Europavisionen eines Nationaldichters

01. Januar 1900 | von

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enn ich nicht mehr da sein werde, wird man sehen, wer ich war, hatte Victor Hugo prophezeit. Nach seinem Tod am 22. Mai 1885 wurde der Leichnam unter dem Pariser Arc de Triomphe aufgebahrt. Genau dort, wo Napoleon sich ein Ruhmesdenkmal für seine Feldzüge setzte, würdigte die Grande Nation die geistige Leistung ihres Nationaldichters als gleichwertigen Verdienst. Chronisten berichten, dass zwei Millionen Menschen die Straßen säumten oder dem Sarg zum Pantheon folgten, wo Victor Hugo zwischen Rousseau und Voltaire beigesetzt wurde. Bald nach seinem Tod begann allerdings der Heldenkult um ihn bizarre Blüten zu treiben. Nicht nur auf Straßenschildern und Schulportalen prangte sein Name, sondern auch auf Tintenfässern und Senftöpfen. Ein 500-Francs-Schein mit seinem Konterfei bekam im Volksmund – als Anspielung auf eines seiner bekanntesten Werke – den Spottnamen le miserable.

Bereinigter Heldenkult. Das 1991 in Bièvres bei Paris gegründete Maison Littèraire de Victor Hugo sucht mit Ausstellungen und Veröffentlichungen sein Bild wieder zurechtzurücken: Hier gilt Victor Hugo als geschichtliche Größe, als ein Mann, der nicht nur wegen seiner literarischen Arbeiten, sondern auch wegen seines Engagements als Widersacher der Diktatoren und Fürsprecher der Unterdrückten zu würdigen ist. Der Künstler selbst sah sich als Mann der Utopie, der - zwischen Ideal und Wirklichkeit vermittelnd - die Zeitgenossen auf gesellschaftliche Alternativen vorbereitet. Doch beschränkte er sich nicht nur aufs Schreiben, er mischte sich auch als Politiker in die Entwicklungen seiner Epoche ein. Das brachte ihm einen Sitz in der Nationalversammlung ein, aber auch zwanzig Jahre Exil.

Frühreifes Genie. Wie bei kaum einem anderen Dichter war Victor Hugos Leben und Werk verbunden mit den politischen Umwälzungen seines Jahrhunderts. Die französische Revolution von 1789 war gerade drei Jahre vorüber, als Victor Hugo am 26. Februar 1802 als dritter Sohn eines aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammenden Offiziers in Besançon geboren wurde. Er erlebte alle Staatsformen des 19. Jahrhunderts mit, vom Ersten Kaiserreich über die Restauration, die Julimonarchie, die Zweite Republik, das Zweite Kaiserreich und schließlich die Dritte Republik.
Als frühreifes Genie veröffentlichte er Oden im Geist der Restauration. Zwischen 1830 und 1848 sah sich der romantische Dichter in die Widersprüche der Bürgermonarchie verwickelt. In den Lehrjahren der Republik 1848 bis 1851 verstand sich Victor Hugo – wie die Pariser Revolutionäre – als Avantgarde einer Weltrevolution. Immer mehr wandelte er sich zum Fürsprecher von Befreiungsbewegungen, zum Vorkämpfer für Frieden, Demokratie und sozialer Gerechtigkeit. In seinem Exil auf den britischen Kanalinseln wurde Victor Hugo schließlich zu jenem Utopisten, dessen Engagement weit über sein Heimatland hinausreicht.

Traum Europa. Seine europäischen Visionen datieren schon von früher. 1840, als der Rhein wieder mal zum Gegenstand martialischer Parolen wurde, – Au Rhin! tönte es aus Paris, Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein! schrillte es aus deutschen Landen zurück – besuchte Victor Hugo den Schicksalsfluss der beiden Nationen. Er überhörte das kriegerische Geschrei, ließ sich bezaubern von der märchenhaft schönen Landschaft und den romantischen Manifestationen des Mittelalters. 1842 veröffentlichte er seinen Reisebericht Le Rhin. Darin formulierte er erstmals seine Vorstellungen vom Rhein als europäischem Bindeglied: Mit der Allianz zwischen Frankreich und Deutschland beginnt die Gründung Europas. Und in seinem 1843 aufgeführten Drama Die Burggrafen, das im frühen 13. Jahrhundert spielt, ging er zu den Wurzeln des abendländischen Kaisertums zurück. Er träumte von einer europäischen Nationalität, in der die Konflikte der modernen Nationen aufgehoben werden könnten. Das Publikum vermochte seinen Utopien nicht zu folgen, das Stück fiel am Theater durch.
Bald danach nahm Victor Hugo die Arbeit an seinem Sozialroman Les Miserables (Die Elenden) auf, der erst 1862 veröffentlicht und neben dem 1831 erschienenen Notre-Dame de Paris (Der Glöckner von Notre Dame) im Ausland das bekannteste Werk des produktiven Schriftstellers werden sollte.

Politiker mit Visionen. 1849, nach dem Sturz der Julimonarchie und der Proklamation der Zweiten Republik, wurde Victor Hugo in die verfassungsgebende Nationalversammlung von Paris gewählt. Als dann der Friedenskongress in Paris tagte, organisiert von Revolutionären und Republikanern, um die Weiterentwicklung friedlicher Beziehungen zwischen den Völkern zu fördern, war Victor Hugo Präsident der Versammlung. In seiner Eröffnungsrede prophezeite er: Der Tag wird kommen, wo Ihr alle, Ihr Nationen des Kontinents, Frankreich, Russland, Italien, England, Deutschland, ohne Eure persönlichen Eigenschaften einbüßen zu müssen und ohne Eure ruhmreiche Individualität zu verlieren, geradewegs in einer übergeordneten Einheit miteinander verschmelzt, und Ihr werdet die europäische Brüderlichkeit ins Leben rufen, ...

Ein einzig Volk. 1850 hielt er eine Rede über die Freiheit des Schulwesens, 1851 über das allgemeine Wahlrecht. Mehr und mehr tendierte er zu den Republikanischen Linken. Und schon bald musste er sein Heimatland verlassen, weil er zum Widerstand gegen den Staatsstreich des Präsidenten Louis Napoleon Bonaparte aufgerufen und zu heftig gegen die Einschränkung der Pressefreiheit und des allgemeinen Wahlrechts protestiert hatte. Mit falschem Pass floh er im Dezember 1851 nach Brüssel, von dort weiter nach Jersey, schließlich nach Guernsey.
Im Jahr 1854, zum sechsten Jahrestag der Februar-Revolution von Paris, erklärte er aus seinem Exil auf den Kanalinseln, wie Europa aussehen könnte, hätte die Revolution ihren natürlichen Verlauf genommen. Der Kontinent wäre von einem einzigen Volk bewohnt, die einzelnen Nationalitäten würde ihre Individualität in der Gemeinschaft ausleben. Weiter prognostizierte er, dass es dann keine Grenzen mehr und keine Zölle mehr gäbe, sondern den freien Austausch von Geld und Waren. Eine gemeinsame Währung ist für ihn selbstverständlich: Eine kontinentale Währung, die zwar aus Metall ist, nichtsdestotrotz einer Treuhand obliegt und ihren Rückhalt aus dem Gesamtkapital Europas erfährt, deren Motor die freie Tätigkeit von 200 Millionen Menschen darstellt, diese Währung, eine einzige Währung, würde die gesamte Vielfalt an absurden Zahlungsmitteln von heute ersetzen und ablösen ...

Euro-Vorhersage. 1870 brach der Deutsch-Französische Krieg aus, nach der Niederlage von Sedan wurde Napoleon III. gestürzt und am 4. September wieder mal die Republik (nunmehr die Dritte) ausgerufen. Gleich am nächsten Tag kehrte Victor Hugo nach Paris zurück, wurde erneut in die Nationalversammlung berufen, trat wenig später jedoch zurück. 1876 wählte man ihn in den Senat, wo er sich für die Amnestie der Kommunarden einsetzte. Neben seinen politischen Aktivitäten schrieb er weiter, unter anderem entstand der Gedichtband Die Kunst, Großvater zu sein. 1878 erlitt er einen leichten Schlaganfall, um 1880 ließ seine schöpferische Kraft nach. Seine Manuskripte vermachte er der Bibliotheque National in Paris, die – davon war er überzeugt – eines Tages die Bibliothek der Vereinigten Staaten von Europa sein würde.
Mit dieser Überzeugung behielt der literarische Kopf der romantischen Schule in Frankreich, der nicht nur in seinem Oeuvre humanistische, pazifistische und kosmopolitische Ideen verbreitete, sondern diese auch auf der politischen Bühne vertrat, nicht recht. Doch er war es, der schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts für eine gemeinsame kontinentale Währung plädierte, die nun im Jahr 2002, genau zweihundert Jahre nach Victor Hugos Geburt, Wirklichkeit wird.

Maison Littéraire de Victor Hugo
45 Rue de Vauboyen,
F - 91570 Bièvres
Te. 0033/1-69418284, Fax 0033/1-69418276

 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016