Eine Frau von Format

01. Januar 1900 | von

In der Bibel, die zugleich Wort Gottes und komprimierter Schatz menschlicher Lebens- und Glaubenserfahrung ist, begegnen uns viele Männer und Frauen mit sehr unterschiedlichen Lebensgeschichten. In diesen erzählten Biographien finden sich zum einen sehr vertraute, fast klischeehafte Themen und Wendungen, doch immer wieder treffen wir dort auch auf Menschen, die allen Erwartungen entgegen handeln.

Eine dieser ungewöhnlichen Personen ist Rut. Ihr Name betitelt ein kurzes Buch im Alten Testament, in dem von ihr berichtet wird; im Neuen Testament hat ihr Name einen festen Platz im Stammbaum Jesu.

Ruts Geschichte ist schnell erzählt. Die Moabiterin heiratet einen der Söhne von Noomi, einer Witwe aus Juda, die mit ihrer Familie wegen einer Hungersnot in die Fremde gezogen war. Doch nach ihrem Mann sterben auch beide Söhne kinderlos und so stehen Noomi und ihre Schwiegertöchter Orpa und Rut alleine da. Noomi entschließt sich zur Rückkehr nach Bethlehem, schickt jedoch ihre Schwiegertöchter nach Hause zurück, da sie bei ihr keine Hoffnung auf ein erfülltes Leben haben können. Während die eine, Orpa, sich zu diesem Schritt durchringt und Abschied nimmt, bleibt Rut bei Noomi und begleitet diese in ihre Heimat. Dort sorgt sie für die Ältere, indem sie zur Ährenlese aufs Feld geht. Zufällig begegnet sie dort Boas, einem wohlhabenden und wohlgesonnenen Verwandten ihres Mannes.

Daraufhin schmiedet Noomi Pläne, wie dieser an seine Verwandtschaftspflicht als Löser, das heißt als derjenige, der für die Erhaltung der Familienlinie Sorge zu tragen hat, erinnert werden kann. Rut läßt sich auf den kühnen Plan ihrer Schwiegermutter ein und legt sich in der Nacht des Erntefestes auf der Tenne zu Boas. Dieser ist gern bereit, seiner Pflicht nachzukommen, muß aber erst noch mit einem näheren Verwandten verhandeln, bevor er Rut heiraten kann. Ihre Ehe schließlich wird schon bald mit Nachkommenschaft gesegnet: ihr Sohn Obed wird schließlich Großvater König Davids. - Was aber macht diese junge Frau so bemerkenswert?

Treu und risikobereit. In der Lebenskrise, in die Noomi und ihre beiden Schwiegertöchter geraten und in der die Schwiegermutter den beiden jungen Witwen den selbstlosen und vernünftigen Rat gibt, sie zu verlassen, trifft Rut eine ungewöhnliche Entscheidung. Sie will bei Noomi bleiben. Sie bindet sich an die ältere Frau mit Worten, die eher an ein eheliches Treueversprechen erinnern, jedenfalls bestimmt nicht an die typische Schwiegermutter-Schwiegertochter-Beziehung:

Wohin du gehst, dahin gehe auch ich, und wo du bleibst, da bleibe auch ich. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe auch ich, da will ich begraben sein.

Damit wählt Rut das Ungewisse. Sie verläßt ihre Heimat, ihre religiösen Bindungen, die Möglichkeit einer neuen Ehe und den damit verbundenen sicheren sozialen Status. Sie entscheidet sich gegen das, was üblich ist und vernünftig erscheint. Sie riskiert alles, was ihr vertraut ist, um sich mit ihrer Schwiegermutter auf den Weg zumachen. Die Radikalität dieses Entschlusses erinnert an Abraham. Er hat sich ja in ähnlicher Weise aus allen Bindungen gelöst - allerdings mit einem Großteil seines Besitzes, seiner Familie und einer Verheißung Gottes im Gepäck!

Kühnes Unternehmen. In Noomis Heimat ist es Rut, die aktiv wird, um sich und ihre Schwiegermutter zu versorgen. Sie handelt entsprechend der Möglichkeiten, die ihr in ihrer niedrigen sozialen Stellung offen stehen und geht aufs Feld zur Ährennachlese. Dort begegnet sie zufällig Boas, der sich ihr gegenüber sehr fürsorglich verhält - und ihr zudem Gottes Segen zuspricht.

Zuhause berichtet Rut von dem, was ihr widerfahren ist. Daraufhin schmiedet Noomi einen riskanten Plan, um eine eheliche Verbindung zwischen Rut und Boas zu knüpfen. Und Rut läßt sich nicht nur auf dieses kühne Unternehmen ein, nein, im entscheidenden Augenblick überläßt sie nicht, wie geplant, Boas die Initiative, sondern sie erinnert ihn deutlich an seine Verantwortung und daran, daß er selbst zur Verwirklichung des Segens, den er ihr zugesprochen hatte, beitragen kann.

Neue Fülle. Letztlich geht diese Geschichte zwischen Tod und Leben, zwischen Fluch und Segen, gut aus. Aus Verlust, Tod, Trauer und Verzweiflung wächst neues Leben, neue Fülle.

Die junge Ausländerin und Heidin mit ihren unkonventionellen Entscheidungen, ihrer Treue und ihrem Mut eröffnet gerade mit ihrem unerwarteten Handeln Gott Raum für seine segensvolle Zuwendung.

Als Urgroßmutter König Davids und damit als Stammutter Jesu bleibt das Gedächtnis dieser ungewöhnlichen Frau bis heute im Judentum und im Christentum bewahrt.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016