Gleichnisse der Barmherzigkeit

01. Januar 1900 | von

Der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist (Lk 19,10).
Lukas überliefert eine Reihe von Erzählungen, die man Gleichnisse des Erbarmens nennen kann. Die Gleichnisse vom verirrten Schaf (15,1-7), von der verlorenen Drachme (15,8-10) und vom verlorenen Sohn (15,11-32) sprechen in verschiedenen Bildern den gleichen Grundgedanken aus: Gott lässt den Sünder nicht laufen, mag er noch so weit abgeirrt sein, die Liebe Gottes holt ihn ein und bringt ihn auf den rechten Weg. Lukas hebt besonders die Freude hervor, die Gott über die Rettung des Verlorenen hat. Gott selbst ist in seiner grenzenlosen Liebe den Menschen nahe gekommen. So versteht der Evangelist das programmatische Wort Jesu: Das Reich Gottes ist nahe.

Anstößiger Umgang. Alle Zöllner und Sünder kamen zu ihm, um ihn zu hören. Die Pharisäer und Schriftgelehrten empörten sich darüber und sagten: Er gibt sich mit Sündern ab und isst sogar mit ihnen (Lk 15,1-2). So beginnt das 15. Kapitel mit seinen drei Gleichnissen. Für alle ist er gekommen, alle sind eingeladen, und wenn alle zu ihm kommen, finden sie Aufnahme und Heil. Damit ist die Sendung Jesu schon deutlich geworden. Die Schriftgelehrten und Pharisäer nehmen daran Anstoß. Wenn Jesus mit den Sündern isst, so zeigt er, dass er gerade mit diesen sich verbunden fühlt, er macht sich eins mit ihnen, er stempelt sich praktisch selbst zum Gottlosen - er, der Meister und Lehrer, der Dämonen austreibt und Wunder tut.
Die folgenden Gleichnisse, die Jesus erzählt, gehen von dem Ärger aus, die seine Zuwendung zu den Sündern bei den Frommen hervorrief. Jesus versucht ihr Verständnis für sein Verhalten zu wecken und ihnen, aber auch uns, zu zeigen, wie Gott ist. Lukas bietet uns gerade in diesem Kapitel eine Gotteslehre ohne Formelsprache in lebendigen Bildern.

Sünderliebe hat Vorrang. Mit wenigen Strichen zeichnet der Evangelist im Gleichnis vom verlorenen Schaf (Lk 15,4 –7) das Bild des Hirten, der wegen eines in der Steppe verlorenen Schafes 99 zurücklässt, um das verirrte zu suchen. Man empfindet Sympathie für diesen Hirten, der das Risiko des Verlustes einer großen Herde auf sich nimmt, weil ihm an jedem einzelnen Tier so viel gelegen ist. Seine Freude über das wiedergefundene Schaf zeigt sich darin, dass er es nicht verärgert vor sich her zurücktreibt, sondern auf den Schultern trägt. Gott geht jedem Verlorenen nach, sucht ihn und freut sich über seine Umkehr. Die Deutung, die Jesus der Erzählung gibt, überschreitet das Motiv des Bildes, denn verirrte Schafe können nur gefunden und zurückgeholt werden, Sünder aber werden zur Umkehr gerufen und eingeladen. Gott sorgt sich um das Verlorene wie ein Mann, aber auch wie eine Frau im alltäglichen Lebensbereich.
Der wohlhabende Herdenbesitzer und die arme Frau im Gleichnis der verlorenen Drachme (Lk 15,8-10) sind beispielhaft. Die arme Frau zündet eine Öllampe an und fegt die Ecken ihrer Wohnung so lange aus, bis sie schließlich die Münze wiederfindet. Ihrer Freude gibt sie einen überschwänglichen Ausdruck in der Einladung der Nachbarinnen. Dass die arme Frau und der Herdenbesitzer zu einem Fest einladen, überschreitet das aus dem Alltag bekannte Bild und drückt schon die Freude Gottes aus, die beide Gleichnisse verbindet: Ich sage euch: So wird im Himmel mehr Freude sein über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über 99 Gerechte, die es nicht nötig haben umzukehren. (Lk 15,7.10).

Kehrt um! Dies bedeutet nicht, dass Gott an den Gerechten kein Interesse hätte, von seiner Liebe ist keiner ausgeschlossen: Aber in der Sicht des Lukas hat die Sünderliebe Gottes den Vorrang. Diese Verkündigung will vielen Fernstehenden Mut machen, ein neues Leben zu beginnen und selbstgerechtes Verhalten als gottwidrig entlarven.
Mit dem Hirten hat uns Jesus nicht bloß gleichnishaft ein Bild Gottes gegeben, sondern sich selbst nachgezeichnet. Er ist der gute Hirte (Joh 10,11-21).
Der Prophet Ezechiel hat das Sorge-Thema schon vor Jesus und Lukas verdeutlicht: So spricht der Herr: Ich habe keinen Gefallen am Tod des Sünders, vielmehr, dass er seine bösen Wege verlässt und am Leben bleibt! Kehrt um auf euren bösen Wegen (Ez 3,11). Wie ein Hirte sich um die Tiere seiner Herde kümmert, (...) die sich verirrt haben, so kümmere ich mich um meine Schafe und hole sie zurück von allen Orten, wohin sie sich am dunklen, düsteren Tag zerstreut haben (Ez 34,11f).

Gleichnis vom verlorenen Sohn. Dem Doppelgleichnis hat Lukas als Drittes das Gleichnis vom Vater und den zwei Söhnen (15,11-32) hinzugefügt. Es stammt aus dem Sondergut des Lukas und zählt zu den großen Beispielerzählungen, die dem Lukas-Evangelium sein besonderes Gepräge geben. Kaum ein Evangelientext hat bei Dichtern und Malern ein solches Echo gefunden, wie das Gleichnis vom verlorenen Sohn, den der Vater mit offenen Armen aufnimmt und wieder in sein Erbe einsetzt. Hier wird in einer besonderen Dichte das Wesen der Sünde, die notwendige Umkehr und die Sünderliebe Gottes anschaulich.
Was den Vater betrübt, ist das Fortgehen seines Sohnes, dieses Nicht-mehr-Sohn-sein-wollen, die Tatsache, dass er es dem Vater unmöglich gemacht hat, seinem Sohn Liebe und Güte zu schenken.
Im biblischen Hebräisch heißt Sünde das Ziel, die Bestimmung verlieren; vom Weg abkommen. Der jüngere Sohn ist vom Weg abgekommen. Doch zielt die Erzählung nicht in erster Linie auf den Ungehorsam, den nur der ältere Bruder nennt, um ihn seinem eigenen Gehorsam gegenüberzustellen. Er hat seinen Vater beleidigt, indem er ihn seiner Anwesenheit als Sohn beraubt hat. Die Wiedergutmachung der Beleidigung wäre also ohne Rückkehr und ohne Bereitschaft, wieder ganz Sohn sein zu wollen, undenkbar. Doch da ereignet sich die Bekehrung. Die Bibel verwendet dafür das vielsagende Bild vom Zurückkehren: Ich will aufbrechen und zu meinem Vater gehen (V.20).

Verständnis für den Verlorenen. Und als der Vater den verkommenen Sohn zurückkehren sieht, vergisst er sozusagen, wer er selbst ist. Das Erbarmen treibt ihn dazu, ganz gegen die jüdische Sitte dem unrein Gewordenen – er war bei den Schweinen! – entgegenzulaufen, ihn zu umarmen und zu küssen. Die Liebe drängt ihn, den reuig Umkehrenden als sein Kind anzunehmen, ganz ohne Vorleistungen und auch nicht auf Bewährung! Das Anziehen von Kleid, Ring und Schuhen deutet an, dass er ihm alle Rechte eines Sohnes zurückgibt.
Das Festmahl ist Ausdruck der Freude über die Heimkehr des Verlorenen, über die Errettung dessen, der dem Tod verfallen war.
Zum Abschluss des Gleichnisses erzählt Jesus noch von dem älteren Sohn. Dieser ist über die Güte des Vaters verärgert. Wie kleinlich denkt dieser, obwohl ihm doch alles gehört! Auch den gerechten Sohn liebt der Vater – aber dieser muss Stellung beziehen zum Verhalten des Vaters. Du müsstest mitfeiern und dich freuen ... Damit will der Vater ausdrücken: Tust du das, dann bleibst du in Gemeinschaft mit deinem Vater und deinem Bruder; tust du es nicht, dann gibst du nicht nur die Gemeinschaft mit deinem Bruder, sondern auch die Gemeinschaft mit dem Vater auf! Der Vater wirbt um das Verständnis seines älteren Sohnes und lädt ihn zum Fest ein. Ob dieser sich besinnt oder dem Fest fernbleibt, wird nicht mehr erzählt. Ebenso wirbt Jesus um das Verständnis der Pharisäer und Schriftgelehrten, die an seiner einladenden Offenheit und Güte zu allen Menschen Anstoß nehmen.

Die neue Denkart Gottes. Die Botschaft vom barmherzigen Gott ist für einen jeden von uns ungeheuer wichtig. Sie ist eine Zusage, die uns bei all unserer Sündhaftigkeit leben und bestehen lässt.
Wir dürfen uns im verlorenen Sohn wiederfinden und uns über die Barmherzigkeit des Vaters im Himmel freuen. Unsere Umkehr zum Vater ist allerdings von kurzer Dauer, wenn wir uns verhalten wie der unbarmherzige Bruder. Wer unbarmherzig ist, wird die Barmherzigkeit Gottes wieder verlieren.
Wer sich vergegenwärtigt, wie viel Liebe und Güte er von Gott ein Leben lang erfahren hat, der wird dankbar sein und seine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen in konkreter, alltäglicher Liebe zu den Mitmenschen.
Jesu Anstößigkeit im Umgang mit jenen Menschen, die als Sünder galten, wird in Lk 15 verteidigt mit dem Hinweis: Jesus tut das, was der Vater tut, weil er denkt, wie der Vater denkt. In Jesus kommt die Liebe Gottes den Menschen nahe, in Jesus offenbart sich diese neue Denkart Gottes. Jesus handelt nicht nur im Auftrag Gottes, sondern an Gottes Stelle!

Empfehlung für die Kirche. Auch die Kirche muss die neue Denkart Gottes offenbar machen, sie muss Gemeinschaft suchen mit den Sündern, den Gott und der Kirche Fernstehenden – auch wenn es ihr den Widerspruch der Gerechten einträgt. Sie muss das Wirken Gottes fortsetzen: Den Verlorenen nachgehen und sich freuen über jeden, der zurückfindet.
Lukas mag durch die besondere Betonung der Sünderliebe Gottes auch manche Fragen der Gemeinde aufgegriffen haben: Wie verhalten sich Christen in der Gemeinde gegenüber den Sündern, die um Aufnahme bitten? Wie wird man in der Kirche mit der Schuld fertig, die trotz göttlichen Verzeihens die Gemeinschaft sehr belasten kann?

 

Zuletzt aktualisiert: 05. Oktober 2016