Ganz werden

20. Juni 2011

Wir Menschen sind nie ganz wir selber, weil wir selber nie ganz sind. Dieses Ganzsein erreichen wir, wenn auch stets nur annähernd, indem wir hinfinden zum Frieden mit uns selber. Erst dann können wir auch zum Frieden mit unseren Mitmenschen und zum Frieden mit Gott finden. Das neutestamentliche Liebesgebot „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ ist eine Art Kurzformel dieser christlichen Glaubens- und Lebenspraxis.



Damit wir ganz werden, sind drei Dinge notwendig, nämlich dass wir so zu leben versuchen, wie wir einst sterben möchten, nämlich im Frieden mit uns selber, mit den anderen und mit Gott.

Wie aber finden wir zum Frieden mit uns selbst? Voraussetzung dafür ist ein gesundes Selbstwertgefühl. Manche Menschen stehen sich ständig im Weg. Sie leiden unter ihren Minderwertigkeitskomplexen, können sich nicht ausstehen. Angesichts ihrer Fehler und Mängel fühlen sie sich immer nur klein und elend.

Wie man darüber hinwegkommt, zeigt uns ein Märchen aus der Sammlung der Brüder Grimm; es trägt den Titel Das Eselein.

Das Eselchen kommt als lang ersehnter Spross eines Königspaars zur Welt. Die Mutter will das missgestaltete Wesen den Fischen zum Fraß vorwerfen. Der Vater hingegen akzeptiert es als seinen Sohn. Merkmale des Eselsprinzen sind seine hohen, geraden Ohren, seine aufgestellte Art und seine Lust an der Musik. Von einem berühmten Spielmann erlernt er mit zäher Ausdauer das Lautenspiel. Als er aber eines Tages im Brunnen sein Spiegelbild erblickt, beschließt er vor lauter Niedergeschlagenheit in die Fremde zu ziehen. Mit seinem Lautenspiel verschafft er sich Zutritt zum Hof eines alten Königs. Durch sein vornehmes Benehmen und seine anstellige Art gewinnt er dessen Sympathie. Als er sich bei Tisch zu der Dienerschaft setzen soll, sagt er sehr bestimmt: „Ich bin kein gemeines Stalleselein, ich bin ein vornehmes.“ Also soll er sich zum Kriegsvolk setzen! „Nein, ich will beim König sitzen!“ Denn der hat, wir befinden uns ja mitten in einem Märchen, eine wunderschöne Tochter. Und als der König den Eselsprinzen fragt, was er ihm denn schenken könne (Gold? Schmuck? Kostbarkeiten?), sagt dieser, dass er nur allzu gern seine Tochter zur Frau haben möchte. Die Hochzeit wird gefeiert, die Tierhaut fällt vom Bräutigam ab, und wenn die beiden nicht gestorben sind, so leben sie heute noch.

So was kommt nur im Märchen vor? Nicht doch! So was gibt’s auch und gerade in unserer ganz gewöhnlichen Welt. Denn Märchen berichten fast immer von Dingen, die so nie geschehen sind und die sich doch jeden Tag neu ereignen.



Esel gewinnt Prinzessin

Das Märchen vom Eselsprinzen führt uns vor Augen, dass unser ‚Marktwert’ nicht davon abhängt, dass wir in allen Bereichen besser sind als alle andern – und dass es sehr gefährlich ist, Vergleiche anzustellen. Wollte das Eselchen sein Äußeres mit dem anderer Menschen vergleichen, kriegte es einen Minderwertigkeitskomplex. Würde es sich mit seinem Lautenspiel brüsten, verfiele es dem Hochmut und dem Stolz. Der Eselsprinz indessen prahlt weder mit seinem Können, noch verdrückt er sich in irgendeine Ecke, sondern findet sich mit seinem Aussehen ab. Gleichzeitig weiß er aber auch um seine musikalische Begabung. Er kennt nicht nur seine Grenzen, sondern auch seine Vorzüge. Diese realistische Sicht hilft ihm, trotz seiner Behinderung ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln. Er ist nicht unterwürfig, sondern pflegt die Tugend der Keckheit. So kann er sich annehmen, wie er ist.

Und genau darum geht es doch: Dass wir um unsere Grenzen wissen, uns aber gleichzeitig bewusst sind, dass wir auch Fähigkeiten haben, welche uns auszeichnen. Und dass wir diese Fähigkeiten entwickeln. Wir brauchen beileibe nicht überall mithalten zu können.



Wo Licht, da Schatten

Ein gesundes Selbstwertgefühl allein reicht freilich nicht aus, um mit sich ins Reine zu kommen. Denn mit uns selber sind wir nie im Reinen. Oder nie ganz. Auf überaus drastische Weise bringt der Apostel Paulus diesen Sachverhalt im 7. Kapitel seines Briefes an die Gemeinde von Rom zur Sprache. „Ich begreife mein Handeln nicht: Ich tue nicht das, was ich will, sondern das, was ich hasse. ... Dann aber bin nicht mehr ich es, der so handelt, sondern die in mir wohnende Sünde. Ich weiß, dass in mir nichts Gutes wohnt; das Wollen ist bei mir vorhanden, aber ich vermag das Gute nicht zu verwirklichen. Denn ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will. Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, dann bin nicht mehr ich es, der so handelt, sondern die in mir wohnende Sünde. Ich stoße also auf das Gesetz, dass in mir das Böse vorhanden ist, obwohl ich das Gute tun will“ (Römerbrief 7,15-21). Wer sich in der Seelenkunde ein klein wenig auskennt, wird schnell darauf kommen, dass das Problem, das Paulus hier anspricht, in der Psychologie unter dem Stichwort Schatten verhandelt wird.

Schatten meint jene unterdrückten und verdrängten Eigenschaften, die in unserem Unbewussten, also gleichsam im Kellergeschoss unserer Existenz, ihr heimliches Wesen treiben. Instinktiv tendieren wir dazu, diese Eigenschaften zu verleugnen – und das heißt, sie aus unserem Bewusstsein zu verdrängen, weil sie mit den übrigen, mehr oder weniger bewusst gewählten, von uns als positiv empfundenen, unverträglich (und uns unerträglich) erscheinen. In gewisser Weise ist der Schatten also der finstere Bruder beziehungsweise die dunkle Schwester unseres Ich – also das aus dem Leben Verdrängte und deshalb Unbewältigte.

Der Schatten: unser finsterer Bruder, unsere dunkle Schwester, mit uns aufs Engste verbunden und von uns aufs Heftigste gehasst – genau davon spricht Paulus in dem besagten Abschnitt aus dem Römerbrief: „Denn ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will.“ Wobei Paulus nicht „die Sünde“ verantwortlich macht für das, was er nicht will. Vielmehr betont er, dass diese „Sünde“ in ihm „wohnt“. Mit anderen Worten: Ich bin nicht Herr im eigenen Haus, weil ich dieses Haus mit jemandem teile, den ich nicht einfach hinauswerfen kann, weil wir beide den Mietvertrag unterzeichnet haben. Psychologisch ausgedrückt: Paulus verleugnet seinen dunklen Bruder nicht; er steht zu ihm.

Im Gegensatz zu Paulus neigen wir in der Regel dazu, über unseren Schatten hinwegzusehen, weil wir die Eigenschaften, die wir an uns nicht bejahen können, als peinlich empfinden. Dennoch lässt sich nicht vermeiden, dass wir von diesem Schatten immer wieder eingeholt werden, beispielsweise wenn wir, ganz entgegen unserem Willen und unseren Absichten, einen Menschen, den wir eigentlich ganz gut mögen, anschreien, beleidigen oder demütigen. Hinterher sind wir dann verwundert, dass wir uns derart vergessen konnten. Und fragen uns wohl im Stillen: Wie war das bloß möglich? Das war nicht ich. Aber wer denn sonst?

Die Präsenz des Schattens ist keine Frage der Moral. Die Moral beginnt da, wo sich die Frage stellt, wie wir damit umgehen. Nur wenn wir zu unseren dunklen Seiten stehen, vermögen wir uns selber anzunehmen. Diese Selbstannahme ist die Voraussetzung, dass wir auch unsere Mitmenschen in ihrer Eigenart akzeptieren können. Neutestamentlich ausgedrückt: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Solange wir uns selber ablehnen, werden wir auch keinen Zugang finden zu den anderen.



Verkrüppelter Baum mit Potenzial

Damit sind wir beim zweiten Teil unserer Überlegungen: Friede mit den anderen. In Dostojewskis Roman Der Jüngling ist einmal von einem Arzt die Rede, den alle für einen Ungläubigen und Sünder halten. Der Pilger Makar Iwanowitsch aber sagt: „Es gibt doch gar keine sündigen Menschen, sondern nur Unglückliche.“ Damit will der fromme Gotteswanderer nicht sagen, dass es keine Sünde gibt, sondern dass wir, bevor wir über andere urteilen (und sie verurteilen), zunächst einmal nach den Beweggründen ihres Fehlverhaltens fragen sollten, weil wir uns sonst von vornherein jeden Zugang zu ihnen verbauen. Wie würde es unser Denken, unsere ganze Haltung und unser Handeln verändern, wenn wir uns dazu entschließen könnten, statt immer nur über Versagen und Schuld zu spekulieren, auch einmal das Unglück zu bedenken, das Menschen dazu veranlasst, anderen oder auch sich selber Leid zuzufügen! Dann könnten wir wohl begreifen, dass wir andere nicht dadurch besser machen, indem wir ihnen unsere Gebots- und Verbotstafeln um die Ohren schlagen: Du sollst, du musst, du darfst nicht; du bist selber schuld, und jetzt musst du die Suppe eben ausfressen, die du dir eingebrockt hast!

Stellen wir uns nur einmal vor, was geschehen wäre, wenn Jesus zum Zöllner Zachäus gesagt hätte: „Bessere dich zuerst, und dann können wir allenfalls miteinander reden!“. Es wäre alles beim Alten geblieben. Jesus hingegen geht auf dieses personifizierte öffentliche Ärgernis zu und sagt bloß: „Zachäus, heute möchte ich Gast sein in deinem Haus.“ Und was wäre wohl im Herzen des verlorenen Sohnes vorgegangen, wenn der Vater ihn bei seiner Heimkehr mit hundert Vorwürfen überhäuft und ihm zu allem Überfluss auch noch das Beispiel seines älteren Bruders vor Augen geführt hätte?

Einen Menschen machen wir besser nur, indem wir auf ihn zugehen, uns ihm zuwenden und ihm gerade nicht dauernd zusprechen, sondern schlicht und einfach mit ihm sprechen. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an einen alten Mann, mit dem ich ein mehrstündiges Gespräch geführt habe. Er erzählte mir, dass er während des Krieges eine ungeheure Schuld auf sich geladen hatte. Irgendwann zog mein Gesprächspartner ein Foto aus seiner Brieftasche. Es zeigte einen gänzlich verkrüppelten Baum. Sein Kommentar: Das bin ich. Ich wies ihn darauf hin, dass auch dieser Baum Blätter habe, dass er jedes Jahr von Neuem Knospen ansetze und grüne. Ein paar Jahre später sind wir einander wieder begegnet. Bei dieser Gelegenheit fragte ich, ob er das Bild jenes Baumes immer noch mit sich herumtrage. Er bejahte das und fügte hinzu: Aber ich verabscheue diesen Baum nicht mehr; ich kann mich inzwischen so nehmen, wie ich bin. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: Unser Gespräch damals war für mich der Anfang einer richtigen Auferstehung.



Ideal selbstlose Liebe

Was schließlich den Weg zum Frieden mit Gott betrifft, kann uns ein Gebet der islamischen Mystikerin Rabi’al-Adawiya weiterhelfen, die im 8. Jahrhundert in Basra lebte. Es beginnt mit den Worten: „Mein Gott, wenn ich zu dir bete aus Furcht vor der Hölle, so verbanne mich in die Hölle.“ Der Angst vor der Strafe entspricht die Hoffnung auf Lohn. Davor warnt die islamische Mystikerin in ihrer zweiten Bitte: „Gott, wenn ich zu dir bete aus Hoffnung auf das Paradies, so schließe mich aus vom Paradies.“ In der Tat – was ist denn das für eine Gottesliebe, die ‚Gott’ sagt und dabei an Belohnung denkt? Gott wird so zum Handelspartner. Wie wahre Gottesliebe sich manifestiert, drückt Rabi’al-Adawiya in ihrer letzten Bitte so aus: „Gott, wenn ich aber zu dir bete um deinetwillen, dann entziehe mir nichts von deiner ewigen Schönheit.“

Ist solche selbstlose Liebe überhaupt möglich? Die Frage lässt sich am besten beantworten, wenn wir ein bisschen auf unsere zwischenmenschlichen Beziehungen achten. Wenn wir anderen Menschen zugetan sind, erkennen wir vermutlich schnell, dass wir dabei gleichzeitig oft irgendwelche Vorteile verfolgen. Erst wenn wir uns dessen bewusst sind, können wir versuchen, andere um ihrer selbst willen zu bejahen. In dem Maß, als uns das gelingt, verwirklichen wir gleichzeitig das von der Mystikerin Rabi’al-Adawiya gepriesene Ideal der Gottesliebe.

Wie wir andere für dieses Ideal begeistern können oder sollen, zeigt uns der französische Schriftsteller Antoine de Sainte-Exupéry. „Willst du ein Schiff bauen, rufe nicht die Menschen zusammen, um Pläne zu machen, die Arbeit zu verteilen, Werkzeuge zu holen und Holz zu schlagen, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem großen, endlosen Meer!“ Ähnliches gilt für einen wahrhaft befreienden Christusglauben. Um es in Anlehnung an Antoine de Saint-Exupéry zu sagen: Willst du die Menschen zu Gott und damit zu sich selber führen, dann überschütte sie nicht mit Lehren und erteile ihnen keine Lektionen, rede nicht zu ihnen vom Lohn und drohe ihnen nicht mit der Strafe, sondern zuerst wecke in ihnen das Verlangen nach dem Schöpfer und die Sehnsucht nach seinem Reich!

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016