Erforscher der Seelentiefen

01. Januar 1900 | von

Just an der Schwelle zum 19. Jahrhundert - also genau vor hundert Jahren - tat sich einiges in der europäischen Ideengeschichte. Als ob der Einstieg in das neue Jahrhundert besonders markiert werden sollte - passierten zwei denkwürdige Ereignisse: Max Planck hielt seinen berühmten Vortrag über die Quantentheorie und legte damit einen wesentlichen Grundstein für die moderne Physik und Sigmund Freud veröffentlicht sein Buch Die Traumdeutung. Durch die rigide Erforschung seines eigenen Unterbewußtseins war der Nervenarzt zu revolutionären Einsichten gelangt - ein Wendepunkt in der Psychologie, was sich allerdings erst viel später herauskristallisieren sollte.

Glückliche Kindertage. Als erstes Kind der dritten Frau des Juden Jakob Freud wurde Sigmund am 6. Mai 1856 im ostmährischen Freiberg geboren - in eine Zeit großer Umwälzungen politischer und sozialer Natur hinein. Sein Geburtshaus steht heute noch so da wie zu der Zeit, als Freud dort eine glückliche Kindheit mit sieben Geschwistern verbrachte. Als er vier Jahre alt war, zog die Familie aus wirtschaftlichen Gründen nach Wien. Alsbald zeigte sich die hohe Begabung des jungen Sigmund und sein Interesse an der Sprache und seine Neugier auf Unerforschtes. 1873 begann er, Medizin zu studieren und promovierte acht Jahre später. Er lernte die Frau seines Lebens, Martha Bernays, kennen.

Erforschung des Hirns. Sehr geradlinig schien sein Leben und seine Karriere voranzugehen, doch vielfach standen finanzielle Probleme im Vordergrund. Bis 1885 arbeitete Freud im Wiener Allgemeinen Krankenhaus, um sich auf seine eigene Praxis vorzubereiten. Hier fand er auch noch Zeit, um sich seiner wissenschaftlichen Forschungen (vor allem hirnanatomische Studien) zu widmen. In Selbstversuchen versuchte er auch die Wirkung der Droge Kokain. Seiner Bewerbung um eine Dozentur in Neuropathologie wurde dank der Fürsprache eines früheren Professors nachgegeben. Ein Reisestipendium nach Paris eröffnet Freud regelrecht eine neue Welt, als er dort die Forschungen des führenden Neurologen seiner Zeit, Jean Martin Charcot, kennenlernte. Dessen neue Technik der Hypnose begeisterte Freud, und er begann, in seiner neu eröffneten Praxis in Wien mit Nervenkranken zu arbeiten.

Psychologische Mittwochsgesellschaft. Seine Entdeckung des Ödipus-Komplexes (der Sohn rivalisiert mit seinem Vater um die Gunst der Mutter in einer sehr konfliktreichen Phase) lösten große Empörung aus und seine neuartigen Thesen über das Unterbewußtsein des Menschen isolierten ihn zunehmend. Bis zur Jahrhundertwende - womit wir wieder beim Eingangskapitel wären - als aus dem kleinen Expertenkreis, der jeweils mittwochs in Freuds Wohnung diskutierte, ein immer größerer wurde, allmählich wichtige Gäste aus dem Ausland dazustießen, um die Idee des Sigmund Freud kennenzulernen: Freud wurde der Begründer einer Schule. Der heute gängige Begriff der Psychoanalyse war geprägt - mit all ihren komplizierten Theorien und kraß gegen tradierte Auffassungen verstoßend. Freuds Lehre begann, Fuß zu fassen, obwohl es diverser Zwistigkeiten wegen wieder zu Abspaltungen aus der Vereinigung kam. Erwähnt sei hier nur der Schweizer C. G. Jung, der später auch eine eigene Schule gründete.

Rolle des Verdrängten. Mit dem ersten Weltkrieg begann auch für die Weiterentwicklung der Psychoanalyse ein großer Umbruch: die Mitglieder wurden auseinandergerissen und der so wichtige Kontakt ins Ausland jäh unterbrochen. Zudem mußte Freud schwere persönliche Verluste hinnehmen - als sein Freund und großer Gönner, Anton von Freund und fünf Tage später seine mittlere Tochter verstarben. Doch er arbeitete mit noch größerer Disziplin und Konzentration weiter - Ausdruck seiner enormen Willenskraft. Höhepunkt dieser großen Schaffensperiode war die Veröffentlichung von Ich und es, worin er die besondere Rolle des Verdrängten im Unterbewußtsein des Menschen analysiert. Ein wichtiger Baustein in der von ihm gegründeten allgemeinen Wissenschaft von seelischen Prozessen.

Leidenszeit. Doch erneut spielt ihm das Schicksal übel mit, als sein über alles geliebter Enkelsohn siebenjährig an Tuberkulose stirbt. Ein Verlust, den er nach eigenen Worten nie überwunden hat. Bereits 1917 leidet er auch zunehmend an einer schmerzhaften Gaumenschwellung, bei der sechs Jahre später die Diagnose Krebs gestellt wird. 33 Operationen muß Freud über sich ergehen lassen. Ein Großteil seines Kiefers und Gaumens muß entfernt werden und durch eine permanent schmerzende riesige Prothese ersetzt werden. Doch Freud ertrug diese Leidenszeit, die bis an sein Lebensende währen sollte, ohne Klagen. Die Widerstandskraft gegen Schmerzen scheint bei diesem außergewöhnlichen Mann ungemein groß gewesen zu sein.

Späte Anerkennung. Die letzten Jahre seines Lebens wurde ihm wenigstens der lange verschmähte (und verdiente) Ruhm zuteil. Er erlebte den internationalen Aufstieg seiner Psychoanalyse und wurde zum Mitglied der Londoner Royal Society gekürt, die neben dem Nobelpreis wichtigste wissenschaftliche Auszeichnung.
Nach der Besetzung Österreichs durch die Nationalsozoialisten entschied sich Freud zur Emigration. Nach zermürbender Warterei konnte man am 4. Juni 1938 nach London ausreisen. Dort wurde Freud begeistert empfangen und viele bedeutende Persönlichkeiten besuchten den schwerkranken Mann. Die Krankheit schritt unerbittlich fort: Freud verstarb am 23.
September 1939.

Bahnbrechende Lehre. Sigmund Freud erkannte als erster bestimmte seelische Krankheitssymtome, für deren Erklärung und Heilung er Theorie und Praxis und damit ein regelrecht neues Fachgebiet in der Medizin schuf. Er entschlüsselte die Logik unbewußter Gedankenvorgänge und wandelte nicht zuletzt die Ansichten über die Entstehung von Kunst und Literatur entscheidend. Und im Umgangssprachlichen ist jeder von uns bisweilen über einen Freudschen Versprecher gestolpert.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016