Geborgenheit im immer Gleichen

17. Mai 2004

Rituale strukturieren das Leben und geben einen festen Halt. Deshalb sind sie gerade in der heutigen, von Chaos und Sinnlosigkeit geprägten Zeit, besonders wertvoll. In ihrer religiösen Form lassen sie den Menschen seine von Gott geschenkte Würde heilsam erfahren – aber nur, wenn er sie regelmäßig pflegt.

“Seit Jahrzehnten lebe ich als Mönch meine Rituale. Und sie machen mir Spaß. Sie geben mir das Gefühl, dass mein Leben wertvoll ist, dass es einen Sinn hat. Sie bringen Ordnung in mein inneres Durcheinander und helfen mir, achtsam und bewusst zu leben“ (Anselm Grün, Geborgenheit finden – Rituale feiern, 1997, S. 11). Was der Benediktinermönch Anselm Grün in seinem Leben nach der Ordensregel an positiven Gefühlen und Strukturen erfahren hat, daran möchte er als spiritueller Berater und Autor seine Zeitgenossen teilhaben lassen.

Lebenshilfe. Jeder Mensch pflegt – bewusst oder unbewusst – bestimmte Rituale. Das sind feste Übungen, die er wiederholt, die seinen Tages-, Wochen- und Jahresablauf strukturieren. Es ist interessant zu beobachten, wie erfinderisch Menschen sind, um mit Ritualen ihr Leben, ihre Arbeits- und Berufswelt und ihre Freizeit zu ordnen und in einen festen Rahmen einzubinden. Damit entgehen sie Gefährdungen, die in ihrer persönlichen Struktur liegen. Sie entdecken ein Heilmittel, das sie brauchen, um ihr Leben zu meistern.
Rituale können eine Hilfe sein, extreme Gefühlsschwankungen zu meistern. Rituale können wie ein Geländer oder ein hilfreicher Rahmen sein. Wir suchen Wege, um mit unserem Ärger, unseren Enttäuschungen, Ängsten, unserer Eifersucht und dem, was uns sonst aus der Bahn werfen könnte, gut umgehen zu können. Aus dem Unbewussten können Verunsicherungen und Ängste auftauchen, die den Schwung nehmen und die Lebensfreude rauben; die Angst, zu versagen, die Angst um Verlust der Gesundheit, die Angst vor finanziellen Schwierigkeiten. Wenn ich meine persönliche Veranlagung, meine Chancen und Gefährdungen erkenne, kann ich auch Rituale entwickeln, die mir hilfreich sind.
In uns steckt das Bedürfnis, Wege für eine sinnvolle Lebensgestaltung zu finden. Rituale können eine Möglichkeit sein, um zu einem sinnvollen, gesunden Leben zu kommen. Sie fördern die Lust am Leben und öffnen uns für Gott und seinen belebenden, heilenden und befreienden Geist.

Struktur und Kraft. Gute Rituale entwickeln auch eine heilende Wirkung und Kraft. Aus dem Unbewussten steigen manchmal ungebändigte und scheinbar willkürliche Kräfte auf, gegen die man sich mit dem Verstand und Willen allein nicht wehren kann. Rituale können hier zu Methoden geistiger Hygiene werden.
Wir kennen persönliche Rituale, die das Leben strukturieren und ihm eine Form geben, die uns gut tut. Hierher gehören zum Beispiel Rituale bei Tagesbeginn, bei der Arbeit, beim Essen, Rituale zur Begrüßung, zum Abschied, Rituale am Abend und zum Tagesabschluss. Es lohnt sich, einmal bewusst einen normalen Tag durchzugehen und dabei anzuschauen, welche festen Gewohnheiten und Übungen man pflegt. Manche davon werden bewusst laufen, manche aber auch unbewusst.
Wir kennen Übergangsrituale, welche wichtige Lebensstationen wie Geburt, Schulbeginn, Erwachsenwerden, Hochzeit und Sterben markieren. Sie werden von kirchlichen Ritualen unterstützend begleitet, wie Taufe, Erstkommunion, Firmung, Trauung, Krankensalbung und Beerdigung. Hierher gehört sicher auch die Beichte als Chance zum Neuanfang und zur Ordnung des eigenen Lebens.
 
Zwanghaft. Nicht jedes Ritual ist hilfreich. Es gibt heilende Rituale, aber auch solche, die krank machen können. Dies gilt besonders für Zwangsrituale. Ein Ritual muss mitten im Chaos Ordnung geben; es muss in der Vielfältigkeit und Beliebigkeit des Lebens festen Halt bieten. Solche Rituale geschehen in Freiheit und werden bewusst vollzogen. Sie sind heilend, weil sie nicht aus unbewusster Angstabwehr gepflegt werden und keinen Zwang zur Leistung in sich haben. Es gibt Menschen, die zur Zwanghaftigkeit neigen. Bei ihnen läuft alles wie ein Uhrwerk ab. Sie verkraften keine Störung. Bei Zwanghaften verstärken Rituale noch das Problem. Sie wirken wie ein Korsett und lassen keinen Freiraum für das Leben. Zwanghafte Menschen wollen ihr ganzes Leben bis ins Detail kontrollieren und nichts dem Zufall überlassen. Dadurch verkrampfen sie immer mehr und sind von einer ständigen Angst begleitet. In den Rahmen der Zwangsrituale gehört der Kontrollzwang. Immer wieder fühlen sich Betroffene gedrängt zu kontrollieren, ob die Haustüre verschlossen, das Auto abgeschlossen ist, ob der Bankauszug stimmt.
Zu dieser Reihe gehören auch der Grübel- und der Waschzwang. Letzterer treibt an, allzu oft die Hände zu waschen, vor allem wenn man eine Türklinke berührt hat oder einen Gegenstand, der irgendwelche Ängste auslöst. Manche leiden auch unter einem Wiederholungszwang. Für all diese Menschen sind Rituale Gift.
Um hier weiterzukommen und zu unterscheiden, ist es gut zu fragen, tun mir meine Rituale gut oder nicht? Engen sie mich ein oder geben sie mir Halt? Fördern sie bei mir Leben, Lebendigkeit; ordnen sie mein Leben und stabilisieren sie es?

Göttliche Würde. Wer den Wert seines Lebens erfahren will, wer nicht nur Pflichterfüller und reiner Leistungsträger sein will, wer ein Leben führen will, das nicht nur aus Arbeiten, Essen und Vergnügen besteht, wer aus dem zermürbenden, banalen Leben herauskommen will, braucht etwas, das größer ist als er selbst: Sein Leben braucht einen göttlichen Wert. Dieser kommt in den Ritualen zum Ausdruck. Wir Menschen haben eine göttliche Würde, die wir durch Rituale pflegen, ja feiern können. Anselm Grün schreibt: “Heute haben viele Menschen das Bedürfnis, ihr Leben wieder durch Rituale zu feiern, weil in ihnen eine tiefe Sehnsucht steckt: ihr Leben müsse doch mehr sein als bloße Pflichterfüllung, als Herumhetzen und die Erwartungen der Anderen erfüllen. Sie ahnen, dass ihr Leben einen tieferen Wert hat, teilhat an der Quelle des göttlichen Lebens, ja, dass göttliches Leben selbst in ihnen sprudelt. Wer dagegen nur so in den Alltag hinein lebt, der kann damit zwar jahrelang seine innere Leere verdecken. Aber irgendwann wird sie ihn einholen. Und dann wird er von der Sinnlosigkeit seines Lebens krank“ (Grün, S. 36).

Geerdete Spiritualität. Es gibt kein geordnetes Leben und erst recht kein geistliches Leben ohne gesunde Struktur des Tages und ohne heilende Rituale. Auch wohlmeinende und fromme Menschen laufen Gefahr, dass ihre Spiritualität nur im Kopf bleibt. Sie haben gute und fromme Gedanken, machen geistliche Erfahrungen, haben tiefe Erkenntnisse, es fehlt ihnen aber die Kraft, ihr Leben danach zu formen. Sie gelangen nicht einmal zur Frage: Was mache ich aus diesen Erkenntnissen und Erfahrungen? Wie baue ich sie in mein Leben ein? Echte Spiritualität muss sich in einer gesunden Lebensordnung ausdrücken. Dabei muss jeder für sich herausfinden, wie sich ein gutes menschliches und geistliches Leben konkretisieren lässt. Das betrifft die gesunde Tagesordnung, eine klare Struktur des Betens und des Arbeitens, eine ausgewogene Aufteilung der Zeit in Einheiten der Stille und des Redens, der Einsamkeit und der Gemeinschaft, der Aktion und der Kontemplation. Eine solche Lebensordnung wird auch greifbar in guten Umgangsformen miteinander. Wer als Christ nach dem Evangelium leben will, muss dieses immer wieder konkret in sein Leben hinein übersetzen. Hilfreich dabei sind feste Rituale. So entsteht eine gesunde Lebenskultur, die nicht nur dem gut tut, der sie übt, sondern auch den Menschen in seiner Umgebung. Auch umgekehrt gilt: Wer Zwangsrituale pflegt, quält seine Umgebung und bringt sie zur Weißglut. Er macht sich und seiner Umgebung das Leben unerträglich.

Kraftvoll verwandeln. Es gibt durchaus fromme Menschen, die von Jesus schwärmen, deren Leben aber chaotisch ist. Sie sprechen von ihrer Frömmigkeit und gehen ihrer Umgebung vielleicht sogar auf die Nerven. Eine Frömmigkeit, die keine prägende Kraft für das Leben hat, ist unecht und wertlos. Hier fehlt die Kraft, das Leben zu verwandeln und zu formen.
Echte Spiritualität hat zu allen Zeiten auch eine Lebenskultur geschaffen, die durchaus sichtbar und überprüfbar ist und für die Menschen in der Umgebung aufbauend wirkt. In den Ritualen nimmt echte Spiritualität konkrete Formen an und wird zur Kunst des gesunden Lebens. Sie erfasst und prägt alle Bereiche des Lebens: das Wohnen, das Essen und Trinken, die Arbeit, die Gemeinschaft, den Umgang mit der Schöpfung, den Umgang miteinander, das Beten, den Umgang mit Besitz und mit den eigenen Kräften.

Disziplin, die frei macht. Für manche ist Disziplin nicht attraktiv, sondern ein Übel. Sie hören aus dem Wort mehr Zwang als Freiheit heraus. Aber Disziplin ist der Weg, das Leid des Lebens beziehungsweise seine negativen Seiten zu verringern. Ich wähle diesen durchaus mühsamen Weg, um große Übel wie Einbrüche und Abgründe, Durchhänger und Rückfälle in meinem Leben zu verringern oder ganz zu vermeiden.
Wenn ich beispielsweise im Tiefsten meines Herzens weiß, dass es mir nicht bekommt, am Abend zu lange in feucht-fröhlicher Runde zu verweilen, darf ich die Dinge nicht laufen lassen, wie sie kommen. Am nächsten Tag würde ich es bereuen. Oder wenn ich zutiefst spüre, dass mir ein Morgenritual mit einer stillen Zeit gut tut, darf ich es nicht von meiner Lust und Laune abhängig machen, ob ich diese stille Zeit einhalte oder nicht. Eine Übung, die mir gut tut, sollte ich pflegen und zwar regelmäßig, denn jedes Ritual braucht Treue. Es ist dann nicht mehr verhandelbar. Nach einer gewissen Zeit des Übens werde ich feststellen, wie sehr ich dieses Ritual brauche und es wird mir wichtig, es täglich wahrzunehmen.
Ein wichtiges Kriterium dafür, ob ein Ritual gut ist, besteht darin, dass es mich innerlich froh macht, mich mit mir selbst in Einklang bringt und Leben fördert.
Beispielhaft für die unzähligen Möglichkeiten von Ritualen sollen hier wenigstens einige Morgen- und Abendrituale betrachtet werden.

Eine entscheidende Weichenstellung ist, wie man seinen Tag beginnt und wie man ihn beschließt. Morgenrituale können entscheiden, ob wir den Tag selber leben oder ob wir gelebt werden. Es hängt durchaus von der Gestaltung der ersten Stunden des Tages ab, ob die Dinge und Ereignisse einen überrollen und bestimmen können. So verführerisch es auch ist, am Morgen möglichst lange im Bett zu bleiben, so negativ wirkt es sich aus, in letzter Minute aus dem Bett zu springen, Katzenwäsche zu machen und zur Arbeit zu hetzen. Ganz sicher gehört zu einem guten Morgenritual, dass ich zeitig aufstehe, um mich in Ruhe zu duschen und anzukleiden und mit Genuss und Zeit ein Frühstück einzunehmen.
Zu einem guten Morgenritual gehört, dass ich mir Zeit lasse und erst einmal nachspüre, wie die vergangene Nacht war. Ich sollte erst einmal in den Tag hineinhören und kurz überlegen, was heute auf mich zukommt. Welche Begegnungen werde ich haben, welche Entscheidungen habe ich zu treffen? Ich halte meine leeren Hände Gott entgegen und bitte ihn um seinen Segen für diesen Tag. Ein weiteres Morgenritual könnte sein, dass ich die frische Luft am offenen Fenster ganz bewusst und tief in meinen Körper hineinströmen lasse und den kommenden Tag mit seinen Überraschungen und Unsicherheiten, aber auch mit seinen Freuden aus Gottes Hand annehme. “Herr, dieser Tag und was er bringen mag, sei mir aus deiner Hand gegeben…“

Von Gottes Liebe berührt. Zu meinem persönlichen Morgenritual gehört auch eine halbe Stunde der Stille. Das muss es aber nicht für jeden sein. Ein guter Auftakt könnte auch ein Morgengebet sein, eine stille Zeit, in der ich den kommenden Tag überdenke und ihn Gott anvertraue. Weitere Möglichkeiten: das Beten eines Psalms oder Lesen eines Bibeltextes, der mich anspricht, Beten des Stundengebetes (Laudes), Hören meditativer Musik oder auch schweigendes Verharren vor einer brennenden Kerze, einer Ikone oder einem Kreuz. So kann ich den inneren Raum des Schweigens in mir entdecken. Das Morgenritual kann auch in einem Kreuzzeichen bestehen, das ich mache. Das Kreuzzeichen ist mir Erinnerung daran, dass ich von Gottes Liebe berührt bin und unter seinem Segen stehe. Es ist auch Eigentumszeichen und sagt mir, dass ich Gott gehöre und nicht der Welt, dass die Welt also keine Macht über mich hat.

Abschluss des Tages. Auch Abendrituale haben eine prägende Wirkung für das Leben. In Familien mit Kindern sehen sie natürlich ganz anders aus als zum Beispiel bei Alleinstehenden. In der Familie sind die Kinder einzubeziehen. Ich denke an ein festes Ritual, bei dem sich der Vater seinen Kindern widmet. Er kann mit den Kindern spielen oder sie zu Bett bringen, ihnen etwas vorlesen und mit ihnen das Abendgebet sprechen. Das ist dann besonders hilfreich, wenn es zum täglichen Ritual wird. Die Kinder bekommen die Sicherheit und das Gefühl, dass der Vater für sie da ist und Zeit hat. Es ist für beide Seiten unbefriedigend, wenn die Kinder darum betteln müssen und keine Regelmäßigkeit aufkommt.
Häufig bestimmt das Fernsehen das Abendritual, und nicht selten werden bereits die Mahlzeiten vor laufendem Fernseher eingenommen. Das entspricht einer passiven Berieselung und macht auf Dauer unzufrieden und träge. Den Kindern raubt der Fernseher Phantasie und Spontaneität, die Erwachsenen verstummen. Es kann hilfreich sein, sinnvolle Sendungen auszuwählen, danach abzuschalten und darüber zu reden. Dies hinterlässt das gute Gefühl, dass wir das Gerät beherrschen, und dass nicht umgekehrt das Gerät uns im Griff hat.

Aktiv werden! Auch für Alleinstehende ist der Fernseher oder Computer eine große Versuchung. Dazu kommt die Versuchung des Alkohols. Es ist die einfachste Art, sich abends zu beschäftigen. Man müsste einmal testen, was man alles ohne Fernseher und PC zustande bringt. Welche Rituale kann ich entwickeln? An einem Abend kann ich Musik hören, an einem andern zur gleichen Zeit lesen oder kreativ werden. Ich kann ins Konzert oder Theater gehen, Freunde besuchen oder mich mit Dingen beschäftigen, auf die ich gerade Lust habe. Sobald ich meine Abende aktiv gestalte, wird sich kaum das Gefühl breit machen, mir falle die Decke auf den Kopf.
Man könnte ein Wort des heiligen Augustinus (“Halte die Ordnung, und die Ordnung erhält dich.“) abwandeln: Halte deine Rituale, und die Rituale erhalten dich.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016