Gott schmecken

01. Februar 2017 | von

Spirituelle Überlegungen zum Essen, Trinken und Fasten stehen zu Beginn der jährlichen Fastenzeit und sind unser Thema des Monats.

Es ist keine leichte Aufgabe, in einer satten, ja vielfach sogar übersättigten Gesellschaft einen guten Geschmack zu entwickeln und zu bewahren. Vielleicht ist das dort sogar schwerer als in einer hungrigen, mangelernährten Gesellschaft. Und doch spielt ein guter, differenzierter Geschmack für Speisen und Getränke eine zentrale Rolle, wenn wir erfüllt leben wollen. Denn schon oberflächlich betrachtet sind Essen und Trinken nach dem Schlafen (und vielleicht noch nach dem Fernsehen) diejenigen Tätigkeiten, denen wir die meiste Lebenszeit widmen. Und etwas genauer hingeschaut, werden wir schnell merken, wie sehr unser Glück vom Essen und Trinken abhängt. Ein gutes Essen lässt vielen Kummer vergessen. Es führt verschiedene Menschen an einem Tisch in Frieden zusammen. Es schenkt Freude auch in Tagen der Krankheit. Es ist eines der schönsten Zeichen von Wertschätzung, Freundschaft und Liebe.

Geschmack am Essen – und an Gott
Wer Essen und Trinken aus Krankheits- oder Altersgründen nicht mehr richtig schmecken kann, empfindet das als großen Verlust. Doch am schlimmsten dran sind jene, die nie richtig schmecken gelernt haben. Wer ein besonderes Gewürz aus einer Speise nicht herausschmeckt; wer den Unterschied verschiedener Rebsorten beim Wein nicht kennt; wer den Unterschied zwischen einem industriell gefertigten Brot und einem Brot aus handwerklicher Backkunst nicht zu erkennen vermag – der merkt den Verlust vielleicht gar nicht und ist doch bettelarm.
Doch es kommt noch schlimmer: Wer keinen Geschmack für die irdischen Speisen und Getränke erworben hat, dem fehlt auch der Geschmack für Gott. Denn jener Gott, der uns im Brot und Wein der Eucharistie begegnet, will geschmeckt werden. Er ist kein Gott der geistig Abgehobenen und Verklärten, sondern ein Gott jener, die Freude an den Gaben seiner Schöpfung haben und große Wertschätzung für deren Kostbarkeit empfinden. Gott muss man schmecken oder man erfährt ihn nicht.

Mit allen Sinnen schmecken
Schmecken können ist das Ergebnis lebenslanger Lernprozesse. Bei der Geburt können wir nur die Süße der Muttermilch schmecken – mehr nicht. Doch Tag für Tag können wir mehr Geschmacksrichtungen entdecken – wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Wie können wir lernen, immer aufmerksamer und differenzierter zu schmecken? Drei Wege dazu möchte ich nennen. Erstens: „Das Organ des Geschmacks ist nicht die Zunge, sondern das Gehirn.“ (Massimo Montanari) Es ist also eine Übung des Denkens, seinen Geschmack zu schulen und zu immer differenzierterer Wahrnehmung fähig zu machen. Wer die Zutaten einer Speise kennt, schmeckt mehr. Wer weiß, wo und wie diese Zutaten gewachsen sind, schmeckt noch mehr. Und so weiter. Zweitens: Das Gehirn ist angewiesen auf die Informationen, die es von den fünf Sinnen bekommt. Insofern schmeckt derjenige besser und differenzierter, der alle fünf Sinne auf das Essen richtet: Wer den Geruch einer Speise oder eines Getränks aufmerksam wahrnimmt; wer ihre Farbe und Form genau betrachtet; wer erspürt, wie weich oder hart, mürbe oder zäh sie sich anfühlt; wer darauf hört, wie es klingt, wenn wir sie im Mund zerkleinern; und wer schließlich die Speise auf der Zunge zergehen lässt, um ihren Geschmack voll auszukosten. Das schließt drittens ein rechtes Maß des Esstempos unbedingt mit ein. Langsame EsserInnen essen nicht nur weniger und sind dadurch eher normalgewichtig, weil sie schneller satt sind, sondern genießen auch intensiver. Sie kosten Speise und Trank im wörtlichen Sinne aus. Aus ethischer Sicht ist die Frage des Ess- und Trinktempos auch eine Frage der Ehrfurcht vor den Speisen und Getränken. Ohne Slow Food ist kein achtsames Essen und Trinken möglich.

Konsum entscheidet über Geschmack
Die Herausforderung einer derartigen Geschmackserziehung stellt sich von frühester Kindheit an. Eine Untersuchung der Geschmacks- und Geruchsdifferenzierungsfähigkeit von österreichischen Schulkindern im Alter von 10 bis 13 Jahren aus dem Jahr 2008 erbrachte dabei folgende Ergebnisse: 
- Landkinder schmecken und riechen mehr und genauer als Stadtkinder.
- Je mehr Fast Food, Süßgetränke und Weißbrot die Kinder zuhause konsumieren, umso weniger Geschmacks- und Geruchsrichtungen können sie erkennen.
- Je mehr Obst und Gemüse die Kinder zuhause essen, umso mehr Geschmacks- und Geruchsrichtungen können sie erkennen.
Was für Kinder bewiesen wurde, dürfte genauso für Erwachsene gelten: Von dem, was wir am meisten essen und trinken, hängt unsere Geschmacksfähigkeit entscheidend ab. Und auch das hat die Untersuchung an den Schulkindern gezeigt: Wo zuhause gekocht wird, steigt die Geschmacksfähigkeit der Kinder deutlich an. Selber kochen vermittelt einen viel tieferen Bezug zu den Speisen als der Konsum von Fertiggerichten.

Fasten – Sinne schärfen durch Verzicht
Eine wichtige Methode, unsere Sinne zu schärfen, ist das Fasten, der freiwillige Verzicht auf Nahrung. Fasten soll uns nicht quälen, sondern zu einem erfüllteren, dankbareren, aufmerksameren Leben führen. Wer für eine bestimmte Zeit auf etwas verzichtet, lernt es neu schätzen. Es geht darum, im Fasten die Sinne zu schärfen und anschließend die Nahrung neu schmecken, riechen, sehen, hören und tasten zu lernen. Nicht selten sind Fastende am Ende erstaunt, wie gut ihnen der erste Apfel, das erste Glas Wein, die erste Tasse Kaffee schmeckt. Fasten bietet zudem die Möglichkeit, die eigene Abhängigkeit von der Nahrung viel klarer zu spüren. Wer fastet, kann aufs Neue die Kostbarkeit der Lebensmittel erfahren und es intensiver schätzen, gut genährt zu sein. Gleichzeitig ist es ein Geschenk, fasten zu dürfen und zu können. Die Zeit des Fastens braucht keine Last zu sein, sondern darf und kann zur befreienden Chance werden. 
Zeiten des Fastens beleben das Essen und Trinken – und umgekehrt. Wer normalerweise gut isst und trinkt, kann gut fasten. Unterernährte und hungernde Menschen können nicht fasten, weil für sie der Verzicht auf Nahrung nicht freiwillig ist, sondern eine erzwungene Notwendigkeit. Doch nur wer wirklich aus freien Stücken fastet, kann dessen positive Wirkungen erfahren.

Ein neues Gespür für die Tiere nähren
Schon in den ersten Jahrhunderten des Christentums gehört zum Fasten die Fleischabstinenz dazu. Den Glaubenden ist bewusst, dass der Verzehr von Fleisch anders zu bewerten ist als der Verzehr pflanzlicher Nahrung. Wer Fleisch isst, der verspeist ein Tier, ein geliebtes Geschöpf Gottes. Das ist nach biblischer Überzeugung zwar nicht grundsätzlich verboten, aber doch besonderen Beschränkungen unterworfen. Die vierzigtägige Fastenzeit war demzufolge in den meisten Jahrhunderten der Kirchengeschichte eine Zeit, in der der Fleischverzehr strikt verboten war. Die Tage vor Beginn der Fastenzeit nannte man „Karneval“, wörtlich übersetzt „Fleisch lebe wohl!“ Wer den Karneval ausgelassen feiern will, so die Botschaft, der soll danach auch ernsthaft fasten und konsequent auf Fleisch verzichten. 
Auch an den Freitagen galt bis zum II. Vatikanischen Konzil ein striktes Fleischverbot. Mindestens dieser eine Tag der Woche sollte konsequent fleischfrei sein. Dass er dann zum traditionellen Fischtag wurde, hatte damit zu tun, dass man nördlich der Alpen vor allem im Winter zu wenig pflanzliche Lebensmittel zur Verfügung hatte. Auf Fleisch zu verzichten, hieß im Winterhalbjahr lange Zeit hungern. Da war der Entschluss der Kirche im 11. Jahrhundert, den Fisch als Fastenspeise zu genehmigen, ein wichtiger Schritt nach vorne. 
Heute hingegen haben wir ganzjährig genügend pflanzliche Lebensmittel zur Verfügung. Wir können also leichten Herzens zur alten Regel zurückkehren, dass der Freitag der „Veggie-Tag“ ist, an dem nur vegetarische Speisen auf den Teller kommen. Und die Fastenzeit in den Wochen vor Ostern wäre eine vierzigtägige Veggie-Zeit. Das würde uns, den Tieren und der Umwelt gut tun – und das Fleisch würde uns nach dem Karsamstag ganz anders schmecken!

Eucharistische Mahlkultur
In der Schule des guten Geschmacks haben wir schon viel gelernt, wenn wir mit allen Sinnen schmecken lernen und unsere Sinne durch Zeiten des Fastens und der Fleischabstinenz schärfen. Eines aber fehlt noch: Den Geschmack für Gott weiterzuentwickeln. Und das geht, so ist das Evangelium überzeugt, am besten über eine entsprechende Gestaltung der Eucharistiefeiern. Leider aber kennzeichnet die meisten Eucharistiefeiern eine große kulturelle Armut.
Was also wäre eucharistische Mahlkultur? Sie wäre zuallererst ein Essen und Trinken. Wer den Gläubigen den Wein vorenthält, raubt ihnen die Hälfte vom Geschmack Gottes. Zweitens gehören alle fünf Sinne in das eucharistische Mahl einbezogen: Der Duft frischen eucharistischen Brotes und köstlichen Messweines will von Beginn der Messe an gerochen werden. Sie müssen die Menschen von der Straße in die Kirche locken wie der Duft einer Bäckerei oder Weinkellerei. Vergessen wir nicht: Es ist der Duft Gottes, um den es hier geht! Das Brot soll nach Brot ausschauen, schreibt das Messbuch vor. Wir sollen am Aussehen erkennen können, welche Speisen uns gereicht werden. Auch soll das Brot in viele Teile gebrochen werden, sagt das Messbuch weiter, und das kann man sehr bewusst hören. Mindestens das Brot soll auch ertastet werden – die Handkommunion ermöglicht eine Sensibilität im Umgang mit dem Brot, wie sie bei der Mundkommunion nie möglich war. Schließlich sollen Brot und Wein gut und intensiv schmecken – minderwertige oder gar geschmacklose Gaben sind für die Eucharistie nicht geeignet.

Zeit nehmen fürs Feiern und Vorbereiten
Das alles ist nur möglich, wenn wir uns für das eucharistische Mahl Zeit nehmen. Wenn husch, husch einer nach dem anderen „abgespeist“ wird und die Kelchkommunion aus Zeitgründen entfällt, ist ein aufmerksames Schmecken Gottes nicht möglich. Mit anderen Worten: Wir brauchen eine Umkehr zu Slow Food in der Kirche. Es kann doch nicht sein, dass wir ausgerechnet bei dem Vollzug, der uns angeblich am kostbarsten ist, am häufigsten auf die Uhr schauen!
Wie beim profanen Essen und Trinken erhöht die selbständige Zubereitung den Wert und die Erlebnisintensität des anschließenden Mahles: Im Idealfall sollte die Eucharistie feiernde Gemeinde ihr Brot selber backen und den Wein selber keltern, wenn WinzerInnen in der Gemeinde sind, oder wenigstens selber beim Weinhändler aussuchen und mitbringen. Was in großen Pfarrgemeinden sicher einen längeren Vorbereitungsweg braucht, kann bei Gruppenmessen im kleinen Kreis sehr einfach organisiert werden. Es gibt genügend Rezepte, nach denen ein Brot gebacken werden kann, das allen kirchlichen Vorschriften genügt. Welche hohe Attraktivität es hätte, wenn das Brot selbst gebacken würde, kann man an dem enormen Ansehen ablesen, das das Brotbacken bei Kindern im Rahmen der Erstkommunionvorbereitung genießt. Kaum ein Kind, das es nicht als schönsten Moment der Vorbereitung nennt.
In einer satten, ja vielfach sogar übersättigten Gesellschaft ist es keine leichte Aufgabe, einen guten Geschmack zu entwickeln und dann auch zu bewahren. Und doch führt für uns ChristInnen kein Weg an dieser Aufgabe vorbei: Denn wer die Gaben Gottes nicht wirklich schmeckt, der kann auch Gott selbst nicht schmecken.

Zuletzt aktualisiert: 01. Februar 2017
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