Es steht geschrieben...

01. Januar 1900 | von

Der Engländer John Lightfoot (1602-1675) war keineswegs ein Liederjan und Luftikus, wie sein Name (‘Leichtfuß‘) vielleicht vermuten ließe. Vielmehr genoss er als Vizekanzler der Universität Cambridge, vor allem aber als Privatgelehrter und Bibelwissenschaftler einen Ruf, der weit über das englische Königreich hinausreichte.

Wörtliche Interpretation. Was das Textverständnis der Heiligen Schrift betrifft, bekannte sich Lightfoot voll und ganz zu jener Auffassung, welche sich im 17. Jahrhundert unter den Bibelkundigen ungeteilter Zustimmung erfreute. Diese waren nicht nur davon überzeugt, dass die Bibel Gottes Wort enthält, sondern hielten darüber hinaus daran fest, dass der Wortlaut der Heiligen Schrift buchstabengetreu zu verstehen sei. Es steht geschrieben, lautete die Devise. Und damit schienen sämtliche Rückfragen überflüssig. Oder ein Zeichen von Unglauben. Tatsächlich ging auch John Lightfoot von der Voraussetzung aus, alle biblischen Erzählungen würden historische Sachverhalte detailgetreu überliefern. Diese Ansicht brachte ihn eines Tages auf den Gedanken, sämtliche in der Heiligen Schrift enthaltenen Zeitangaben auf die Reihe zu bringen, in der Absicht, auf diese Weise das genaue Datum der Erschaffung des Menschen zu ermitteln. Das Ergebnis dieser Bemühungen nötigte seinen Zeitgenossen zweifellos Bewunderung ab; bei uns Heutigen ruft es eher Befremden hervor. Den Berechnungen des berühmten Gelehrten zufolge nämlich erschuf Gott den ersten Menschen am 23. Oktober 4004 v. Chr., um neun Uhr morgens.
Auch wer sich nicht sonderlich für die Evolutionstheorien interessiert, weiß inzwischen, dass die Naturwissenschaftler und -wissenschaftlerlinnen noch immer darüber diskutieren, wann der Homo sapiens in Erscheinung trat – und dass sich John Lightfoot bei seinen Nachforschungen bezüglich Adams Geburtstag mit Sicherheit um einige zehntausend Jahre verkalkuliert hat.

Der Gottprotz muss sich nie fragen, was richtig ist, er schlägt es nach im Buch der Bücher. Da findet er alles, was er braucht. Da hat er eine Rückenstütze. Da lehnt er sich beflissen und kräftig an. Was immer er unternehmen will, Gott unterschreibt es. Er findet die Sätze, die er braucht, er fände sie im Schlaf. Um Widersprüche braucht er sich nicht zu kümmern, sie kommen ihm zustatten. Er überschlägt, was ihm nicht von Nutzen ist und bleibt an einem unbestreitbaren Satz hängen. Den nimmt er für ewige Zeiten in sich auf, bis er mit seiner Hilfe erreicht hat, was er wollte. Doch dann, wenn das Leben weitergeht, findet er einen anderen Satz.
Der Literaturnobelpreisträger Elias Canetti in seinem Buch Der Ohrenzeuge

Kirchliche Klarstellung. Für Lightfoot stellte sich die Frage gar nicht erst, ob und in welchem Maße die Heilige Schrift zeitbedingte Anschauungen, lückenhafte Erkenntnisse oder wissenschaftlich unhaltbare Aussagen enthalte, weil er den Bibeltext wortwörtlich verstand. Weil diese fundamentalistische Auffassung auch heute noch in manchen Köpfen herumgeistert, sah sich die Päpstliche Bibelkommission in einem 1993 erschienenen Dokument über Die Interpretation der Bibel im Leben der Kirche zu einer Klarstellung veranlasst: Der Fundamentalismus betont über Gebühr die Irrtumslosigkeit der biblischen Texte, besonders was historische Fakten oder so genannte wissenschaftliche Wahrheit betrifft. Oft fasst er als geschichtlich auf, was gar nicht den Anspruch auf Historizität erhebt; denn für den Fundamentalismus ist alles geschichtlich, was in der Vergangenheitsform berichtet oder erzählt wird, ohne dass er auch nur der Möglichkeit eines symbolischen oder figurativen Sinnes die notwendige Beachtung schenkt.

Ideologie mit klaren Lösungen. Für fundamentalistisch orientierte Bibelleser und -leserinnen gibt es kein Problem, für das ein bibelverankerter Glaube keine Lösung bereithielte. Denn Gottes Wort ist evident, sein Sinn eindeutig, sein Anspruch endgültig. Es vermittelt eine klare Weltsicht, es enthält eine unmissverständliche Lehre und es erfordert eine unzweideutige Stellungnahme!
Auffallenderweise haben die Anhänger und Verfechterinnen einer fundamentalistischen Bibellektüre nichts Kreatives zur Schriftinterpretation beizutragen – es sei denn, es biete sich ihnen die Gelegenheit gegen Andersdenkende anzutreten, ein Phänomen dies, welches schon die Anfänge dieser Bewegung charakterisiert.
Ursprünglich verstand man unter Fundamentalismus eine aus dem nordamerikanischen Protestantismus hervorgegangene Strömung, die sich mit der Schriftenreihe The Fundamentals: A Testimony to the Truth (1910-1915) gegen neue Methoden der Schriftinterpretation wandten, deren Anwendung sie für den überhand nehmenden Glaubensverfall verantwortlich machten.

Antworten im Voraus. Eine fundamentalistische Lektüre der Schrift geht davon aus, dass diese gewissermaßen im luftleeren Raum entstanden sei. Sie beachtet weder die psychologischen und charakterlichen Eigenschaften der menschlichen Verfasser, noch deren jeweilige Aussageabsicht. Sie trägt der konkreten Lebens– und Glaubenssituation der ursprünglichen Adressaten keinerlei Rechnung. Und schon gar nicht berücksichtigt sie die literarischen Gattungen und Formen der einzelnen biblischen Bücher. Letztlich läuft diese Art des Umgangs mit der Bibel nicht auf eine Aneignung, sondern auf eine bloße Wiederholung der darin enthaltenen Aussagen heraus. Diese werden wörtlich zitiert und weitergegeben, ähnlich wie ein Schmuckstück in einer Familie von der Großmutter auf die Mutter und von dieser auf die Tochter vererbt wird. Damit aber erweist sich, dass die Grundlage der eigenen Überzeugung gar nicht die Bibel ist, sondern die willkürliche Art wie man an mit ihr umgeht. In Wirklichkeit beruht der Fundamentalismus auf einer subjektiven Vorentscheidung und stellt so seinerseits eine Weise der ‚Interpretation‘ dar. Fundamentalistisch ausgerichtete Gläubige kennen ohnehin alle Antworten im Voraus, die sie in der Bibel suchen. Suchen? Tatsächlich verhalten sie sich doch wie Leute, die Ostereier verstecken und hinterher dann genau wissen, wo sie zu finden sind.

Wurzel Angst. Die Neigung, biblische Texte buchstäblich zu verstehen, und die Weigerung, sie im Zusammenhang auszulegen, hat nur sehr entfernt religiöse Ursachen. Vielmehr scheint es, dass dabei vor allem (unbewusste) psychologische Beweggründe ausschlaggebend sind.
Infolge der immer effektiver funktionierenden Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten sind die Menschen heute weit mehr als früher mit einer Vielzahl von politischen Bewegungen und kulturellen Strömungen, mit einander widersprechenden Weltanschauungen und Wertauffassungen und so mit allen nur möglichen Ideologien und Theorien konfrontiert.
Wenn fundamentalistische Gruppen heute im kirchlichen Raum wiederum vermehrt Zulauf finden, hat das seine Ursache zweifellos auch in einer weit verbreiteten Verunsicherung der Gläubigen. Von dem aufgrund der rasanten Fortentwicklung der modernen Kommunikationsmittel um sich greifenden Pluralismus blieb auch die Kirche nicht verschont. Wo früher Gehorsam geleistet wurde, werden plötzlich Zweifel angemeldet.
Unbestritten ist, dass der Glaube schrumpft, dass die Zweifel sich dehnen, dass die Unsicherheit wächst – und zwar auf Seiten des Kichenvolkes und auf Seiten derer, die mit der Verkündigung beauftragt sind.
Wenn man sich aber nicht mehr auf Gewissheiten berufen kann, welche von allen oder doch von einer überwiegenden Mehrheit geteilt werden, entsteht Angst. Dieser Angst begegnet man häufig dadurch, dass man andere Ansichten unterdrückt und gleichzeitig die eigene Einstellung, und sei es mit Gewalt, durchsetzen versucht.

Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig. Der Apostel Paulus in seinem 1. Brief an die Gemeinde von Korinth, Kapitel 3, Vers 6.

Simplifizierende Antworten. Unsicherheit und Angst drängen auf Vereinheitlichung und damit zur Vereinfachungen. Von daher erklärt es sich, dass orientierungshungrige Menschen vermehrt bei Gurus und deren Heilslehren (Stichworte: New Age, Esoterik, Transzendentale Meditation...) Zuflucht suchen, die durch ihre vereinfachenden Antworten überzeugen. Die in ihrem christlichen Glauben Verunsicherten finden solche simplifizierenden Antworten in fundamentalistisch orientierten Diskussionsgruppen und Bibelzirkeln. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass diese Kreise sich nicht etwa auf das kirchliche Lehramt berufen (dem es nach katholischer Lehre obliegt, die Schrift verbindlich auszulegen), sondern unmittelbar auf den Wortlaut der Bibel rekurrieren. Der sakrosankte Text bildet die unanfechtbare Grundlage nicht nur für die individuelle Lebensführung, sondern auch für das Verhältnis zur religiösen Gemeinschaft.

Beispiel Landverheißung. Welch weit reichende Folgen eine fundamentalistische Schriftinterpretation gelegentlich zeitigt, sei hier am Beispiel der biblischen Landverheißung demonstriert.
Die Landverheißung (und die Hoffnung auf deren Erfüllung) gehört neben der Erwählung durch Jahwe, der Errettung aus dem ägyptischen Sklavendasein und dem Sinaibund zum unverzichtbaren Grundbestand des israelitischen Glaubens und damit der jüdischen Religion.
Wo aber liegt dieses gelobte Land? Welches sind seine Grenzen? In der Hebräischen Bibel finden sich diesbezüglich recht unterschiedliche Vorstellungen.
Da ist zunächst die Verheißung, die an Abraham ergeht: An diesem Tag schloss der Herr mit Abram folgenden Bund: Deinen Nachkommen gebe ich dieses Land vom Grenzbach Ägyptens bis zum großen Strom Euphrat (Gen 15,18) – also fast den ganzen Vorderen Orient.
Später werden diese Grenzen neu definiert; jetzt reichen sie bereits vom Euphrat bis zum Mittelmeer (Deuteronomium 1,7-8; vgl. 11,24). Noch einmal anders (und erheblich kleiner) präsentiert sich das fragliche Gebiet im Ezechielbuch, das gegen Ende des 6. vorchristlichen Jahrhunderts entstanden sein dürfte (vgl. Ezechiel 47,15-20).
Offensichtlich haben wir es hier mit unterschiedlichen, eine endzeitliche Verheißung einschließenden Vorstellungen zu tun, die zeitbedingt sind. Dies aber bedeutet, dass die Bibel keine Handhabe bietet, wenn es darum geht, die Grenzen des Staates Israels festzulegen. Die ultraorthodoxen Gruppen scheren sich wenig darum. Sie nehmen den einen oder anderen biblischen Text wortwörtlich. Unser Beispiel zeigt, dass es nicht genügt, biblische Aussagen einfach zu repetieren. Will man diese Aussagen verstehen, kommt man nicht darum herum, sie zu interpretieren!

 Ausführlich setzt sich der Verfasser dieses Beitrags mit dem Fundamentalismus auseinander in seinem Buch Lust auf die Bibel. Praxisorientierte Zugänge zur Heiligen Schrift, Echter Verlag, Würzburg 2000.

Gefährliches Glaubensverständnis. Jedes Bibelverständnis setzt eine Interpretation voraus. Vor beliebigen interessebedingten und damit einseitigen Deutungen hat die Kirche schon immer gewarnt. In dem bereits erwähnten Dokument über Die Interpretation der Bibel im Leben der Kirche verwahrt sich die päpstliche Bibelkommission ausdrücklich gegen eine fundamentalistische Lektüre der Bibel: Der fundamentalistische Zugang ist gefährlich, denn er zieht Personen an, die auf ihre Lebensprobleme biblische Antworten suchen. Er kann sie täuschen, indem er ihnen fromme, aber illusorische Interpretationen anbietet, statt ihnen zu sagen, dass die Bibel nicht unbedingt sofortige, direkte Antworten auf jedes dieser Probleme bereithält. Ohne es zu sagen lädt der Fundamentalismus zu einer Form der Selbstaufgabe des Denkens ein. Er gibt eine trügerische Sicherheit, indem er unbewusst die menschlichen Grenzen der biblischen Botschaft mit dem göttlichen Inhalt dieser Botschaft verwechselt.

Dem Fundamentalismus kann man eine Tendenz zu geistiger Enge nicht absprechen. Er erachtet zum Beispiel eine alte vergangene Kosmologie, weil man sie in der Bibel findet, als übereinstimmend mit der Realität. Dies verhindert jeglichen Dialog mit einer offenen Auffassung der Beziehung zwischen Kultur und Glauben. Er stützt sich auf eine unkritische Interpretation gewisser Bibeltexte, um politische Ideen und soziales Verhalten zu rechtfertigen, das von Vorurteilen gekennzeichnet ist, die ganz einfach im klaren Gegensatz zum Evangelium stehen, wie zum Beispiel Rassendiskrimination und dergleichen mehr.
Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel im Leben der Kirche
(Das Dokument der Päpstlichen Bibelkommission ist erhältlich beim Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Kaiserstraße 163, 53113 Bonn)

 

 

 

 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016