Haltung finden, Halt finden

16. Dezember 2005

„Mit Antonius ins Jahr 2006!”  wäre ein passender Titel für Beiträge an dieser Stelle.
Beschrieben werden Haltungen und Haltungsbilder.
Mit einem guten alten Wort: Es geht um „Tugenden” und darum, was Antonius uns dazu an die Hand gibt.

Schwellensituationen sind immer kritisch. Das heißt, sie fordern zur Unterscheidung auf. Was ist richtig, wichtig, was trägt? Wie lassen sich Entscheidungen erklären, begründen? Welche Ausrichtungen sind hilfreich? Der Einzelne ist angefragt, aber auch Gesellschaft, Kirche insgesamt. Nicht nur an Jahresschwellen, sondern oft genug alltäglich. Zur Frage nach der Gestaltung von Zukunft gehört die Befragung der Tradition. Das bedeutet nichts weniger als die Versicherung an den Erfahrungen, die Menschen mit ihren Schwellen- und Grenzüberschreitungen vor uns gemacht haben. Wie sind sie mit ihren Erlebnissen, ihren Entscheidungen für ihr Deuten, Urteilen und Handeln umgegangen? Was hat sich dabei bewährt, ist es wert, weiterhin beachtet zu werden (trotz veränderter Umstände gerade angesichts der Beschleunigungen unserer Zeit wie dem Druck, der daraus resultiert), was gehört einfach zur Geschichte? Fragen über Fragen – Fragen, die sich besonders Moraltheologen (natürlich nicht nur sie) gerne, häufig, berufsmäßig (und stellvertretend) stellen.

Ganz Menschensohn. Antonius von Padua schreibt an der Kante, der Schwelle seiner Lebenszeit zur Ewigkeit eine „weihnachtliche“ Reminiszenz, gibt eine Deutung der Menschwerdung, nicht nur für ein neues Jahr, sondern für eine durch Gott eröffnete Ewigkeit: „Zur Erlösung des Menschengeschlechts kam der Sohn, um durch seine menschliche Natur Menschensohn zu werden, wie er durch seine göttliche Natur Gottessohn war. Darum gibt es nicht zwei Söhne, sondern nur einen Sohn.“ (Cathedr. 617a)
Menschwerdung, damit menschliche Natur, damit auch menschliche Natur und ihr Deuten, Urteilen und Handeln stehen zur Debatte vor dem Angesicht eines menschgewordenen Gottes und seiner Bedeutung für die Menschwerdung des Menschen.

Ethiker Antonius? Es wäre schön, schön verführerisch, an dieser Stelle zu behaupten, Antonius von Padua sei der erste Moraltheologe der franziskanischen Bewegung – und hätte damit professionell all die oben angedeuteten Grundfragen immer wieder systematisch bedacht, besprochen und vor dem Hintergrund seiner Zeit schlüssig beantwortet. Aber ganz so einfach dürfen wir es uns nicht machen. Die Frage, ob Antonius Moraltheologe gewesen sei, verdankt sich unseren neuzeitlichen Spezialisierungen. In einer immer komplexeren Welt muss der Einzelne sich theoretisch-wissenschaftlich immer mehr bescheiden (oder positiv gesagt: konzentrieren), kann gewisse Ausschnitte aus Lebenswelten und
-wirklichkeiten bedenken. Das spiegelt sich auch in der Theologie wider. Und da gibt es natürlich erhebliche Unterschiede zwischen der Zeit des Antonius und der unseren.
Das lässt uns einen kurzen Blick darauf werfen, wie Theologie gelehrt, studiert wird – damals wie heute. Will heute jemand ein Studium der Theologie beginnen, dann sieht er/sie sich von Anbeginn an einem breiten, weitgestreuten Fächerkanon gegenüber.
Da gibt es „vorbereitende” Fächer – der Anfänger wird in die Grundgedanken der Philosophie eingeführt, hört in der biblischen Theologie zunächst von den großen geschichtlichen Bögen der Entstehung der Heiligen Schrift, macht sich vertraut mit der Kirchengeschichte.
Der etwas Fortgeschrittene lernt seine Fundamentaltheologie (er soll also in der Lage sein, mit seinem philosophischen Instrumentarium theologische Fragen zu stellen, Rechenschaft zu geben von der „Vernünftigkeit” des Glaubens), lernt in der Dogmatik das Lehrgebäude der katholischen Kirche kennen, beginnt dann auch das Textstudium der hebräischen und griechischen Schriften des Alten und Neuen Testaments.

Studiengang Theologie heute. Je länger je mehr kommen dann auch die „jüngeren” Fächer zum Zuge: Predigtlehre, Pastoraltheologie, Moraltheologie und mehr. Jedes Fach mit eigenen Lehrern, mit eigener Fachbibliothek, mit eigener Methodik. Zu alledem gehört noch ein „kräftiger Schuss” von Psychologie, Soziologie und anderen flankierenden Wissenschaften. Anders zuzeiten des Antonius.
Priesterseminare, staatliche oder kirchliche theologische Fakultäten gibt es nicht oder kaum. Letztere sind gerade so eben im Entstehen – in Paris gibt es bereits zur Zeit des Franziskus und des Antonius eine berühmte Universität. An den „Klo-ster- und Mönchsschulen” (wenn sie also die Aufgabe haben, zukünftige Priester auszubilden) schaut die Theologie etwas übersichtlicher aus. Die einzelnen Fächer (es gibt durchaus Differenzierungen!) sind nicht so „selbständig”, vielmehr ist der Dreh- und Angelpunkt auch in der Organisation des Studiums die biblische Theologie und die Auslegung der Kirchenväter. Alles andere kreist darum (das sollte natürlich auch heute so sein), hat aber nur wenig eigenes Gewicht, nimmt weniger Raum ein.

Orientiert an der Bibel. Schon von daher kann Antonius kein Ethiker oder Moraltheologe in unserem strikten Sinne des Wortes gewesen sein. Dennoch weisen uns viele Spuren darauf hin, dass Antonius zwar kein theoretischer Ethiker war, der Geschichte, Inhalt, Begründung und Wandlung von Norm- und Tugendvorstellungen analysiert hat, aber sowohl in seinem Lebenszeugnis, in seiner Predigt als auch in seinem Schrifttum ist Antonius in erheblichem Maße an etwas interessiert, was biblisch den Namen „Umkehr” trägt. Und diese Umkehr, Orientierung oder Neuorientierung an der Offenbarung, an der Botschaft Jesu, des Alten wie Neuen Testaments hat viele Dimensionen: geistliche, existentielle, aber eben auch sittliche und ethische. Wenn Antonius daran gelegen, er selbst davon be- und getroffen ist, dann eben auch am konkreten Ethos, dem Verhalten der Menschen vor Ort und dessen Ausrichtung an den Geboten, an der Bergpredigt.

Roter Faden Tugend. Gerade dieser biblische, auch sittlich wichtige Umkehransatz schlägt bei Antonius immer wieder in seinen Predigtskizzen durch. Wenn auch nicht systematisch, so sind sie doch zum guten Teil „ethische Predigt” (um das etwas in Missklang geratene Wort „Moralpredigt” zu vermeiden!), die auf die Umkehr, auf Neuanfang, auf ein in den Verheißungen Christi gelingendes Leben zielen – in, trotz und wegen all der Schuld, in die sich der Mensch immer wieder verwickelt. Antonius kommt dabei immer wieder auf die „Tugenden” zu sprechen. Was diese bedeuten, wie Antonius sie thematisiert, welche Erfahrungen und Fragen für uns Heutige dabei gespeichert und angesprochen werden – all das gibt den Faden, den hoffentlich „roten”, für die folgenden Beiträge an dieser Stelle.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016