind je nach Bedarf zugänglich. Verschüttete Ressourcen werden aktiviert, Neues ausprobiert, Ängste abgebaut, andere Verhaltensweisen erlernt, Traumata bearbeitet. In die therapeutische Arbeit sind die Eltern mit einbezogen. Anschauen, Annehmen, Loslassen, Aussöhnen – wir begleiten hierbei die persönlichen Schritte.



GEISTLICHE IMPULSE

Unsere Kirche steht am Eingang des Antonia-Werr-Zentrums. Ihr Kirchturm überragt alles – nicht nur optisch. Das stündliche Schlagen der Kirchenuhr und das Läuten der Glocken sind Bestandteil unseres Lebens hier in St. Ludwig. Wochenenden und Sommerfest, Franziskustag, Frauentag, Antonia-Werr-Tag begehen wir mit geistlichen Impulsen, meditativen Einheiten oder besonders gestalteten Gottesdiensten. Die Mädchen und jungen Frauen wirken bei den Vorbereitungen als Ministrantinnnen, bei Fürbitten, im Chor oder bei Tanzvorführungen kreativ mit. Als katholische Einrichtung das Kirchenjahr mit Leben zu füllen und dabei Glaube persönlich erfahrbar zu machen, ist unser Anliegen. Dabei leben wir Ökumene, bereiten zur Taufe, Konfirmation, Kommunion und Firmung vor, bieten Beichtgespräche an, gestalten Besinnungstage. Wir achten die Überzeugungen andersgläubiger junger Frauen und ermöglichen ihnen, ihren Glauben zu leben. Unser pastorales Team sorgt für eine jugendgerechte Gestaltung des religiösen Lebens, gibt Impulse und entwickelt jedes Jahr ein neues Thema, unter dem ein Schul- und Arbeitsjahr steht.





Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016