Erfinder des Intelligenztests

22. September 2011 | von

Vor hundert Jahren verstarb ein bedeutender Wegbereiter der klassischen experimentellen Psychologie: Alfred Binet. Er leitete das erste psycho-physiologische Laboratorium Frankreichs an der Sorbonne in Paris und entwickelte den Intelligenztest – ein entscheidender Beitrag zur Intelligenzforschung bei Kindern und Jugendlichen.



Das Licht der Welt erblickte Alfred Binet am 11. Juli 1857 in Nizza. Der vielseitig interessierte junge Mann studierte Rechtswissenschaft, Medizin und Biologie. Im Anschluss an seine Studien gründete er zusammen mit Henri Beaunis 1889 das erste psycho-physiologische Laboratorium Frankreichs an der Sorbonne in Paris. 1894 wurde Binet dessen Direktor.

Zur Publikation seiner Forschungen wurde er Herausgeber der von ihm 1895 gegründeten Zeitschrift „L`année psychologique“. Seine wissenschaftliche Arbeit beschäftigte sich hauptsächlich mit der Erfassung und Erforschung der höheren geistigen Tätigkeiten bei Kindern und Erwachsenen. Ohne Zweifel handelt es sich bei Intelligenz um ein innerhalb unseres Kulturkreises besonders beachtetes Merkmal einer Person, trägt es doch nach landläufiger Meinung dazu bei, das Fortkommen und den Erfolg eines Individuums in der Gesellschaft zu fördern.   






AUSWAHL DURCH INTELLIGENZTEST


Was macht für Binet intelligentes Verhalten aus? Er verstand darunter die Art der Bewältigung einer aktuellen Lebenssituation, d. h. konkret: gut urteilen, gut verstehen und gut denken. Binet erhielt bald die Gelegenheit, seine Annahmen und das daraus entwickelte Testverfahren auf breiter Basis einzusetzen, als das Pariser Unterrichtsministerium verfügte, dass Einweisungen von Kindern in Sonderschulen nur noch gestützt auf medizinisch-pädagogische Gutachten erfolgen dürfen.

Binet entwickelte eine Serie von 30 Aufgaben, mit deren Hilfe es ihm in einem Probelauf gelang, 30 schwachsinnige von 50 normalen Kindern zu unterscheiden. Die Aufgaben waren inhaltlich sehr verschieden, z. B. verbaler oder praktischer Art, und in einer Reihe von zunehmender Schwierigkeit. Es galt das sogenannte Staffelprinzip: Jene Aufgaben, welche von zwei Dritteln bis drei Vierteln einer repräsentativen Stichprobe von Kindern eines bestimmten Alters gelöst werden, sind zu alterstypischen Teststaffeln gruppiert. Die Summe aller Aufgaben, die eine Testperson lösen kann, kennzeichnet den Entwicklungsstand auf einer Skala des Intelligenzalters. 

Bei der Entwicklung der Aufgabestellungen hatte Binet die interessante Erkenntnis gewonnen, dass es bei der Suche nach einer Beziehung zwischen Intelligenz und anderen Funktionen angemessener ist, sich nach dem Alter und der Schulklasse der Kinder zu richten als nach der durch die Lehrer vorgenommenen Intelligenzbeurteilung. Wichtig war demnach die Beurteilung des altersbedingten Leistungsfortschritts. Zur Kennzeichnung der individuellen Leistung in den Staffeltests bezog nachfolgend ein anderer Wissenschaftler, W. L. Stern, das Intelligenzalter auf das Lebensalter und schuf damit den Intelligenz-Quotienten (IQ) als altersunabhängigen Bezugsmaßstab. Ein Begriff, der rasch populär wurde und heute allgemein verbreitet ist – unabhängig davon, wie angemessen er benutzt wird.





EINSICHTIGE TESTFRAGEN

Interessant ist ein Blick auf die von Binet in seinen Staffeltests verwendeten Aufgabestellungen. In der Ausgabe von 1908 lauten je drei derartige Aufgaben beispielsweise: Für die Altersgruppe 6 Jahre: Kennt rechts und links, was durch Anfassen der Ohren erkennbar ist. Wiederholt einen Satz von 16 Silben. Kennt Morgen und Nachmittag. Für die Altersgruppe 7 Jahre: Erzählt, was in einem unvollständigen Bild fehlt. Kennt die Zahl der Finger an jeder Hand und an beiden Händen, ohne sie zusammenzuzählen. Wiederholt fünf Ziffern. Für die Altersgruppe 8 Jahre: Liest eine Textpassage und erinnert sich an zwei Details. Benennt vier Farben – rot, gelb, blau und grün. Schreibt einen kurzen Satz nach dem Diktat unter Verwendung von Federhalter und Tinte.

An dem Testverfahren entzündete sich schon bald heftige Kritik. Moniert wurde der Einfluss von Bildung und von gesellschaftlichem Status. Besonders schwerwiegend war jedoch der Einwand, dass unklar war, wie ein festgestellter Unterschied zwischen Intelligenzalter und Lebensalter zu interpretieren sei. Ungeachtet dessen fand der Binet-Test in vielen Ländern rasche Verbreitung und war während eines halben Jahrhunderts das Mittel der Wahl, wenn es um Intelligenzmessung bei Jugendlichen ging.

Am ursprünglichen Verfahren wurden im Rahmen seiner Weiterverbreitung einige Veränderungen vorgenommen. In Amerika entstand an der Stanford-University auf diesem Weg der Stanford-Binet-Test. Im deutschen Sprachraum sind besonders die Bearbeitungen in Form des Binetarium von I. Norden (1953), die Testreihen für Schweizer Kinder von H. Biäsch (1969) und eine Adaption des Stanford-Binet-Verfahrens von H. R. Lückert zu nennen.

Mit seinem Lebenswerk leistete der am 18. Oktober 1911 in Paris verstorbene Alfred Binet einen entscheidenden Beitrag zur Erforschung der kindlichen Intelligenzentwicklung.


Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016