Gottesbilder zwischen Liebe und Angst

09. Mai 2007 | von

Viele Gläubige leiden unter einem dunklen Gottesbild. Dies hängt nicht immer von der religiösen Erziehung ab. Experten glauben, dass Kinder bereits im Mutterleib Einflüsse ihrer Umgebung aufnehmen. Wer sein Leben bejaht, Geborgenheit und Vergebung erfährt, dem ist das Fundament gegeben, Gott in der Liebe zu erkennen.

Herr, du hast mich erforscht und du kennst mich." Mit diesen Worten beginnt Psalm 139 und fährt fort: „Ob ich sitze oder stehe, du weißt von mir. Von fern erkennst du meine Gedanken." Es ist einer der bekanntesten Psalmen. Doch reagieren Menschen sehr unterschiedlich auf dieses uralte Gebet.

„Da fühle ich mich derart geborgen, das kann ich gar nicht beschreiben. Es gibt nichts, das Gott nicht von mir weiß. Das ist toll! Irgendwie kann man sich da richtig fallen lassen, in dieses vollkommene Erkannt-Sein." So äußert sich Judith bei einem schriftlichen Austausch über diesen Text (Internet-Forum der Kölner Benediktinerinnen). Doch andere empfinden das Gegenteil. Sie fühlen sich bedroht statt gehalten, ausspioniert statt liebevoll angesehen. „Weißt du, wie viel Drohung und Unentrinnbarkeit unter der Oberfläche dieser Lobpreisung liegen?" fragt Tilmann Moser in seinem Buch „Gottesvergiftung".

Bedrohlicher Gott. Wieso aber spricht der zitierte Psalm für einige von einem liebevollen Begleiter, für andere von einem unerbittlichen göttlichen Aufseher? Solange ein Mensch einen frohmachenden Glauben hat, fragen wir kaum nach den genauen Hintergründen. Aber wer eine düstere Vorstellung von Gott hat, leidet darunter und ist eingeengt. Manche erkranken sogar daran.

Vielen ist ein negatives Gottesbild anerzogen, gelehrt und gepredigt, ja sogar eingeprügelt worden. Mancher Leser mag sich noch an Drohpredigten in der Fastenzeit, an strenge Bußkataloge und andere Furcht einflößende kirchliche Praktiken und elterliche Sprüche erinnern. Höllenängste und Skrupel konnten entstehen. Für manchen wurde das Einhalten von Geboten wichtiger als Nächsten- oder gar Selbstliebe. Vielen wurde es dadurch aber auch schwer gemacht, Gott aus freiem und ganzem Herzen zu lieben. Gottes Strafgericht schien stärker in den Köpfen und Herzen der Gläubigen zu sein als seine Gnade.

In der kirchlichen Verkündigung hat inzwischen ein Wechsel stattgefunden. „Gott ist Liebe" – so wie die erste Enzyklika Papst Benedikts XVI. betitelt ist, so ist auch der Schwerpunkt in der heutigen Pastoral.

Unbewusste Kräfte. Trotzdem leiden Menschen unter dunklen Gottesbildern. Es kommt vor, dass innerhalb einer Gemeinde, selbst innerhalb einer Familie verschiedene Gottesvorstellungen existieren. Offensichtlich gibt es also auch indirekte und unbewusste Entstehungsweisen. Die Form des Glaubens hat nicht nur mit dem zu tun, was uns ausdrücklich beigebracht wurde. Im Gegenteil: Untersuchungen zeigen, dass die unbewussten niedermachenden Kräfte viel stärker sind als die bewussten.

Ein Beispiel: Pfarrer K. ist beliebt in seiner Gemeinde. Die Menschen schätzen seinen unermüdlichen Einsatz und seine Predigten, die von Gottes Liebe und Güte sprechen. Man merkt, dass der Pfarrer gut studiert hat und sich in der Bibel auskennt.

Was nach außen nicht sichtbar wird: Der Priester leidet seit Jahren an Schlafstörungen und Phasen mit depressiven Stimmungen. Dies belastet ihn immer mehr. Der Hausarzt findet keine organischen Ursachen. Untersuchungen bei Spezialisten bestätigen: Körperlich ist der Priester gesund. Schließlich sucht Pfarrer K. einen Mitbruder auf, der auch als Psychologe ausgebildet ist. In einigen Gesprächen nähern sie sich dem zu Grunde liegenden Problem: Ja, der Geistliche weiß viel über die Liebe und Barmherzigkeit Gottes, aber er empfindet sie nicht selber. Er kann in der Tiefe nicht glauben, dass Gott ihn wirklich so liebt, wie er ist. Die innere Not ist groß.

Der Mitbruder rät zu einer Psychotherapie. Pfarrer K. zögert: Kann denn der Glaube allein nicht helfen? Vielleicht müsste er noch mehr beten.

Doch der Mitbruder erinnert ihn an einen alten theologischen Satz: gratia supponit naturam – Die Gnade setzt die Natur voraus. Nach christlicher Vorstellung bindet sich Gott an die Natur des Menschen, und zu dieser gehört nun einmal auch die psychische Verfasstheit. Ein Bearbeiten psychischer Probleme geht nicht an Gott vorbei, sondern kann - im Gegenteil - den Menschen mehr für Gott öffnen und zu ihm hinführen.

Prägende Kindheit. Schließlich stimmt Herr K. zu. Nach und nach finden sie heraus, dass der Pfarrer sich als Kind nicht auf die Zuwendung seiner Eltern verlassen konnte. Nur wenn er gute Leistungen erbrachte, fühlte er sich anerkannt. Aber manchmal gab es auch Strafen, ohne dass er wusste, wofür. Ein grundsätzliches Vertrauen in die Liebe seiner Eltern hatte er somit nicht entwickeln können. Und so war es ihm auch schwer gefallen, ein solches Vertrauen zu Gott aufzubauen und sich von diesem bedingungslos geliebt zu wissen. Eine große Last fällt von ihm ab, als er diesen Zusammenhang erkennt.

Pfarrer K. ist kein Einzelfall. Lässt man Menschen konkrete Bilder von Gott malen, so ähneln die Figuren oft den Eltern. Hierin zeigt sich, wie stark die Entwicklung einer Gottesvorstellung mit dem Erleben der eigenen Eltern zu tun hat. Die Entwicklung eines Gottesbildes beginnt nicht erst, wenn dem Kind von Gott erzählt wird, sondern schon viel früher.

Experten, wie Karl Frielingsdorf SJ oder Dieter Funke, gehen davon aus, dass schon im Mutterleib das Fundament für die spätere Gottesbeziehung gelegt wird. Das ungeborene Kind ist ja allen möglichen Einflüssen schutzlos ausgeliefert, auch den Gefühlen der Mutter. Es erlebt Angenommen- oder Abgelehnt-Sein, Ängste oder Freuden der Mutter. So entstehen bereits fundamentale Einstellungen und, im negativen Fall, auch Störungen. Wessen Leben von den Eltern von Anfang an bejaht ist, dem wird es später leichter fallen, an einen Gott zu glauben, der das Leben annimmt. Wer dagegen erlebt, dass seine Existenz unerwünscht ist, wer gar Abtreibungsversuche überlebt, der misstraut dem Leben.

Leistungsdruck. Entscheidend ist ferner die frühe Kindheit. Kann das Kleinkind in der Beziehung zu den Eltern tiefes Vertrauen aufbauen, so fällt es ihm später leichter, eine Haltung des Gottvertrauens zu entwickeln. Bei Herrn Pfarrer K. aus unserem Beispiel war das nicht geschehen. Seine Eltern hatten ihm dies nicht vermitteln können. Durch den Religionsunterricht, das Bibelstudium und ähnliches hatte er zwar gelernt, dass Gott jeden Menschen ohne Vorbehalte liebt. Aber aufgrund seiner Prägung als Kind war diese Erkenntnis nicht bis in die Tiefe seiner Seele und seines Herzens gedrungen.
Manches Kind erlebt, dass Zuwendung an Leistung geknüpft wird: „Wenn ich mit guten Noten nach Hause komme, schauen meine Eltern mich an. Dann bin ich jemand. Sonst kümmern sie sich ja wenig um mich." Also bemüht sich das Kind immer mehr um gute Leistungen, sei es in der Schule oder im Sportverein oder im Benehmen. Es prägt sich das Muster ein: Tadellose Leistung erzeugt Anerkennung. Und dieses überträgt es später unbewusst auf Gott. Hier sind es dann Leistungen wie Bußübungen, kirchliches Ehrenamt, Einhaltung der Regeln, geistliche Aktionen, mit denen die Anerkennung Gottes erkauft werden soll.

Bei Pfarrer K. liegt dort wohl ein Grund für die großen Anstrengungen, die er für das Gemeindeleben auf sich nahm. Dies an sich ist ja auch gar nichts Negatives. Aber im Falle dieses Priesters muss man sagen: Der „Leistung fordernde Gott" überforderte ihn auf Dauer und machte dadurch krank.

Selbstanklage. Dass Gott die Menschen jedoch „zuerst geliebt hat" (erster Johannesbrief), ist eine Aussage, die Menschen wie Pfarrer K. nicht an sich herankommen lassen können. Sie entspricht schlichtweg nicht der eigenen Lebenserfahrung. Stattdessen berufen sich die Betroffenen auf biblische Bilder vom richtenden Gott, zum Beispiel in einigen Psalmen oder den neutestamentlichen Gerichtsreden. Dabei nehmen sie aber weder zur Kenntnis, dass dies nicht das vorrangige Bild in der Bibel ist, noch dass eben dieser biblische Richtergott kein unbarmherziger, willkürlich handelnder Gott ist, sondern einer, der für das Recht der Unterdrückten einsteht.

Auch der Umgang mit Schuld ist zu beachten: Erfährt sich das Kind als geliebt, selbst wenn es schuldig geworden ist? Darf das Kind an Vergebung glauben? Wie aber soll jemand aus tiefstem Herzen glauben können, dass Gott uns unsere Sünden vergibt und uns immer wieder eine neue Chance gibt, wenn ein solches Verhalten völlig jenseits der eigenen Erfahrung liegt?

Ein Kind dagegen, dessen Selbständigkeit gefördert wird, wird üblicherweise ein anderes Gottesbild entwickeln. Der Erwachsene kann mehr mit den biblischen Bildern anfangen, die davon sprechen, dass Gott die Menschen aus der Gefangenschaft befreit und in ein neues Leben führt. Dass Gott Leben fördert und den Menschen einen freien Willen gegeben hat.

Liegt denn im Unvermögen der Eltern, die sich doch meist nach Kräften bemühen, die ganze Ursache für einen krankmachenden Glauben? Nein, Untersuchungen zeigen: Es sind gar nicht immer die Eltern, die solche düsteren Bilder hervorrufen. Mancher „innere Herrscher" entsteht sogar im Kind selber, das alles noch perfekter machen will, als gefordert.

Unterscheidung der Geister. Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die ungeliebt oder gar ausdrücklich abgelehnt aufgewachsen sind, aber trotzdem ein echtes Gottvertrauen aufgebaut haben. Für den Jesuiten Frielingsdorf, der mit solchen Gläubigen gearbeitet hat, ist dies „aus psychologischer Sicht nicht immer erklärbar". Hier war Gott mit seiner Gnade am Werk. Frielingsdorf muss aber zugeben, dass solche Fälle selten sind. Viel häufiger erfolgt eine „Erlösung" von solchen niederdrückenden Vorstellungen über eine intensive geistliche und psychologische Begleitung. Deren Ziel ist eine „Unterscheidung der Geister": Wie und wer ist der wahre Gott? Glaube ich vielleicht an ein Zerrbild, das ich bislang für den wahren Gott gehalten habe?

Bei aller Prägung und Beeinflussung aus der frühen Kindheit: Es bleibt immer ein Freiraum für die persönliche Entfaltung, für spätere Weiterentwicklung und Veränderung. Wichtig für Betroffene, wie Pfarrer K., ist, dass ihnen bewusst wird, was in ihnen wirkt und sie niedermacht und dass dies nicht der wahre Gott ist. Das biblische Gottesbild ist vielschichtig. Sie aber hören nur eine Seite der Aussagen heraus, die fordernde oder strafende. Sie kennen zwar auch andere Beschreibungen, können diese aber nicht verinnerlichen. Wird es für einen Menschen zu viel, dann reagieren einige (wie zum Beispiel der oben zitierte Tilman Moser) damit, Gott ganz aus ihrem Leben zu streichen: „Dieser Glaube macht mich krank! Mit so einem Gott und seiner Kirche will ich nichts mehr zu tun haben!" Sie suchen nicht nach den Hintergründen. Pfarrer K. dagegen lernte zu verstehen, warum er so reagierte, und es gelang ihm im Laufe der Zeit, die Zuwendung Gottes auch auf sich zu beziehen.

Stützendes Fundament. Wichtig für Eltern, Großeltern, Erzieher und alle, die mit Kindern zu tun haben, ist ein Feingefühl dafür, was meine Einstellung dem Kind gegenüber in diesem bewirken kann. Erziehung ist nicht nur Versorgung und Unterrichtung. Wir müssen dem Kind vor allen Dingen zeigen, dass es geliebt und angenommen ist. Wenn es einen Fehler macht, soll es erleben, dass wir zwar sein Verhalten ablehnen, nicht aber seine Existenz. So legen wir eine Grundlage dafür, dass das Kind später wirklich an den Gott des Lebens und der Liebe glauben kann. Bei Kindern, die zu Hause nicht ausdrücklich religiös erzogen werden oder den Glauben der Eltern in einer Trotzreaktion ablehnen, können wir auf diese Weise den Boden bereiten, dass sie vielleicht später noch zu einem guten Glauben finden. Sie können die Geschichten von Gott, der für uns da ist, der vergibt und uns annimmt, glauben, weil sie ähnliches in ihrem Leben schon bruchstückhaft erfahren haben. Wichtig für Seelsorger, Katecheten und andere, die den Glauben weitergeben möchten, ist es zu wissen, wieso die frohe Botschaft bei einigen Hörern nicht ankommt: Es liegt gar nicht unbedingt an der Verkündigung, sondern daran, dass der Hörer den guten Zuspruch nicht an sich herankommen lassen kann. Aber wir brauchen dann nicht zu resignieren: Zeigen wir diesem Menschen, dass er bei uns anerkannt ist, auch mit seinen Schwächen. So geben wir ihm möglicherweise eine neue Erfahrung und bereiten ein wenig den Weg dafür, dass er sich im Laufe der Zeit auch für die Freundschaft Gottes neu oder anders öffnen kann.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016