26. Januar 2016

Eine Welt aus Hunger und Gier

Die Fastenzeit vor Ostern ist für viele ein Anlass zum Verzicht auf das ein oder andere Genussmittel, vielleicht auch zum Reflektieren unseres westlichen Lebensstils, den sich nicht alle Menschen weltweit leisten können  und der oft auf Kosten anderer gelebt wird.




Bei Kursen mit Jugendlichen zeige ich gern Ausschnitte aus dem Film des Österreichers Erwin Wagenhofer „We Feed the World“. Vor über zehn Jahren wurde diese Dokumentation, die die Massenproduktion von Nahrungsmitteln kritisch unter die Lupe nimmt, erstmals ausgestrahlt – und schaffte es, zum erfolgreichsten österreichischen Dokumentarfilm zu werden. Keine leichte Kost, auch wenn da von manch beeindruckender Entwicklung berichtet wird.







Das „Wunder von Almería“



Mit sympathischem niederländischen Akzent erzählt zum Beispiel der Agronom Lieven Bruneel aus dem andalusischen El Ejido in der spanischen Provinz Almería. Aus einer Stadt mit etwas über 35.000 Einwohnern im Jahr 1950 hat sich seit den 60er Jahren Europas größter „agrarindustriell genutzter Wintergarten“ entwickelt: Auf über 36.000 Hektar werden in unzähligen Gewächshäusern zahlreiche Gemüsesorten angebaut, drei Millionen Tonnen pro Jahr, mehr als die Hälfte für den Export nach Deutschland und andere Staaten Westeuropas. Die Bevölkerungszahl liegt heute bei knapp 90.000 Menschen. Eine Erfolgsgeschichte, Bruneel spricht gar von einem „Wunder“: Bei bis zu fünf Ernten pro Jahr haben Tomaten, Paprika, Zucchini immer Saison, noch dazu bei erschwinglichem Preis europaweit im Supermarkt. Arbeitsplätze für zigtausende Menschen wurden geschaffen.



Und spätestens hier beginnt irgendwo das Problem. Die benötigten Arbeiter stammen größtenteils aus Marokko, Rumänien oder dem subsaharischen Afrika; sie arbeiten meist ohne Aufenthaltsgenehmigung, ohne Arbeitsvertrag und bei schlechter Bezahlung. Arbeits- und Lebensbedingungen sind hart. Und es leidet nicht nur der Mensch, sondern auch die Umwelt. Pro Jahr fallen in der Gemüseproduktion 28.000 Tonnen Plastikabfälle an, wovon nur knapp die Hälfte dem Recycling zugeführt wird. Eingesetzte Pestizide verschmutzen das Grundwasser. Immer neue Gewächshäuser werden gebaut, auch um sich gegenüber steigender Konkurrenz aus Marokko oder Israel behaupten zu können, und führen zu immensem Flächenverbrauch. – Eine Erfolgsgeschichte?







Bevölkerungsentwicklung und Hunger



Wenn auch keine reine Erfolgsgeschichte, so wird uns glauben gemacht, dann doch eine Geschichte ohne Alternative. Denn immer noch wächst die Weltbevölkerung rapide, der Bedarf an Nahrungsmitteln steigt kontinuierlich: Weit über sieben Milliarden Menschen wollen Tag für Tag satt werden. 795 Millionen Menschen schaffen das nicht, konstatiert die Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen. Über eine Milliarde Menschen sind übergewichtig, aber einer von neun Menschen weltweit geht am Abend hungrig ins Bett. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind. Auch wenn die Zahl der Hungernden seit Jahren rückläufig ist: Wenn Menschen Hungers sterben müssen, ist das ein zum Himmel schreiender Skandal!



Peter Brabeck-Letmathe, derzeit Präsident des Verwaltungsrats des Schweizer Nestlé-Konzerns, schlägt vor: „Das Angebot kann in dieser Situation nur über die Produktivität erhöht werden, und dies wiederum setzt Investitionen in die Landwirtschaft voraus, die in der Vergangenheit sträflich vernachlässigt wurden.“ 







Ein Problem der Gerechtigkeit



Alles, was den Markt reguliert oder gar einschränkt, ist aus Sicht der Lebensmittelkonzerne abzulehnen. Freihandelszonen, Gentechnik, möglichst geringe Lohnkosten und ähnliches gelten als Gebot der Stunde. An Industrialisierung und Massenproduktion führt kein Weg vorbei, wenn unser lieb gewonnener Lebensstandard gehalten werden soll und auch die Armen genug zu essen haben sollen, ist da zu hören.



Wie eine Erwiderung auf solche Positionen liest sich Papst Franziskus in seiner Enzyklika „Laudato si“: „Die Schuld [an der Situation der Armen] dem Bevölkerungszuwachs und nicht dem extremen und selektiven Konsumverhalten einiger anzulasten, ist eine Art, sich den Problemen nicht zu stellen. Es ist der Versuch, auf diese Weise das gegenwärtige Modell der Verteilung zu legitimieren, in dem eine Minderheit sich für berechtigt hält, in einem Verhältnis zu konsumieren, das unmöglich verallgemeinert werden könnte, denn der Planet wäre nicht einmal imstande, die Abfälle eines solchen Konsums zu fassen.“ (Laudato si, Nr. 50) Auf den Punkt gebracht: Weil wir es uns in den westlichen Industrienationen so gut gehen lassen, geht es anderen Menschen so schlecht – wir leben auf Kosten der Armen und auf Kosten unserer Nachkommen, die die Rechnung in der Zukunft werden begleichen müssen. Was also tun?







Europäische Resteverwertung in Afrika 



Jedes Kind hat wohl im Lauf seines Lebens schon einmal gehört: „Iss deinen Teller leer, denk an die armen Kinder in Afrika!“ und in einer Trotzphase dann vielleicht den Eltern geantwortet: „Ihr könnt es ja dorthin schicken!“ Schon die vielleicht naive Vorstellung, ein Rest Pommes frites oder Nudeln könnten, nach Afrika geschickt, den Hunger lindern, zeigt, dass es so einfach dann doch nicht ist. Und auch großherzige Spenden an kirchliche Hilfswerke und andere Nichtregierungsorganisationen sind zwar wichtig, aber global betrachtet oft nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.



Wie tief das Problem in der globalisierten Ernährungsindustrie ist, zeigen die Journalisten Stefan Kreutzberger und Valentin Thurn in ihrem Buch „Die Essensvernichter“. Sie belegen darin nicht nur, dass etwa die Hälfte (!) unserer Lebensmittel im Müll landet, in Deutschland etwa 20 Millionen Tonnen pro Jahr, sondern dokumentieren auch, was beispielsweise im afrikanischen Ghana geschieht, wenn wir gerne Hähnchenfilet und Chicken McNuggets essen: „Noch in den 1990er-Jahren versorgten heimische Landwirte fast den gesamten dortigen Markt mit Hühnerfleisch. Doch in den Jahren 2001 bis 2003 setzte eine Importflut tiefgefrorener Hähnchenflügel und anderer Körperteile ein, für die es in Europa keinen Markt gab. Allein 2003 waren es bereits 39.200 Tonnen Hühnerfleisch aus aller Welt, die für umgerechnet 1,50 Euro pro Kilo auf den Märkten verramscht wurden, während das lokal produzierte Fleisch 2,60 Euro kostete. Gegen diese Konkurrenz waren die ghanaischen Produzenten chancenlos.“ 







Das Dilemma der Armen



Francisco Mari, Referent für Welternährung, Agrarhandel und Meerespolitik bei „Brot für die Welt“, resümiert: „Europa ist dabei, sämtliche Tierhaltung und Tiermast in Afrika zu schädigen oder zu zerstören. EU-Exporte haben bereits Kleinproduzenten in den bisherigen Großimportländern wie Ghana oder Kongo ruiniert.“ Regierungen in Ländern wie Ghana müssen dann entscheiden, ob sie entweder billiges Fleisch für die eigenen Konsumenten aus dem Ausland einführen oder ob sie ihre eigenen Geflügelbauern vor Ort subventionieren wollen. Jan Odink, Vorsitzender der Niederländischen Geflügelverarbeitungsindustrie, stellt fest: „Die meisten Länder entscheiden sich am Ende für das billigere Importfleisch, weil ihnen die Bedürfnisse der Konsumenten wichtiger sind als die Not der eigenen Geflügelzüchter.“ Ein Teufelskreis zwischen dem Hunger der Einen und dem Profit der Anderen. 







Spekulative Gier 



Weit komplexer noch sind die Auswirkungen der Finanzmarktspekulanten. Sie spekulieren auf die Preisentwicklung von Grundnahrungsmitteln. Dabei wird versucht, künftige Preise möglichst exakt vorherzusagen und damit einen Gewinn zu erzielen. Das eigene Kapital wird preistreibend eingesetzt, um den spekulierten Wert dann auch tatsächlich zu erreichen. Die Folge sind künstlich ansteigende Preise – gerade die Armen können sich Grundnahrungsmittel kaum noch leisten. Eine Studie der Hochschule Bremen („Finanzmärkte als Hungerverursacher?“) schätzt beispielsweise, dass solche Finanztätigkeiten im Jahr 2008 für 15% des Preisanstiegs bei Getreide verantwortlich waren. Jean Ziegler, ein Schweizer Soziologe, Globalisierungskritiker und mehrere Jahre lang UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, formuliert es drastisch: „Wer mit Grundnahrungsmitteln spekuliert, tötet Kinder.“







Hat der Verbraucher eine Wahl?



Vom Verbraucher, der im Supermarkt seine Lebensmittel zusammenkauft, sind solche Zusammenhänge häufig weit weg. Denn auch auch hier interessiert in den meisten Fällen immer noch der Preis. Und da kommt es dem Einkaufenden entgegen, dass einige wenige große Einzelhandelsketten eine enorme Marktmacht entwickelt haben und entsprechend bei den Produzenten Preise quasi diktieren können. Von nur ein paar Konzernen und Ketten werden in Deutschland, Österreich und der Schweiz etwa 80% des Umsatzes im Lebensmitteleinzelhandel generiert. In Kauf nimmt der preisbewusste Konsument dabei allerdings, dass diese Konzerne „natürlich“ alles tun, um ihre eigenen Gewinne weiter zu maximieren, meist auf Kosten der Produzenten.



Kann der Verbraucher dann wenigstens bei dem, was er in seinen Einkaufswagen legt, verantwortungsbewusst und ethisch einwandfrei einkaufen? Wohl kaum, wenn er nicht ausdrücklich zertifizierte fair gehandelte Produkte entsprechender Anbieter kauft oder eben Erzeugnisse regional tätiger Unternehmen und Landwirte. Vor einigen Monaten hat der „Markencheck“ der ARD seinen Zuschauern sehr anschaulich vorgeführt, dass es vor den Produkten der Firma Nestlé kaum ein Entkommen gibt: Ob morgens eine Tasse Nespresso oder Kaba von Nesquik, Babynahrung von Alete oder Hundefutter von Beneful, mittags Nudeln von Buitoni oder Fertigprodukte von Maggi, Mövenpick-Eis oder Schokolade von Cailler, Wasser von Vittel oder S. Pellegrino – immer steckt Nestlé mit drin. Unter mehr als 2.000 Marken verkauft der Großkonzern seine Produkte. Mit enormen Werbebudgets – Nahrungsmittelhersteller und Getränkeproduzenten geben allein in Deutschland jährlich 2,8 Milliarden Euro dafür aus, eine Milliarde mehr als die Automobilindustrie – wird versucht, Marktanteile zu steigern. Über Konzerne wie Nestlé, Cargill oder Unilever stellt Jean Ziegler in seinem Buch „Wir lassen sie verhungern“ erzürnt fest: „Heute kontrollieren die zweihundert größten Konzerne der Agrarindustrie rund ein Viertel der globalen Lebensmittelerzeugung. In der Regel erwirtschaften diese Unternehmen astronomische Gewinne und verfügen über weit größere Finanzmittel als die meisten Staaten, in denen sie ihren Sitz haben. De facto haben sie ein Monopol auf die gesamte Nahrungskette, (…) was letztlich die Wahlmöglichkeiten der Erzeuger und Verbraucher erheblich einschränkt.“







Und der Ausweg?



Von den Konzernen und Profiteuren der gegenwärtigen Ernährungswirtschaft erwartet sich Ziegler keine Besserung, ganz im Gegenteil. Die Gier nach noch höheren Gewinnen wird von Jahr zu Jahr stärker. Und auch die Politik hält er für zu sehr verwoben mit dem rücksichtslos-kapitalistischen System. Er setzt auf die Zivilgesellschaft, auf Organisationen wie Greenpeace, Attac oder das Weltsozialforum – und wohl doch auf jeden einzelnen Verbraucher, der zumindest im Kleinen Zeichen setzen kann. Darauf setzt wohl auch Papst Franziskus, der in einem Grußwort anlässlich der Weltausstellung im Jahr 2015, die unter dem Motto „Den Planeten ernähren, Energie für das Leben“ in Mailand stattfand, einen Mentalitätswechsel gefordert hat. Er rief dazu auf, die Vorstellung aufzugeben, „dass unsere täglichen Handlungen keinen Einfluss auf das Leben derer – nah oder fern – haben, die Hunger leiden.“ Jeder kann etwas tun – im Guten wie im Schlechten. 







Viele kleine Schritte



Wenn ich mit Jugendlichen den Film „We Feed the World“ sehe, dann bildet eine Diskussion immer den Abschluss. Da gibt es Familien, die aufs Geld schauen müssen – der Einkauf im Reformhaus übersteigt das Budget bei weitem. Andere Jugendliche stellen fest: Meine Eltern bestimmen, was gekauft wird. Was soll ich da tun? Und auch wenn man es sich vielleicht noch so sehr wünschte, eine Ideallösung gibt es nicht. Ich empfehle immer (und versuche, das selbst auch so zu praktizieren), sich jedes Jahr zwei, drei Dinge auszuwählen, wo man bewusst einen fairen und gerechten Preis zahlt für ein Produkt, das verantwortlich hergestellt ist. Und solange unzählige Menschen bereit sind, für ein Kilo Kaffee in Nespresso-Kapseln weit über € 60,00 zu bezahlen, habe ich Hoffnung, dass wir zumindest die Chance haben, etwas zu verändern. Geld scheint da zu sein. Aber: die Verhaltensänderung beginnt im Kopf.


Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016