Heißer Sommer, kalter Winter?

05. September 2022 | von

Bei Redaktionsschluss unserer September-Ausgabe Mitte Juli war noch nicht absehbar, wohin sich die Energiekrise entwickelt. Klar ist jedoch seit Monaten: Alte Selbstverständlichkeiten stehen in Frage. Energie wird auch in unseren Breiten zum Mangelprodukt. Und vor allem: Sie wird deutlich teurer.

Originaltöne eines Saunabesuchs: Zwei Männer unterhalten sich im Dampfbad. Beide haben Sorge, dass das Schwimmbad aus Energiespargründen bald geschlossen werden könnte. Einer der beiden ist auf der Suche nach Brennholz. Eigentlich heizt er mit Gas. Doch das wird knapp und teuer. Der andere hat einen Kumpel, der würde sogar liefern. Noch wäre Holz genügend da. Eine halbe Stunde später: Ein anderer Mann schlägt vor, von den Saunen schon jetzt ein oder zwei stillzulegen. So könne man Energie sparen. Und ein anderer ergänzt, dass er sich schon seit Wochen zu Hause nur noch kalt duschen würde. Sein Beitrag zum Sparen – noch bevor der Winter kommt.

Dass an diesem Gespräch nichts erfunden oder hinzugedichtet ist, zeigt: Die Gesellschaft beschäftigt sich plötzlich mit Themen, die bislang so selbstverständlich waren, dass man kaum Gedanken darüber verschwenden musste. Eine weitere Folge des Ukrainekriegs.

Abhängigkeit von Russland

In Deutschland wirft man heute vor allem den politisch Verantwortlichen der Ära Merkel vor, sich in der Energiepolitik mit nahezu grenzenlosem Vertrauen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ausgeliefert zu haben. Der Stopp der neuen Gasleitung Nord Stream 2 sei viel zu spät erfolgt. Die Vorstellung, Gas aus Russland käme stets zuverlässig – das sei sogar während des „Kalten Kriegs“ so gewesen – hat sich mittlerweile als naiv erwiesen. Die russische Führung versteht es längst, Gas als „Druckmittel“ gegen den Westen einzusetzen. Lieferreduzierungen und komplette Lieferstopps sind wirksame Waffen, sich beispielsweise gegen noch schärfere Sanktionen zu wehren und den Krieg in der Ukraine mit ungebremster Brutalität fortzusetzen. Schon jetzt sind die Gasspeicher deutlich unter der üblichen Norm gefüllt, und alternative Gaslieferländer stehen längst nicht in ausreichender Zahl zur Verfügung.

In Deutschland konnte die Abhängigkeit vom russischen Gas seit Kriegsbeginn zwar deutlich reduziert werden: Lag der Anteil der Importe aus Russland zunächst bei etwa 55 Prozent, ist er zwischenzeitlich auf etwa 35 Prozent gesunken. Österreich ist aber noch deutlich stärker angewiesen auf das Gas aus dem Osten: Vor Kriegsbeginn lag die Abhängigkeit bei 80 Prozent. Im April 2022, dem dritten Kriegsmonat, war der Anteil Russlands an Österreichs Gasimporten gar auf 87 Prozent gestiegen. Überwiesen wurden dafür 803 Millionen Euro – so viel wie nie zuvor. Und selbst in der Schweiz macht man sich Sorgen: Rund drei Viertel des dort verbrauchten Gases werden nämlich aus Deutschland importiert – und damit wiederum zu einem großen Teil aus Russland. Fast 60 Prozent aller Wohngebäude in der Eidgenossenschaft werden mit Gas oder Öl beheizt.

Was also tun, wo Russland wohl wegen seines Angriffskrieges auf die Ukraine auf absehbare Zeit weder politisch noch wirtschaftlich ein verlässlicher und vor allem wünschenswerter Partner sein kann?

Notfallpläne und Alarmstufen

In Deutschland hat Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) Ende Juni die zweite Stufe des „Notfallplan Gas“ ausgerufen. Diese „Alarmstufe“ signalisiert, dass die Gasversorgung – nach der „Frühwarnstufe“ – mittlerweile gestört ist. Ein Rückgriff auf Speicherkapazitäten ist zwar noch möglich, aber Unternehmen und Verbände sind aufgerufen, Notfallpläne auszuarbeiten, und für Industrie und Verbraucher müssen Wege gefunden werden, die Versorgung mit Gas weiterhin zu gewährleisten. Die letzte Stufe des Notfallplans wäre dann die „Notfallphase“. Dann ist der Staat zu massiven Eingriffen berechtigt. Vorhandene Reserven sind ausgeschöpft und es gibt kein Gas mehr im freien Verkauf. Dann übernimmt die Bundesnetzagentur und entscheidet über Abschaltungen – wobei die Versorgung von privaten Haushalten und sozialen Einrichtungen erst als letzte von solch einer drastischen Maßnahme betroffen wären.

Ähnlich sieht der Notfallplan für Österreich aus. Und in der Schweiz hat der Bundesrat die Gasnetzbetreiber verpflichtet, 15 Prozent des Jahresverbrauchs an Gas bis spätestens 1. November 2022 in den Nachbarländern einzulagern. Außerdem müssen weitere 20 Prozent des Winterverbrauchs vorgehalten werden – alles im Ausland, weil man aufgrund der schwierigen topografischen Lage bislang keine eigenen Gasspeicher hat.

Weniger heizen, kürzer duschen

Kein Wunder, dass nun überall zum Sparen aufgerufen wird. Der deutsche Bundeswirtschaftsminister Habeck warnt seit Wochen: „Die Lage ist ernst, und der Winter wird kommen!“ Sein Ministerium hat eine Kampagne zu Energieeinsparung und mehr Energieeffizienz gestartet. Das Motto: „80 Millionen gemeinsam für Energiewechsel“. Die Tipps sind alltagspraktisch ausgerichtet, zum Beispiel weniger heizen und kürzer oder kalt duschen. Robert Habeck gibt vor, mit gutem Beispiel voranzugehen: „Ich hab‘ noch nie in meinem Leben fünf Minuten lang geduscht. Ich dusche schnell.“ Solche Empfehlungen kontert der freiheitsliebende Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) prompt: „Robert Habeck darf gerne so kurz duschen, wie er es für richtig hält. Ich schaue jedenfalls nicht auf die Uhr, wenn ich in der Dusche stehe. Ich dusche so lange, bis ich fertig bin.“

Weltweite Suche nach Gas

Obendrein, so bemängelt die Opposition, kämen die Energiesparbemühungen viel zu spät. Nach Berechnungen der Bundesnetzagentur könnte Deutschland zwar gerade so durch den Winter kommen. Prognosen für den schlimmsten Fall deuten aber auf ein Ende der Gasverfügbarkeit im Januar/Februar 2023 hin. Um die Folgen für die industrielle Produktion und die Verbraucher abzumildern, versichert der Wirtschaftsminister: „Wir kümmern uns um alternative Gaslieferungen und bauen mit Hochdruck die nötige Infrastruktur.“

Öffentlichkeitswirksam hat Robert Habeck bereits im März mit Katar verhandelt – und wurde für seine unterwürfige Verneigung vor Scheich Mohammed bin Hamad bin Kasim al-Abdullah Al Thani reichlich kritisiert. Dennoch kehrte er mit einer „Energiepartnerschaft“ zurück und sorgte damit für einen Lichtblick. Vorschnell freuen sollte man sich dennoch nicht. Die Bundesregierung schließt nämlich selbst keine Verträge mit Lieferpartnern, sondern schafft nur Rahmenbedingungen. Verhandeln müssen dann die Gasunternehmen – und das kann dauern. Ohnehin fehlen in Deutschland die für den Flüssiggas-Import benötigten LNG-Terminals. In Rekordgeschwindigkeit sollen solche Terminals nun in Wilhelmshaven und Brunsbüttel errichtet werden. Diese werden auch benötigt, um die 1,5 Millionen Tonnen Flüssiggas zu entladen, die der baden-württembergische Energieversorger EnBW von einem nordamerikanischen Lieferanten künftig importiert – allerdings erst ab 2026.

Eine schnelle Lösung aller Probleme scheint also nicht in Sicht.

Zurück zur Atomkraft?

Für einige – jedenfalls in Deutschland – läge die in der Reaktivierung der Atomkraftwerke. Drei sind noch im Betrieb, sollen aber wegen des längst beschlossenen Atomausstiegs zum Jahresende abgeschaltet werden. Da liegt die Forderung nahe, ihre Laufzeit um einige Jahre zu verlängern, um so zumindest Engpässe im Strombedarf zu minimieren. Gerne wird dabei auf Frankreich verwiesen. Dort herrscht über alle Parteigrenzen hinweg ein breiter Konsens, dass die Atomkraft ein Segen sei. Sicherheitsbedenken kennt man dort kaum. Präsident Emmanuel Macron erklärt: „Frankreich hat Glück, denn Frankreich hat Atomkraft!“ Zig Milliarden Euro sind in den nächsten Jahren für neue Anlagen eingeplant. Da könnte doch auch Deutschland seine drei verbleibenden Anlagen Isar 2, Neckarwestheim 2 und Emsland ein wenig länger Strom produzieren lassen. Die Betreiber vermelden allerdings, dass es für den Weiterbetrieb neue Brennstäbe bräuchte – und die seien nicht vor Ende 2023 zu beschaffen. Auch die Frage des Personals und nötiger Sicherheitsprüfungen lässt sich nicht so ohne weiteres beantworten. Obendrein erzeugen die drei noch nicht abgeschalteten Atomkraftwerke lediglich etwa sechs Prozent des in Deutschland benötigten Stroms.

Was bei manch populistisch vorgetragener Forderung auch unter den Tisch fällt: Frankreichs AKWs sind größtenteils alt. Die Hälfte der 56 Anlagen ist derzeit abgeschaltet – weil sie gewartet werden oder weil wegen der sommerlichen Hitze das Kühlwasser fehlt. Im ersten Halbjahr 2022 wurde sogar Strom aus Deutschland importiert. Atomstrom kann auch die von Gas erzeugte Energie nicht 1:1 ersetzen.

Schmutzige Kohle, heimisches Gas

Die deutsche Bundesregierung setzt nun auf die eigentlich ebenfalls ungeliebten Kohlekraftwerke – selbst wenn mit deren Weiterbetrieb die Erreichung sämtlicher Klimaschutzziele in noch weitere Ferne rückt.

Weitere Alternativen gibt es – außer den erneuerbaren Energiequellen – kaum. Denn die Förderung von heimischem Gas ist in Deutschland aus Wasserschutzgründen seit 2017 verboten. Mit Hilfe von Fracking könnte man in hartem Gestein eingeschlossenes Gas zu Tage fördern. Auch die Schweiz verfügt über solche ungenutzten Gasreserven. Doch hier gibt es ebenfalls Umweltschutzbedenken und nicht überwundene politische Hürden. Und selbst wenn man sich nun entschließen würde, diese Quellen anzuzapfen: Die sich abzeichnenden Energieprobleme wären damit nicht gelöst. Bis das erste Gas gefördert werden könnte, würden nach Expertenmeinung mindestens drei Jahre vergehen. Mit wirklich relevanten Fördermengen könnte man erst – nach dem Aufbau einer kompletten Förderindustrie – in etwa zehn Jahren rechnen. Bis dahin müsste man Milliarden investieren: in eine umstrittene Technologie und in den Energieträger Gas, von dem man ohnehin in wenigen Jahrzehnten loskommen will, um dann ganz auf erneuerbare Quellen zu setzen.

Alternativen mit Schwächen

Der Anteil „grüner“ Energie ist im ersten Halbjahr in Deutschland kräftig gestiegen: plus etwa 15 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Etwa die Hälfte der in Deutschland verbrauchten Energie stammt mittlerweile aus erneuerbaren Quellen. Etwa 50 Prozent davon wird von Windkraftanlagen erzeugt und ist damit relativ wetterabhängig. Mit Hochdruck wird am Ausbau solcher Technologien gearbeitet – oft jedoch auch gegen den Widerstand von bestimmten Interessengruppen, die entweder ihre Landschaft nicht „verunstaltet“ sehen wollen, gegen den Flächenverbrauch durch Photovoltaikfreiflächen protestieren oder auf sonstige „Nebenwirkungen“ hinweisen.

Und was die Verbraucherseite betrifft: Die aktuell vielgepriesene Wärmepumpe als Alternative zur Gas- oder Ölheizung ist längst nicht für alle Wohngebäude geeignet, vor allem in der Anschaffung trotz Förderung ziemlich teuer, und mittlerweile muss man wegen eines Bestellbooms auch reichlich Zeit mitbringen. Zahlreiche Bauteile haben lange Lieferzeiten – und selbst auf einen Handwerker muss man gut und gerne drei Monate warten.

Unvermeidliche Preissteigerung

Die Mehrheit der Bevölkerung wird deshalb wohl oder übel höhere Energiekosten in Kauf nehmen müssen. Aktuell getroffene Maßnahmen wie bestimmte Tankrabatte gelten als sozial unausgeglichen und haben das Preisniveau nicht auf Vorkriegsniveau senken können. Der sogenannte Preisanpassungsmechanismus, der es Gasversorgern erlauben würde, ihre höheren Preise direkt an die Kunden weiterzugeben, ist bislang noch nicht aktiviert. Doch man wird sich wohl darauf einstellen müssen, dass die Preise in den nächsten Monaten deutlich steigen werden. Bis zu drei Mal höhere Gasrechnungen stehen im Raum.

Die Nachfrage nach Konvektoren, Heizlüftern und Radiatoren, elektrisch betriebenen Heizgeräten also, ist in den letzten Wochen sprunghaft angestiegen. Wer die anschafft aus Angst, dass auch in Privathaushalten das Gas völlig abgedreht würde, agiert möglicherweise etwas vorschnell. Und wer sie anschafft mit der Vorstellung, damit günstiger durch den Winter zu kommen, handelt wirtschaftlich wenig sinnvoll: Der Wirkungsgrad elektrisch betriebener Heizer ist meist deutlich geringer als der einer Gasheizung – und damit auch die Kosten derzeit deutlich höher. Die westliche Welt bewegt sich auf ein Szenario zu, das viele Länder dieser Welt schon seit vielen Jahren erleben: Selbstverständlichkeiten sind weg, das „ganz normale Leben“ wird teurer. Und trotz dieser bisweilen eher düsteren Prognosen brauchen sich die allermeisten Menschen hierzulande keine existenziellen Sorgen machen, auch wenn es, wie so oft, wieder die Ärmeren am härtesten trifft.

Zuletzt aktualisiert: 12. September 2022
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