Germania franziskanisch

07. Juli 2022 | von

Das große 800-jährige Jubiläum „franziskanisches Leben in Deutschland“ wurde bereits 2021 gefeiert. Der geplante Festakt in Würzburg, wo die Minderbrüder seit acht Jahrhunderten ununterbrochen leben, musste allerdings wegen Corona um ein Jahr verschoben werden. Den Festvortrag können wir hier in gekürzter Form wiedergeben. Er entfaltet eine geschwisterliche Vision inGeschichte und Gegenwart.

Acht Jahrhunderte franziskanisches Leben in unserem Kulturraum! Die 30 Brüder, die im Herbst 1221 über den Brennerpass kamen, ahnten kaum, welche Dynamik ihr Aufbruch entwickeln würde. Sie brachten ein neues Charisma in unsere Ortskirchen. Städte in Deutschland, Österreich und der Schweiz bauten den Brüdern daher bald Klöster. Die Landgräfin Elisabeth von Thüringen verbündete sich mit ihnen, überwand die sozialen Standesgrenzen und wurde 1228 zur „Schwester in der Welt“. In Dillingen und Augsburg gesellten sich erste franziskanische Schwestern zu den Brüdern. Familien kamen hinzu, und so feiern wir ein buntes Familienfest.

Jubiläen bringen die Gegenwart in den Dialog mit der Geschichte: Erfahrungen der Pioniere können uns inspirieren, denn der Auftrag bleibt derselbe: ein wertvolles Charisma in einer neuen Kultur entfalten und in eine offene Zukunft tragen! Ich buchstabiere dazu ein Zauberwort des Pfingstkapitels, das 1221 in Assisi den Aufbruch nach Norden beschloss: GERMANIA! Acht Buchstaben: Acht ist die Symbolzahl für grundlegend Neues, die Auferstehung und neue Horizonte. Jeder Buchstabe von GERMANIA steht für eine franziskanische Farbe.

Gefährtenschaft! Es sind 27 Brüder, die gemeinsam aufbrachen. Sie sind Originale, doch keine Individualisten: Gefährtenschaft ist eine Grundmelodie ihres Lebens: Gemeinsam Unterwegssein wie Jesus mit seinen Jüngern, und Gefährten den Menschen auf einem Stück Weg. Kämen die 30 Brüder heute über die Alpen, wohin würden sie in unserem Kulturraum ziehen: zu zweit, dritt, zunächst ohne Klöster? Vielleicht liegt durchaus Zukunft in solchen Fragen!

Gefährtenschaft bleibt entscheidend: einander, für Menschen am Rand der Städte und mit allen Gliedern einer Gesellschaft, die sich schon damals polarisierte. Gefährtenschaft bleibt eine Sehnsucht unserer Zeit! Dass Social Media nicht reichen, hat uns die Pandemie mit ihren Kontaktbeschränkungen deutlich gemacht! Es sind nicht virtuelle friends, die im Alltag solidarisch sind, Hoffnungen und Sorgen teilen, schwierige Wege mitgehen – auch Glaubenswege! An Gefährtenschaft mangelt es auch einer Ortskirche, deren große Pastoralräume immer anonymer werden. Ohne Gefährtinnenschaft kann auch kein synodaler Weg gelingen. Wir brauchen Gefährtenschaft im Leben, im Glauben, im Gestalten von Kirche und Welt!

Evangelium! In Deutschland ist der Anteil jener, die einer christlichen Kirche angehören, unter die 50%-Marke gesunken. Ein Land unterwegs in eine nachchristliche Ära? Franz von Assisi kann uns ermutigen: Er lebte lange Jahre, „als ob es Christus nicht gäbe“ (Raoul Manselli, 1917-1984). Sein Gott wartet, bis Menschen ihn suchen! Als eine tiefe Lebenskrise den jungen Kaufmann auf die Sinnsuche trieb, wurde er nicht in städtischen Gottesdiensten fündig, sondern am Rand, an der Peripherie: In San Masseo fand er Stille, Aussätzige weckten sein Herz, in einer desolaten Landkirche überraschte ihn der „arme Christus“, das Blättern in einem Evangeliar zeigte ihm und seinen ersten Gefährten ihren Weg!

Worte Jesu werden für Franz zum Durchbruch in der Sinnsuche. Jahre später beginnt er die Ordensregel mit den programmatischen Worten: Das Leben von uns Minderbrüdern ist dieses: Das Evangelium unseres Herrn Jesus Christus zu leben – zu leben, nicht zu lehren oder zu predigen! Es fehlt unseren Kirchen nicht an Predigern, Theologen und Kirchenrechtlern. Die Brüder, die 1221 hierher kamen, lebten Worte des Evangeliums wie dieses: „Einer ist euer Meister, einer ist Vater, ihr alle seid Geschwister!“

Risiko. 30 Brüder wagten sich damals über die Alpen. Unsere Blicke in die Zukunft sind heute mit viel Berechnung verbunden: Wir investieren in Fonds, um unsere Zukunft abzusichern. Wir renovieren Klöster und ziehen uns an gut gewählte Orte zurück. „R“ steht heute für Rückzug – und subtil für Resignation angesichts des ausgebliebenen Nachwuchses. Die ersten Brüder damals brachen risikobereit in Neuland auf.

Die Franziskaner-Minoriten haben trotz schrumpfender Gemeinschaften in Lage im Bistum Osnabrück eine neue Präsenz gewagt. Kürzlich war ich in Ronchamp. Weil die berühmte Corbusier-Kapelle zum Museum zu werden drohte, haben die Klarissen von Besançon dort mit dem Architekten Renzo Piano risikobereit ein neues Kloster gebaut. Sie gaben dafür ihr historisches Stadtkloster auf, sind nun für Touristen aus aller Welt da, beten in der berühmten Kapelle, sind ohne Klausurmauern ansprechbar, empfangen Ratsuchende, begleiten Exerzitien. Die meisten Besucher seien unreligiös, doch suchend: Il faut planter, là où les gens cherchent! Pflanzen auch wir Bäume, wo spirituell Hungrige heute suchen. Da müssen wir Liebgewordenes loslassen, um für Menschen an ihren Suchorten ansprechbar zu sein.

Menschenliebe. Mönchsväter distanzierten sich von der lauten Welt. Die stille Wüste versprach ihnen Gottes Nähe. Jesu Sendung lag darin, die Menschenfreundlichkeit Gottes erfahrbar zu machen. Humanität bewegte die ersten Brüder, sich am Rand der Städte niederzulassen, bei Hospitälern für Gestrandete aller Art! Doch wie Jesus wendeten sie sich jedem Menschen zu, Bedürftigen wie Superreichen, Glücklichen wie Unglücklichen, Vertrauten wie Fremden.

Unsere Kirchen haben Zukunft, wenn wir uns nicht ins Abseits bewegen, in den eigenen Kreisen bleiben und für Moral stehen, sondern für beherzte Menschlichkeit. In der Flüchtlingskrise des Ukrainekriegs beeindruckt Westeuropa mit seiner Solidarität. Der europäische Familiensinn macht es möglich. Fratelli tutti ruft zu mutigeren Schritten auf: Gottes Familie umfasst die Menschheit, auch Flüchtlinge aus Afrika. Unsere Weltorden haben die Chance, Gemeinschaften zu bilden, die den Familiensinn über Europa hinaus weiten – Geschwisterlichkeit mit weltweitem Horizont. Schon die damalige Brüder-Equipe war international gemischt! Seien wir es heute erneut, beherzt, nicht notgedrungen, sondern prophetisch!

Armut – nicht als Askese und Verzicht verstanden, sondern als Folge aus Gefährtenschaft, Evangelium, Risikofreude und Menschenliebe! Jesus war weder asketisch noch arm! Mein Noviziatsleiter Remigi sagte uns vor 40 Jahren mit Blick auf den Rabbi: „Armut bedeutet nicht, möglichst wenig zu haben, sondern möglichst viel zu teilen“ – nicht nur materiell, sondern auch Zeit, Leben, Erfahrungen, Freude und Sorge – und Lebensraum!

Unsere Brüder zogen auch in Deutschland schon bald aus Hospitälern und einfachen Bauten am Rand der Städte in große Klöster. Indem sie sich jedoch anders als Mönche materiell bewusst abhängig machten von der Bevölkerung in Stadt und Land, blieben sie ihrem Prinzip größtmöglichen Teilens treu: Das Lebensnotwendige sammelnde Brüder kamen in die Dörfer und Häuser, saßen mit Menschen zu Tisch und erlebten sie nicht in Sprechzimmern, sondern in deren Küchen, Stuben und Ställen! Menschen in ihrer eigenen Lebenswelt zu begegnen, selber zugänglich sein, mit Bedürftigen wie Vermögenden im Austausch bleiben, deren Erfahrungen, Hoffnungen und Sorgen teilen: Gaudium et spes hat dies zu einem Kennzeichen von Kirche und zum Kern der Seelsorge erklärt.

Naturliebe. Der Pastoralsoziologe Arndt Bünker sieht in der franziskanischen Spiritualität alle Kernthemen, die Menschen in Europa umtreiben: Gerechtigkeit, Friede, Schöpfungssorge, das Überschreiten von Grenzen, Solidarität, neue Genügsamkeit, die sich mit Lebensfreude verbindet. Papst Franziskus beginnt seine Mitweltenzyklika mit dem Sonnengesang. Der Mystiker aus Assisi hat die Ganzheit der Schöpfung geschaut und geliebt: Alle Lebewesen teilen sich dieselbe Luft und leben auf derselben Mutter Erde. Menschen, Tiere, Pflanzen leben im selben Haus des Lebens.

Ich lernte im Noviziat das Kompostieren. Unser Studienkloster war ein ökologisches Vorzeigeprojekt: führend im Trennen und Sammeln von Abfällen, mit nachhaltiger Energiegewinnung und Wärmedämmung, Reduktion der Autos und Umsteigen auf öffentliche Verkehrsmittel. Nachhaltigkeit und Bescheidenheit im Lebensstil bleibt die Stärke vieler Brüder, getragen von Liebe zur Schöpfung und zum Schöpfer, von Kontemplation und einer Lebenskunst, die auf Sein und nicht auf Haben setzt. Klimajugend und zero-waste-Aktivistinnen zeigen uns jedoch, wo wir uns heute zu mehr Nachhaltigkeit anspornen lassen können.

Integration. Franziskus stieg aus seiner reichen Familie und Zunft aus, als er die Ausgeschlossenen entdeckte. Seine Stadt sprach von bürgerlicher Gleichheit und schuf ein unbarmherziges Gefälle: Wehe den Arbeitslosen, den Behinderten und Betagten ohne Angehörige, den Witwen und verlassenen Gattinnen, die allein für ihre Kinder zu sorgen hatten; wehe den psychisch Belasteten und Kränkelnden. In 800 Jahren haben franziskanische Brüder und Schwestern integrierend gewirkt: Kaum eine Ordensfamilie war derart kreativ im Gründen sozialer Werke, in politischen Friedensinitiativen, im Eröffnen von Schulen in strukturschwachen Gegenden. Heute sind wir mit wenig Nachwuchs sozial wie schulisch auf dem Rückzug. Doch die Herausforderung bleibt. Papst Franziskus spricht die Indifferenz an: Gleichgültigkeit der Etablierten gegenüber den Unbehausten, der Bessergestellten gegenüber sozial Schwachen. Wir können uns keine Gleichgültigkeit erlauben gegenüber Menschen, die das Vaterunser beten und kein Brot haben oder unter Exklusion leiden. Auch ohne soziale Werke: Lasst uns nicht achtlos an Menschen vorbeigehen, die Gott besonders am Herzen liegen.

Alle. Augsburg feierte im Herbst 2021 die franziskanischen Anfänge in der Stadt, von der die ersten Brüder in alle Himmelsrichtungen aufbrachen. Das Zentrum der Feiern war die Barfüßerkirche, seit 1535 lutherisch! Pfarrerin Gesine Beck war Gastgeberin der vielen Aktiven und der zentralen Anlässe. Es würden ja auch die Anfänge ihrer Barfüßergemeinde gefeiert! Die Farben des Regenbogens: Schwestern aller Art, Brüder aller Zweige, Singles, Paare und Familien, neue Netzwerke, ihr Zusammenspiel, das das Feiern in Augsburg 2021 prägte, scheint mir ein Auftrag in die Zukunft zu sein. Schauen wir gemeinsam, Schwestern, Brüder, Familienleute und Singles, wo es uns morgen braucht: In welches Neuland wir gehen, was wir mit vereinter Kraft anpacken, wohin wir unser Charisma neu tragen! Wir verpassen Chancen, wenn jede Gemeinschaft nur auf ihre eigenen Kräfte blickt und den Weg in die Zukunft allein geht. Vernetzt und gemeinsam engagiert: Elisabeth, Patronin der deutschen Minoritenprovinz, hat sich schon damals mit den Brüdern verbündet und ein kraftvolles Zeichen gesetzt für die franziskanische Kunst, mit vereinten Kräften auf die Nöte und Chancen der Zeit zu antworten.

Gefährtenschaft Kirche und Gesellschaft brauchen unsere geschwisterliche Vision, weil Gottes Sohn allen Menschen Bruder geworden ist!

 

Evangelium Die befreiende Botschaft Jesu und die Sendung der Jünger wollen aktualisiert sein, katholisch synodal und ökumenisch vernetzt.

 

Risiko 800 Jahre begannen mit dem Mut, sich in Neuland zu wagen. Zukunft lebt nicht vom Hüten der Geschichte, sondern von Aufbruch.

 

Menschenliebe Die ersten Brüder kamen mit einer Friedensmission. Auch unsere Gesellschaft braucht das Zeichen einer Humanität ohne Grenzen.

 

Armut Die gewollte Abhängigkeit von unserer Mitwelt lehrt uns das Teilen von Mitteln und Zeit mit der ganzen Menschheitsfamilie.

 

Naturliebe Klimajugend und Franziskus’ Enzykliken fordern uns auf, nicht bei unseren nachhaltigen Lebensformen der 1980er stehen zu bleiben!

 

Integration Franziskaner und Franziskanerinnen waren sozial prophetisch: Wer „Vaterunser“ betet, überwindet Exklusion im Kleinen und Großen.

 

Alle Aus 30 Brüdern ist eine bunte franziskanische Familie geworden. Lasst uns unsere Zukunft gemeinsam und mit vereinter Kraft gestalten!

Zuletzt aktualisiert: 07. Juli 2022
Kommentar