Gott suchen mit Fuß und Herz

01. Januar 1900

Im März dieses Jahres konnte unser Heiliger Vater, Papst Johannes Paul II. wenigstens einen Teil seines Wunsches erfüllen, an die Wurzeln der Christenheit zu gehen und die heiligen Stätten in Jordanien, Israel und Palästina zu besuchen. Ursprünglich war auch eine Reise in den Irak, nach Ur in Chaldäa vorgesehen. Doch dieser Plan ließ sich aus politischen beziehungsweise Sicherheitsgründen nicht verwirklichen. Immer wieder macht sich der Heilige Vater auf den Weg und sieht sich als christlicher Pilger. Doch die Stätten, an denen Jesus gelebt und gewirkt hat, gerade im Jubiläumsjahr 2000 zu besuchen, war ein Herzenswunsch des Papstes.

Wo ist Gott besonders nah? Es ist nicht selbstverständlich, sich auf Pilgerschaft zu begeben. Im Laufe der christlichen Geschichte wurde immer wieder gefragt: Ist denn Gott nicht überall, kann er uns nicht genau so gut hören, wenn wir in der Kirche unserer Heimatgemeinde beten. So haben schon Hieronymus, Augustinus, Thomas von Kempen und Erasmus von Rotterdam gefragt.
Das gläubige Volk, aber auch große Persönlichkeiten, haben sich immer wieder auf Pilgerwege begeben und heilige Stätten besucht.
Rein rational, also vom Verstand und von der Logik her gesehen ist die Frage nach der Berechtigung des Wallfahrens nicht zu beantworten. Es ist richtig: Gott ist überall, und er kann uns an einem Ort genau so gut hören wie an einem anderen. Man könnte meinen, Jesus selber vertrete diese Position, wenn er der Samariterin sagt, ihre Frage nach dem rechten Ort für Pilgerschaft und Gottesverehrung in Jerusalem oder auf dem Berg Garizim sei unbedeutend: Aber die Stunde kommt, und sie ist schon da, zu der die wahren Beter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn so will der Vater angebetet werden (Joh 4, 23).

Heilige Orte. Augustinus sagte: Da Gott überall ist, können wir zu ihm nicht mit den Füßen, sondern nur mit dem Herzen gehen.
Die Sache sieht ganz anders aus, wenn man sie psychologisch betrachtet. In unserem Glauben spielt die Menschwerdung unseres Gottes eine entscheidende Rolle und deswegen müssen auch psychologische Gesichtspunkte, Impulse des Herzens sehr ernst genommen werden. Es ist eine breite, durchgehende, universale Empfindung: Bestimmte Orte sind heilige Orte. Dabei können wir noch einmal unterscheiden zwischen solchen Orten, die wir Menschen für Gott reserviert haben und Orten, die Gott von sich aus auserwählt und geheiligt hat. Diese Unterscheidung wird zum Beispiel zwischen dem Gotteshaus einer Gemeinde und einem Wallfahrtsheiligtum greifbar. Die Kirche, als Ort der Zusammenkunft der Gläubigen einer Gemeinde, wird von den Verantwortlichen der Gemeinde (Pfarrer, Pfarrgemeinderat) festgelegt. Dabei spielen die Lage des Grundstücks, die kurzen Wege und die Sichtbarkeit eine Rolle.

Tür zum Himmel. Ein Ort wird zu einer Wallfahrtsstätte oder einem speziellen Heiligtum, wenn Gott, Jesus Christus oder eine heiligen Person dort gelebt oder sich erfahrbar gemacht haben. Diese Wallfahrtsorte liegen nicht selten an einer sehr einsamen oder schwer zugänglichen Stelle. An diesem heiligen Ort hat sich eine Tür zwischen Himmel und Erde geöffnet; Himmel und Erde haben sich berührt oder eine Leiter, die Himmel und Erde miteinander verbindet, ist sichtbar geworden; die Wolke der göttlichen Gegenwart hat sich dort niedergelassen.
Wenn an einem Ort eine solche Erfahrung gemacht und sie von den Gläubigen beziehungsweise der kirchlichen Hierarchie anerkannt wurde, reisen Menschen dahin, um etwas Ähnliches zu erleben oder sie hoffen, dass Gott ihre Gebete an diesem Ort auf eine besondere Weise erhört. Dieses Gefühl ist spontan und findet sich in jeder Religion und in jedem Zeitalter.
Man könnte von künstlichen Heiligtümern sprechen, wenn Menschen eine Kirche bauen und sie zum Heiligtum erklären. Gewöhnlich schlagen solche Kirchen in den Herzen der Menschen keine Wurzeln; sie werden kein echter Wallfahrtsort.

Inschriften freigelegt, die die Fürsprache der Apostel erbitten. Einige dieser Inschriften können bereits auf das Jahr 150 nach Christus datiert werden.

Frühe Wallfahrtsberichte. Durch die Bekehrung Konstantins zum Christentum erlebte die christliche Wallfahrt einen großen Aufschwung. Der Kaiser ließ über den Gräbern des Petrus und Paulus große reiche Basiliken erbauen. Nachdem seine Mutter Helena Palästina besucht hatte, um die heiligen Stätten zu finden, ließ er Hadrians heidnische Tempel abreisen und weitere Basiliken über der Höhle von Bethlehem und über der Kreuzigungsstätte von Golgota errichten. Im Jahr 333 nach Christus, also weniger als zehn Jahre nach Helenas Reise nach Jerusalem, verfasste ein anonymer Pilger aus Bordeaux die erste umfassende Beschreibung der heiligen Stätten. Dort werden nicht nur Bethlehem, Golgota und das heilige Grab genannt, sondern der Autor versucht auch, andere Schauplätze von Ereignissen des Alten und Neuen Testamentes zu identifizieren.
Die beste Wallfahrtsdarstellung haben wir in der Peregrinatio (Wallfahrt) von Aetheria. Sie ist eine geweihte Jungfrau aus Galicien in Spanien. In ihrem Werk, das offenbar ein Brief an die anderen geweihten Frauen ihrer Stadt ist, gibt Aetheria deteilierte Beschreibungen der Jerusalemer Liturgie, sei es das ganze Jahr über, sei es bei bestimmten festlichen Anlässen. Darunter ist die Geburt Jesu, die Darstellung Jesu im Tempel, die Fastenzeit, die Karwoche und Ostern. Aetheria berichtet auch von der Prozession von Bethlehem nach Jerusalem am Geburtsfest Jesu und von der Prozession vom Ölberg in die Stadt am Palmsonntag, ferner von der bewegenden Vigil, die in der Nacht des Gründonnerstags im Garten Gethsemani gehalten wurde. Sie erwähnt auch die persönliche Verehrung des Kreuzesholzes am Karfreitag. Der Einfluss von heimkehrenden Pilgern – viele von ihnen waren Bischöfe oder einflussreiche Geistliche - führte bald zur Übernahme vieler dieser liturgischen Bräuche in den Kirchen des Westens und des Ostens.

Unterwegs sein heute. Im 19. und 20. Jahrhundert kamen zu den schon traditionellen Wallfahrten neue Stätten hinzu. Ihr Ausgangspunkt waren Marienerscheinungen. Hier ist an La Salette, Lourdes und Fatima zu denken. Kennzeichnend für diese Wallfahrtsorte sind ihre Botschaften, die dem Zeitgeist widersprechen. Allein das Auftreten der Wunder wurde als Provokation empfunden. Man fühlte sich gestört, weil zum Beispiel das Gebet zum Schlüssel für Heilungen wurde und nicht in erster Linie die Wissenschaft. Die Erscheinungen bedeuteten eine Bestätigung der übernatürlichen Welt und ein Protest gegen den Zeitgeist. Bei den Pilgern, die an diese Marienwallfahrtsorte strömen, findet sich nicht selten ein Verlangen nach Gewissheit und klarer Richtung im Leben.
In unterschiedlicher Form und aus unterschiedlichen Gründen ist das Bedürfnis nach Pilgerschaft auch in unserer Zeit sehr groß. Wallfahrer im traditionellen Sinn strömen weiter an die biblischen Stätten, an die alten Gräber und zu den Ikonen; weltliche Pilger suchen Grenzerfahrungen und Solidarität um ihrer selbst willen (der Weg ist das Ziel); andere erhoffen sich eine Bestätigung für den tatsächlichen Einfluss göttlichen Wirkens und reisen deshalb an die Orte von Erscheinungen. Sie alle scheinen instinktiv zu glauben, dass, wenn Gott auch überall ist, man ihn doch an bestimmten Orten besser suchen und finden kann. Die Erfahrungen, die die Menschen durch die Jahrhunderte hindurch gemacht haben und in unserer Zeit immer noch machen, zeigen, dass bestimmte Orte transparenter sind, das heißt durchlässiger für das Wirken Gottes, so dass seine Gegenwart dort leichter und unmittelbarer erfahren werden kann. Offensichtlich helfen aber auch diese heiligen Stätten, dass die Pilger sich stärker für Gottes Gnadenwirken öffnen und so leichter für Gott erreichbar sind. Die Menschen, die danach hungern Gott zu suchen und zu schauen, werden sich auch in Zukunft zu Heiligtümern auf den Weg machen.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016