Geschichtslektion im Garten der Gerechten

25. Juli 2011

Der Besuch des jüdischen Friedhofs von Neunkirchen, einer von 24 im Bundesland Niederösterreich, gibt eindrucksvollen und bewegenden Einblick in die Geschichte der ehemaligen jüdischen Gemeinde der Stadt. Unser Autor hat den Friedhof erforscht und ein Verzeichnis der 150 Grabstätten samt ihrer Inschriften angelegt.



Dieser Friedhof ist einer von den 24 jüdischen Friedhöfen, die es in unserem Bundesland Niederösterreich gibt und die alle in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angelegt wurden. Abgesehen von den Synagogenfundamenten in der Rohrbacher Straße, die als Mahnmal belassen wurden, ist der Friedhof das deutlichste und einzige Zeugnis dafür, dass Juden hier gelebt haben. Wer sich Zeit nimmt, die Inschriften und Symbole der Grabsteine zu studieren, erfährt viel über Leben und Glauben der hier Ruhenden. Da ein Friedhofsverzeichnis nicht mehr vorhanden ist – es ging in der NS-Zeit verloren oder wurde vernichtet –, habe ich versucht, ein Verzeichnis der noch lesbaren Namen und Daten zu erstellen. Doch die Verwitterung schreitet voran, so dass unwiederbringlich Namen, Texte und Daten unleserlich werden und verschwinden. Von den circa 155 erhaltenen Grabsteinen sind 135, wenn auch oft mit Mühe, lesbar. Bestattungen selbst gab es über 170. Ein Datum des Grauens, die „Kristallnacht“, hat auch hier bleibende Spuren hinterlassen. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurden im damaligen Deutschen Reich in einer geplanten Aktion öffentliche jüdische Einrichtungen, Synagogen und Friedhöfe demoliert oder niedergebrannt.

In Niederösterreich, im Burgenland und in der Oststeiermark sind 45 jüdische Friedhöfe verwüstet worden. Zerbrochene Grabsteine, die heute schon in der Erde versunken sind, und Grabmäler, die Überlebende nach dem Holocaust wieder aufstellen ließen, geben auch in Neunkirchen Zeugnis von diesem dunklen Kapitel österreichischer Geschichte. Der Untergang der jüdischen Gemeinde ist hier ablesbar.



BÜRGERLICH-CHRISTLICHE KULTUR

Nach der Beisetzung von Sigmund Preis, der 1938 im Alter von 39 Jahren von den Nazis ermordet wurde, erfolgten nach 1945 nur drei Bestattungen. Einige wenige Juden kehrten nach dem Krieg in die Stadt Neunkirchen zurück.

Jeder jüdische Friedhof gibt auch Auskunft über das Phänomen der Assimilation an die bürgerlich-christliche Kultur. Hier in

Neunkirchen muss die Verwurzelung in der jüdischen Tradition noch stark und vorherrschend gewesen sein. Im Vergleich zur jüdischen Abteilung auf dem Zentralfriedhof in Wien finden wir hier verhältnismäßig viele Grabsteine (ca. 40 Prozent), die ausschließlich hebräisch beschriftet sind. Auf vielen anderen sind deutschsprachige Angaben (Name und Datum) unter den traditionellen hebräischen Text gesetzt. Grabsteine mit hebräischem Text weisen ein relativ einheitliches Grundschema auf. Die Inschrift beginnt mit zwei Buchstaben, die das „Hier ruht“ abkürzen, und endet mit fünf einzelnen Buchstaben, die den Segenswunsch aus 1 Sam 25,29 durch den Anfangsbuchstaben der Worte wiedergeben: „Seine (ihre) Seele sei eingeschlossen im Bündel des Lebens.“ Dazwischen stehen Angaben über den Verstorbenen, vor allem was diesen ausgezeichnet hat.





WEITHIN REICHTE SEIN RUF

Auf etwa dreißig Steinen ist das Lob des Verstorbenen als Akrostikon verfasst, das heißt die Anfangsbuchstaben der Zeilen, von oben nach unten gelesen, geben den Namen des Bestatteten wieder; sie sind hervorgehoben durch größere Buchstaben oder durch Markierungen darüber. Auf dem Grabstein, der für den letzten in Neunkirchen amtierenden Rabbiner – er starb 1927 – gesetzt wurde, lesen wir das poesievolle Lob: „Unser verehrter Vater und Lehrer liegt hier begraben im Garten der Gerechten. Der Meister und Rabbi, der unermüdlich die heilige Lehre verteidigte, Shimon Zwi Goldstein. Sein Andenken sei gesegnet! Ein guter Name ging von Shimon aus und weithin reichte sein Ruf. Barmherzigkeit und rechten Spruch hat er geliebt. Dem Volk des Herrn gab er festen Halt. Der Herr nehme seine Seele auf in Liebe. Am letzten Tag von Pessach ist seine Seele heimgegangen.“

Die hebräischen Inschriften geben nach dem Namen des Verstorbenen oft den des Vaters an, oder auch den der Mutter. Bei verheirateten Frauen wird der Name des Ehemannes genannt. Der bürgerliche Vorname ist oft mit einem aus der jüdischen Tradition verbunden. Dazu einige Beispiele: Alexander-Meshulam, Regina-Rivka, Katharina-Krindl, Josef-Segal, Abraham-Adolf, Moritz-Moshe, Rosa-Rachel, Karl-Kalman, Isidor-Jitzchak.

Die Übersetzung der Daten des hebräischen Kalenders ist nicht besonders schwierig, wenn man den Schlüssel dazu kennt. Da die hebräischen Buchstaben jeweils auch einen Zahlenwert besitzen, müssen die als Ziffern kenntlich gemachten Buchstaben addiert werden. Das Jahr 9. September 2010 – 28. September 2011 entspricht der Jahreszahl 5771 im jüdischen Kalender.





DAVIDSSCHILD UND LEBENSBAUM

Zwei Symbole, die wir auch auf unserem Friedhof antreffen, weisen auf eine religiöse Besonderheit der hier Bestatteten hin: Der Levitenkrug und die segnenden Hände. Der Krug, manchmal auch verbunden mit einer Wasserschale, will die Abstammung aus dem Stamme Levi bezeugen. Die Leviten dienten in biblischer Zeit im Tempel von Jerusalem. Ihr Symbol ist der Krug mit dem reinigenden Wasser. Auf dem Grabmal des Ludwig Kohn (Jakob Elieser Ha-Kohen) sehen wir die segnenden Priesterhände. Der Familienname weist hier auf die Herkunft aus einer Priester-Familie der biblischen Zeit hin. Mit erhobenen Händen segnen die „Kohanim“ die Gemeinde im Synagogengottesdienst mit dem aaronitischen Segen (Num 6,22-27).

Mehrmals begegnen wir dem „Davidsschild“, der seit frühester Zeit in verschiedenen Kulturen als Ornament benützt wurde. Zum allgemeinen Symbol des Judentums wurde der Stern aber erst im 19. und 20. Jahrhundert. Der „Lebensbaum“ ist eine poetische Bezeichnung der Gotteslehre (Tora), die dem gläubigen Juden den Weg zur Lebenserfüllung weist. Die Krone versinnbildlicht den Namen. „Drei Kronen können den Menschen zieren: die Krone der Tora, des Priestertums, des Königtums, aber die des guten Namens überragt alle drei“ (Sprüche der Väter 4,17).

Der Mittelteil des Friedhofes ist eine ungepflegte Wiese, geplant als Abteilung für Kindergräber. Hier haben die aus verschiedenen Ländern deportierten Juden, die in der Zeit von 1940 bis 1945 als Zwangsarbeiter in Neunkirchen lebten und unter unmenschlichen Verhältnissen in der Synagoge einquartiert waren, ihre Toten begraben. Man weiß nicht genau, wie viele hier bestattet wurden.





Deportation und Vaterlandsdienst

Eine Blechtafel, die im hohen Gras leicht zu übersehen ist, bezeichnet das einzige nicht namenlose Grab. Dieser Text in ungarischer Sprache wurde mit einfachem Werkzeug hineingehämmert: „Die Grausamkeiten der Deportation haben nicht überlebt die Frau des Sandor Porgesz und Peter Kun. Hier haben wir unsere teuren Angehörigen begraben. Im Jahr 1945.“ Wenige Meter von den namenlosen Deportiertengräbern – wie zum Beweis, dass diese Juden, denen der Rassenwahn das Menschsein absprach, treue Bürger ihres Vaterlandes waren – lesen wir den Namen „Wilhelm Bellak“, eines k.u.k. Hauptmannes der Reserve, und „Dr. juris Simon Meller-Kriegel“, eines Einjährig-Freiwilligen im k.u.k. Inf.-Reg. Hoch und Deutschmeister No 4, gestorben im 25. Lebensjahr ...

Es hat in Neunkirchen nur bis 1938 eine jüdische Gemeinde gegeben, der Friedhof aber ist im Verständnis der Juden kein ehemaliger, sondern „bet olam“, Stätte der Ewigkeit. Er ist ein Zeugnis biblischer Hoffnungskraft, des Glaubens an Gott, der selbst die Gräber öffnet und Tote erweckt. 


Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016