EIN VERSUCH: LOB DER HÖFLICHKEIT

01. Januar 1900

Er ist kein Phantom (beileibe!), eher ein häufiger Zeitgenosse: der authentische (!) Mensch. Anzutreffen ist er Tag für Tag. Beispielsweise im Kino. Da sitzt er hinter uns, dermaßen anwesend, daß wir uns (insgeheim nur, klar) den psychopathischen Serienkiller von der Leinwand herunterwünschen – und zwar dem authentischen Menschen an den Hals (auch eher authentisch dieser Wunsch, als diskret). Er ignoriert offenbar, daß ein Film neben Bildern auch eine Tonspur zu bieten hat, die für den einen oder anderen von Interesse sein könnte. Wie selbstverständlich wird ein lautstarkes Gespräch mit Sitznachbarn geführt, nur von geräuschvoller Nahrungsaufnahme und Tütengeraschel unterbrochen. Weitere Beispiele unter diesem Rubrum Kränkungen, die wir uns alltäglich zufügen gefällig? Bitte: der Verlust des Grußes, die Feststellung, daß die Worte Bitte und Danke zu Fremdworten degenerieren, das Phänomen, daß ein Telephonanruf allemal Priorität hat vor einem anwesenden Gesprächspartner, das ungebeten, vorschnell vertrauliche Du, ebenso die Invasion in ein Zimmer ohne Anklopfen, die großen Ins-Wort-Faller – wie schwer ist es ihnen, andere den Satz, einen Gedanken zuende bringen zu lassen. Endlose Liste von täglichen Ärgerlichkeiten. Jede einzelne vielleicht nicht der Rede wert, aber geballt ...?

Die verflixte Tatsache, daß sich uns in derlei Situationen der Satz So was tut man nicht! als einziger Kommentar aufdrängt, macht stutzig, wiederholt er doch wortgetreu die Ermahnungen der Vorgängergenerationen. Also wird man ihn wahrscheinlich samt des entstandenen Ärgers schleunigst wieder verschlucken. Denn wer es wagt, derlei Rücksichtslosigkeiten mit diesem altbackenen Wort entgegenzutreten, hätte zweifellos mit dem Vorwurf zu rechnen, Omas Benimm nachzueifern. Und wer will schon zur Gouvernante gestempelt werden.
Höflichkeit zu fordern, ihr das Wort zu reden, bereitet Schwierigkeiten. Warum?

Eine Ursache liegt in der Gleichsetzung von Höflichkeit mit Benimm, wobei der entscheidende Unterschied verlorengeht. Unter Benimm wird gemeinhin ein Katalog von Verhaltensvorschriften verstanden, der heute weitgehend auf Skepsis stößt, leicht Heiterkeit erregt als anachronistisch, übertrieben und restriktiv. Störend wirkt vor allem das Normative. Ironisch-kritisch faßt die Publizistin Cora Stephan diese verbreitete Haltung zusammen: Höflichkeit und Benimm, das alles sei unterschiedlos ... irgendwie reaktionär bis faschistisch, freiheitseinengend, verklemmt, frauen- oder gar ausländerfeindlich oder sonst etwas ganz Schlimmes.

Das Motiv macht’s. Was aber ist an der Höflichkeit so erfrischend anders? Zwar ist auch sie auf mehr oder weniger festgelegte, zuweilen durchaus subtile Verhaltenskonventionen angewiesen, jedoch ist ihr Motiv anders: nicht Herrschaft, sondern ethische Haltung. Vereinfacht gesagt geht es um Rücksichtnahme und Respekt, um die Bereitschaft, andere als andere mit eigenen Interessen überhaupt wahrzunehmen und sie nicht, einem Panzer gleich, zu überrollen. Dies mutet verhältnismäßig banal und selbstverständlich an. Auch wenn wir es längst vergessen haben. Unser Wort (und die Haltung dahinter) höflich entwickelt sich aus der höfischen Kultur des Mittelalter, aus der ethischen Zivilisationstradition, die im Französischen (courtoisie) und Italienischen (cortesia) drei Dimensionen anfanghaft zu verbinden sucht: die ästhetische (aus dem deutschen Pendant hövesch wird in der Wortgeschichte «hübsch»), einen ethische (aus hövesch wird auch «höflich», das meint Respekt, Aufmerksamkeit, Einfühlung und Diskretion) und eine soziale (höfisch kennzeichnet soziale und personale Unterschiede und versucht anschließend diese so zu regulieren, daß alle möglichst unbeschadet aus einem Zusammentreffen hervorgehen). Um so bemerkenswerter ist deshalb die Tatsache, daß höfliches Verhalten keinesfalls selbstverständlich ist, mitunter geradezu Unbehagen verursacht. So fragt Roland Barthes im Blick auf asiatischen Höflichkeitstraditionen: Warum betrachtet man die Höflichkeit im Westen mit Argwohn? Verantwortlich für den offenkundigen Mißkredit macht er eine spezifische Form des Selbstverständnisses, die er als Mythologie der ,Person‘ begreift: Danach gilt der westliche Mensch als ein Doppeltes, das aus einem gesellschaftlichen, künstlichen, falschen ‚Äußeren‘ und einem persönlichen, echten ,Inneren‘ zusammengesetzt ist. Einen authentischen Kern, der das Individuelle repräsentiert, umgibt demzufolge eine kulturelle Hülle, die das überaus wertgeschätzte Persönliche verbirgt. So gesehen verwundert es nicht, daß der uniformierenden gesellschaftlichen Zwangsjacke nicht gerade die respektvollste Behandlung zuteil wird: In das ungeliebte Kleidungsstück werden Löcher gerissen. Wer solchermaßen daherkommt, kann nun das Eigene, das Unverblümte oder Eigentliche zusehens entblößen oder, wie man treffend sagt, raushängen lassen. Das Ideal ist der vollendete Striptease (nicht wenige Talk-Shows geben davon Zeugnis): Unhöflich sein bedeutet wahrhaftig sein, ungeschminkt und ungebremst.

Ein Mißverständnis. Wird infolgedessen jedes offenkundig konventionsbestimmte Handeln als distanzierte Steifheit, gar als Heuchelei denunziert, so kann sich umgekehrt noch die gröbste Rücksichtslosigkeit mit dem Gütesiegel der Ehrlichkeit schmücken und mittels dieses merkwürdigen Einsatzes von Moral vor Kritik und drohender Sanktionierung schützen. Wer sich also beispielsweise trauen sollte, dem lärmenden Kinobesuchern ein Psssst zuzuzischen, muß rechnen, kurzerhand als Exekutor einer Norm bloßgestellt zu werden, die unterdrückerisch einschreitet, wo sich doch lediglich authentische Bedürfnisse ausleben und Aufrichtigkeit alle Konvention zersprengen darf. Auf diesem Weg der Wahrheit stattet sich deren Mißachtung mit dem Selbstbewußtsein aus, revolutionär zu sein, und zwar ungeachtet der Frage, wogegen eigentlich revoltiert oder was mit diesem Aufbegehren bezweckt werden soll. Die exhibitionistische Hervorkehrung des Inneren kommt einem narzißtischen Begehren nach. Gezeigt werden soll nämlich, daß dieses Innere voll ist und, vor allem, mit der inneren Fülle anderer konkurrieren kann. Neben dem Versuch, einen Mangel des anderen aufzudecken, steigert sich deshalb nicht selten das Selbstdarstellungsbedürfnis regelrecht ins Obsessionelle. Genügt dem distanzlosen einzelnen noch sein entmündigtes Gegenüber als Einschreibfläche für die eigene Persönlichkeit, so stellt die inflationierende Anzahl der Fernseh-Talk-Shows im Nachmittagsprogramm ebenso viele Bühnen für einen massenhaften, vor großen Zuschauermassen praktizierten Exhibitionismus bereit. Hier nun darf nicht nur, es muß sogar alles mit größtmöglicher Schamlosigkeit gezeigt werden, um Gott und der Welt und nicht zuletzt sich selbst zu beweisen, daß da auch etwas ist, das gezeigt werden kann – auch eine gebrochene Persönlichkeit ist immerhin eine.
Ruft das Modell von der falschen gesellschaftlichen Hülle und dem echten individuellen Kern ein latentes Mißtrauen gegenüber den kulturellen Konventionen hervor, initiiert es somit zugleich das Mißverstehen alles Höflich-Formbestimmten als Produkt einer gewaltsamen Verbiegung, so beruht es doch auf einem grundlegenden Mißverständnis. Dieses Mißverständnis betrifft den Status der Kultur und vor allem der Sprache. Diese wird sozusagen in einem Außen gehalten, wo es doch, spätestens seit dem Auftreten der Psychoanalyse, angeraten ist, das Subjektive nicht als autonome Substanz, sondern vielmehr als von der Sprache Durchdrungenes oder sogar von ihr erst Hervorgebrachtes zu denken. So stellt sich beispielsweise die Frage, wie sich das kultisch verehrte Unmittelbare und Unvermittelte denn überhaupt mitteilen soll – entzieht es sich doch per definitionem dem Vermittelnden, also der Sprache? Oder anders: Wie kommt es, daß sich der angeblich in uns allen hinter einer Fassade der Zivilisiertheit hausende gute Wilde so überaus beredsam gibt und demnach offenbar über eine Kompetenz verfügt, die ihn gar nicht mehr so wild erscheinen läßt?

Bauch - Sitz der Wahrheit? Daß es Individualität gibt, soll, ja darf nicht in Abrede gestellt werden, nur bezweifelt werden darf, ob es sich dabei um jenen unteilbaren, ursprünglichen Kern handelt, der vor und diesseits des Symbolischen existieren soll und somit logischerweise undarstellbar bleibt. Was sich hier zeigt, ist mithin gar nichts Authentisches, sondern selbst ein sich verfestigender Code des Authentischen, ein Terror der Intimität, wo sie gar nicht am Platz ist, weil alle Annäherung an einen anderen in dieser Tiefe Zeit und Formen braucht. Etabliert hat sich im Zuge der Verehrung des Reinen und Natürlichen ein regelrechter Spontaneitätskult, weil nämlich das aufgrund spontaner Gefühlsregung Geäußerte in dem Ruf steht, geradewegs von innen oder, wie es auch heißt, aus dem Bauch zu kommen, also von dort, wo merkwürdigerweise die Wahrheit nisten soll. Das Spontane des Menschen ist seine Kultur, erkannte hingegen Roland Barthes. Die Realisierung des bauchgetriebenen Befreiungswunsches nimmt sich bei näherer   Betrachtung ohnehin einigermaßen schwierig aus,  weil doch alles Vorgegebene erst einmal erkannt, benannt, also in irgendeiner Weise bewußt durchquert sein muß, bevor sich jemand davon absetzen kann. Ein Vorgehen, das somit notgedrungen mit der zeitaufwendigen Anstrengung intellektueller Reflexion verbunden ist. Ein Vorgehen aber auch, das von den selbsternannten Bauchmenschen nicht selten der Kopflastigkeit geziehen, dem also eine gewisse niederdrückende Schwere oder sogar Unmenschlichkeit attestiert wird. Infolgedessen schlägt kritischem Nachfragen häufig Aggressivität entgegen, vor allem, wenn Zweifel an dem geäußert werden, was den Bauch mancher Leute spontan und geistig recht unverdaut verläßt und das, so skurril und abgefahren es auch zunächst anmuten mag, über den Gemeinplatz doch nicht hinauskommt oder sich dem Wortdunkel der momentan grassierenden esoterischen Rede hingibt, die sich unausgesetzt um die Suche nach der eigenen Mitte dreht. Indem die eigene Meinung als direkter Ausdruck des Ich begriffen wird, gerät sie zum kostbaren Eigentum, das mit Zähnen und Klauen verteidigt wird, so daß Auseinandersetzungen unvermeidlich auf der persönlichen Ebene ausgetragen werden. Ironischer-, aber nicht komischerweise bildet die der Abwehr alles Verunsichernden dienende und begriffsmodisch zur Verletzlichkeit veredelte Mimosenhaftigkeit oftmals nur die Rückseite der Rücksichtslosigkeit.
Übersteigerte Sorge um das Selbst zeitigt Effekte, die ins Theatralische hineinspielen. Kaum noch ein Ort, der nicht als Bühne für exzessive personality shows herhalten könnte. Stilbestimmend für diese Darbietungen wirkt sich ein Hang zum Naturalismus aus. Die Rollenhaftigkeit des Dargestellten verschleiert sich hinter seiner angeblichen Natürlichkeit. Darüber gerät auch die Rollenhaftigkeit jeglichen Verhaltens aus dem Blick. Die Rolle verfestigt sich paradoxerweise gerade in der krampfhaften Zurückweisung alles Künstlichen und Falschen zur – Pose.

Unverschämt unmittelbar – auch dieser Zusammenhang greift zu kurz. Unmittelbarkeit und Unverstelltheit dürfen ihre Orte haben. Orte des gewachsenen Vertrauens oder der Intimität. Das aber ist keinesfalls mit einer Verkehrsform zu verwechseln, die in jeder Öffentlichkeit an den Tag gelegt werden kann. Darauf weist Cora Stephan ebenfalls hin:  (...) wir können nicht jeden Menschen lieben, mit dem wir gleichwohl gewaltfreien Umgang pflegen sollen und müssen. Und sie (i.e. die Förmlichkeit) ist ein Integrationsangebot für Fremde, die sich den hier bereits Lebenden hinzugesellen wollen oder müssen. Manieren geben darüber hinaus Auskunft über die Maßstäbe, die in einem Land gelten. Die Kultur der Unmittelbarkeit, der Authentizität, der Identität und wie die Vokabeln alle heißen, kennt indes keinerlei Maßstäbe außer denen, die sich aus Situation und Gefühlslage ergeben, was bekanntlich Unzuverläßigkeit garantiert. Insbesondere lassen Formen und Trennungen die Gefühle frei, nämlich dort, wo sie hingehören: als Privatangelegenheit beim Einzelnen selbst. Wer sich auf Regeln verlassen kann, muß nicht schon bei sich selbst mit der Reglementierung anfangen. Das ist das Freiheitsversprechen der guten Manieren. Reine Innerlichkeit aber kennt keine Gewaltenteilung und zwingt die Menschen, sich vom Unsichersten überhaupt abhängig zu machen: von ihrem guten Charakter.
Das ist als mehr als nur bedenkenswert angesichts all der Aufdringlichkeiten, die man, mit einigem Pech, oft auszuhalten hat im täglichen Umgang mit so vielen Menschen in so vielen unterschiedlichen, teils nur flüchtigen Begegnungen.

Steile Überlegungen. Es mag erstaunen, aber schon in den 50er und 60er Jahren hat der feinsinnige und scharfsichtige Theologe und Philosoph Romano Guardini festgehalten, wie wichtig es ist, daß wir angesichts einer immer engeren, von immer mehr Menschen und Aufgaben besetzten, immer schnelleren Welt, nach Formen suchen, die eine Art der Ökologie der Begegnung ausmachen:
Die Menschen leben auf engem Raum miteinander, im Bereich des Hauses, des Büros, der Fabrik, in den Zimmern der Behörden, im Gedränge der Straßen und ihres Verkehrs, in der Enge des vielbesiedelten Landes. So berühren sich ihre Lebenssphären beständig. Ihre Absichten kreuzen einander geradeso wie die Wege, die sie gehen. So entsteht auch immerfort die Gefahr der Reibung, der Entzündung, und jeder vernünftige Mensch wünscht, ihr zu begegnen. Er wird nach Formen suchen, n denen sich die Sorge für ein richtiges Zusammenleben der Vielen ausdrückt; die Heftigkeit gegensätzlicher Gefühle und Absichten sich mildert; Jeder dem Anderen entgegenkommt und seinerseits Entgegenkommen erfährt.

Und – so wiederum Guardini: Kultur beginnt nicht mit Zudringen und Anpacken, sondern mit Hände-Wegnehmen und Zurücktreten. Die Höflichkeit schafft freien Raum um den Anderen; bewahrt ihn vor der bedrängenden Nähe, gibt ihm seine eigene Luft.
Aber das hat für Guardini noch einen, ja, den einen Grund:
Dann aber gelangt der Gedanke, wenn er folgerichtig weitergeht, zu einer Höhe, die zugleich letztes Geheimnis ist: Haben wir einmal daran gedacht, wie Gott sein Geschöpf in Ehren hält? Wie Sein ganzes Verhalten zum Menschen auf der nie auszudenkenden Tatsache ruht, daß Er ihn frei geschaffen hat? Er, der alles vermag, will, daß der Mensch freie Person sei, in eigenem Stand stehe, über sich selbst verfüge, aus innerem Anfang heraus handle. An diese Freiheit rührt Gott nicht. Er zwingt nicht, schreckt nicht, verführt nicht – auch dann nicht, wenn der Mensch sich gegen Ihn und, eben damit, gegen sich selbst wendet.
Die Rede ist von nichts anderem als der Höflichkeit Gottes ... anders gesagt: von dem Entfaltungsraum, den einer dem andern überläßt, ohne ihn akustisch, gestisch, verbal oder wie auch immer zu bedrängen. Höflichkeit will diesen Raum, die personale Sphäre, die jeder um sich hat, diese Verwundbarkeit und Fragilität eines anderen schützen und die eigene geschützt wissen.
Also – höfliche Mädchen/Buben (die müssen nicht brav und bieder sein!) kommen wirklich in den Himmel. Unverschämte gehen schlicht auf die Nerven. Das ist ein Vergehen ... – und das kostet diegleichen und mehr.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016