Herausforderung Arbeitslosigkeit

06. Juni 2005

Was tut die Kirche angesichts einer Massenarbeitslosigkeit von über 5 Millionen Menschen? Sie spürt ihre soziale Verantwortung, wie sie dies bereits im 19. Jahrhundert angesichts der Not leidenden Arbeiterschicht tat. In ihren Sozialworten hat die Kirche seitdem die Problematik von Arbeit und Arbeitslosigkeit häufig thematisiert – und sich in der Seelsorge, durch Seminare und Aktionen mit den Betroffenen solidarisiert.     

5,2 Millionen Menschen ohne Arbeit, so lautete die Hiobsbotschaft, die Anfang Februar die Bundesagentur für Arbeit verkünden musste. Da konnten selbst die Berufspolitiker nicht schnell zur Tagesordnung übergehen. Bundeskanzler Schröder, der 1998 und 2002 die Bundestagswahl gewonnen hatte, weil ihm die Wähler eher zugetraut hatten, das Problem der Arbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen, stand mit leeren Händen da. Regierung und Opposition einigten sich auf einen “Jobgipfel“, der zwar viel Medieninteresse wachrief, doch kaum konkrete Reformen und Hilfen für die Betroffenen brachte. Der erste Schock über die Überschreitung der 5-Millionen-Grenze bei den Arbeitslosen ist abgeklungen und erste Gewöhnungseffekte setzen ein.

Dramatische Arbeitslosenzahlen. Die Arbeitslosigkeit ist seit den 70er Jahren ständig gestiegen. 1975 wurde die 1-Million-Marke überschritten. Zehn Jahre später, 1985, zählte man schon 2,26 Millionen Erwerbslose. 1995 waren es – auch auf Grund der Wiedervereinigung und deren Konsequenzen für den Arbeitsmarkt im Osten Deutschlands – 4,38 Millionen Menschen, die ohne Arbeit waren. Deren Zahl ist inzwischen auf über 5 Millionen Menschen angewachsen. Alle politischen Reformversuche haben bisher in Deutschland noch keine Wende am Arbeitsmarkt bewirkt.

Die Gründe für diesen stetigen Anstieg der Arbeitslosigkeit sind vielfältig und sollen hier nur kurz angerissen werden: die Globalisierung der Wirtschaft, durch die weltweit Güter, Dienstleistungen, Wirtschaftsstandorte mit ihren unterschiedlich ausgebildeten Arbeitskräften und verschiedenen Steuer- und Sozialversicherungssystemen miteinander in Konkurrenz treten; der demographische Wandel, der durch die steigende Lebenserwartung und die geringe Geburtenrate bedingt ist; die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme (Kranken-, Renten-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung) über Abgaben auf Erwerbseinkommen, was hohe Lohnkosten verursacht.

Kirche und soziale Frage. “In Deutschland und in den anderen Mitgliedstaaten der EU stellt die anhaltende Massenarbeitslosigkeit die drängendste politische, wirtschaftliche und soziale Herausforderung dar. Die katastrophale Lage auf dem Arbeitsmarkt ist weder für die betroffenen Menschen noch für den sozialen Rechtsstaat hinnehmbar.“, stellen der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz in ihrem Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland fest, das sie 1997 unter dem Titel “Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ veröffentlichten (Zitat aus Absatz Nr. 49).

Die Kirche kann die soziale und wirtschaftliche Lage der Gläubigen und aller Menschen nicht außer Acht lassen. Als die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert soziale Spannungen und die Verelendung weiter Kreise der Bevölkerung verursachte, waren es zunächst einzelne Christen, die den Notleidenden beistanden. Namentlich seien hier Franziska Schervier, Pauline von Mallinckrodt, Antonie Werr, Adolf Kolping und Bischof Emmanuel von Ketteler erwähnt. Die Gedanken Kettelers wurden von Papst Leo XIII. aufgegriffen, der 1891 in der Enzyklika “Rerum Novarum“ zu den sozialen Fragen Stellung nahm. Er forderte darin, die Arbeiter nicht als Sklaven zu behandeln, ihre Arbeitskraft nicht auszubeuten und ihnen einen gerechten Lohn zu zahlen. Mit diesem Rundschreiben hatte Papst Leo XIII. zum ersten Mal in der Geschichte der Kirche zu einem “weltlichen“ Thema Stellung bezogen.

Stellungnahme der Päpste. Seine Nachfolger haben – meist zu runden Jubiläen seines Schreibens – ebenfalls Sozialworte erlassen. Pius XI. veröffentlichte 1931 “Quadragesimo anno“, Johannes XXIII. 1961 “Mater et Magistra“. Johannes Paul II. hat in mehreren Rundschreiben Stellung zu sozialen Fragen genommen, unter anderem 1981 in “Laborem exercens“, 1987 in “Sollicitudo rei socialis“ und 1991 in “Centesimus annus“. Schon in seiner ersten Sozialenzyklika schrieb Johannes Paul II: “Wenn wir auf die gesamte Menschheitsfamilie rund um die Erde schauen, werden wir unvermeidlich von einer erschütternden Tatsache ungeheuren Ausmaßes schmerzlich berührt: Während einerseits beträchtliche Naturschätze ungenützt bleiben, gibt es andererseits Scharen von Arbeitslosen und Unterbeschäftigten und ungezählte Massen von Hungernden, eine Tatsache, die zweifelsfrei bezeugt, dass im Inneren der einzelnen politischen Gemeinschaften wie auch in den Beziehungen zwischen ihnen auf kontinentaler und globaler Ebene hinsichtlich der Organisation der Arbeit und der Beschäftigung irgend etwas nicht funktioniert, und zwar gerade in den entscheidenden und sozial wichtigsten Punkten“ (VAS 32, S. 42).

Menschenrecht Arbeit. Die Kirche hat in ihrer Soziallehre eine vertiefte Sicht der menschlichen Arbeit entwickelt. Arbeit dient nicht nur der Sicherung der Lebensgrundlage, sondern gehört zur göttlichen Berufung des Menschen. Nach dem Schöpfungsbericht im ersten Kapitel der Genesis ist der Mensch nach dem Abbild Gottes geschaffen und von Gott berufen über die Erde zu herrschen (Genesis 1,26-28). Der Mensch nimmt durch sein Tun Anteil am Schöpferwirken Gottes. Arbeit gehört also zur Berufung des Menschen und begründet seine Würde. Deswegen wird im Sozialwort der Kirchen (1997) ein “Menschenrecht auf Arbeit“ gefordert (Nr. 151).

In den Sozialworten der Kirche ist die Problematik der Arbeit und auch der Arbeitslosigkeit inzwischen häufig thematisiert worden. Doch ein Leben in der Nachfolge Jesu stellt unweigerlich vor die Frage: “Was hast du getan?“, nicht, “was hast du gewusst oder Kluges gesagt?“ Oder in Anlehnung an Jesu Rede in Mt 25,31-46 gesprochen: “Ich war arbeitslos, und ihr habt mich aufgesucht.“

Tabuthema. Unser Blick wendet sich mit diesem Schritt von der Lehre zur Praxis der Seelsorge vor Ort zu. Was tun Christen angesichts einer Massenarbeitslosigkeit von über 5 Millionen Menschen? Ich konnte über diese Thematik mit dem Regionalsekretär der Katholischen Arbeitnehmerbewegung (KAB) für die Region Memmingen-Unterallgäu, Kai Kaiser, sprechen. Seine Ausgangsthese lautete: “Arbeitslosigkeit ist anonym, es ist ein Tabuthema.“ Er ließ mich zu Beginn unseres Gesprächs schätzen, wie hoch ich die Zahl der Arbeitslosen in der 14.000 Einwohner zählenden Stadt Mindelheim beziffern würde. Meine Schätzung von 200 Personen war nur ein Drittel der tatsächlichen Arbeitslosenzahl von 600 Personen. Ich musste auch eingestehen, dass mir in unserer Stadtpfarrei St. Stephan kein Arbeitsloser bekannt sei.

Zutreffend beschreiben die Autoren des Sozialworts der Kirchen die Reaktion vieler Arbeitsloser: “Obwohl die Arbeitslosigkeit ein gesamtwirtschaftliches Problem darstellt, ist das Vorurteil weit verbreitet, sie beruhe auf individuellem Versagen. Viele Arbeitslose beziehen solche Schuldzuweisungen auf sich, ziehen sich aus Scham zurück und fühlen sich vielfach ausgegrenzt. Sie vermissen die Chancen, ihren Lebensunterhalt eigenständig zu sichern, Kontakt zu pflegen, sich weiter zu qualifizieren und am gesellschaftlichen Leben verantwortlich zu beteiligen“ (Nr. 52). Rückzug, Verbitterung und Resignation sind oft die Folgen eines Verlustes des Arbeitsplatzes.

Seelsorge für Arbeitslose. Der Diözesanverband der KAB hat mit der Betriebsseelsorge der Diözese Augsburg und der CAH in den vergangenen 15 Jahren jährlich drei Kurse für Arbeitslose durchgeführt. Frauen und Männer aus allen möglichen Berufen setzten sich in diesen Kursen mit demselben Schicksal auseinander: Sie hatten alle ihre Arbeit verloren. Die beteiligten Seelsorgerinnen und Seelsorger versuchten, Trauer und Hoffnungslosigkeit mit ihnen auszuhalten. Eine positive Folge ihrer Präsenz war, dass das Selbstwertgefühl wieder gefestigt werden konnte. Denn oft zieht der Verlust der Arbeit eine Reihe von Veränderungen nach sich: Beziehungen gehen auseinander, finanzielle Schwierigkeiten tauchen auf, bisherige Sinnerfahrungen zerbrechen. In diesen Kursen setzten sich die Betroffenen mit ihren Verlusten auseinander und machten dabei die Erfahrung, dass sie dabei nicht allein gelassen werden. Im Moment laufen in der Region Memmingen-Unterallgäu Vorbereitungen für regionale Treffen von Arbeitslosen, um die Anonymität und die Vereinsamung vieler Betroffener zu durchbrechen.

Eine weitere Initiative der Betriebsseelsorge und der KAB Augsburg setzt noch einen Schritt früher an. Denn zumeist fehlt den Seelsorgern der Blick für die Arbeitswelt. Erfahrungen, Sorgen und Nöte der Menschen am Arbeitsplatz erreichen uns nicht – und erst recht nicht im Fall der Arbeitslosigkeit, musste Herr Kaiser im Gespräch mit Pfarrern und pastoralen Mitarbeitern immer wieder feststellen. So wird seit einigen Jahren in Memmingen der Gottesdienst am 1. Mai in der “Arbeitswelt“, also in den Firmen beziehungsweise den Betrieben gefeiert. Dadurch kommen Seelsorger und Pfarrgemeinde in Kontakt mit Firmen vor Ort und lernen die Menschen an ihren Arbeitsplätzen kennen. Diese Initiative hat eine solch positive Resonanz gefunden, dass sich inzwischen Betriebe um die Durchführung dieses Gottesdienstes in der Arbeitswelt bewerben.

Pfarrmitglieder sensibilisieren. Wie können die Pfarrgemeinden sich für diese Not unserer Zeit sensibilisieren? Wichtig wäre es, so Herr Kaiser in unserem Gespräch, die Arbeitslosigkeit zu enttabuisieren. Man könnte in den Pfarrgemeinden einen Sachausschuss “Beruf und Arbeit“ bilden, der Kontakte zu den Betrieben und Betriebsräten vor Ort hält. Das Thema Arbeit und Arbeitslosigkeit könnte häufiger thematisiert werden, zum Beispiel im Pfarrgemeinderat, im Gottesdienst, in den verschiedenen Jugend- und Erwachsenengruppen. Im Pfarrbrief könnte Offenheit und Gesprächsbereitschaft zu diesem Thema signalisiert werden. Die Räumlichkeiten der Pfarrei könnten eventuell als Treffpunkte angeboten werden, wo Betroffene sich austauschen können. In schwierigen Situationen könnten Pfarreimitglieder Solidarität zeigen mit Arbeitern, die um ihre Arbeitsplätze kämpfen. So war die KAB mit ihrem Banner vor den Betriebstoren an der Seite der Arbeitnehmer, als die Firma Schneider in Türkheim Konkurs anmeldete. Wenn erste Schritte in Richtung Arbeitswelt getan sind, so die Erfahrung von Herrn Kaiser, ergäben sich die nächsten meist von selbst.

Kirche als Arbeitgeber gefragt. Eine große Herausforderung kommt in den nächsten Jahren auf die Kirchen zu. Sie sind – vor allem in dem Bereich der Diakonie und Caritas – zu großen Arbeitgebern geworden. Auch die Betriebe der Kirchen stehen unter dem Druck der Kostendämpfung, da Verluste nicht mehr wie früher durch andere Finanzquellen ausgeglichen werden können. “In jüngster Zeit sind die Kirchen durch Rückgänge bei den Einnahmen erstmals nach einer langen Phase der Expansion in die Lage geraten, die Zahl der Arbeitsplätze vermindern zu müssen. In dieser angespannten Situation sind alle gefordert, mit sozialem Verantwortungsbewusstsein, sozialer Phantasie und Flexibilität soziale Härten abzuwenden“ (Nr. 245), heißt es im Sozialwort der Kirchen. Im gleichen Abschnitt benennen sie zwei Vorschläge, die “besondere Beachtung verdienen“: zum einen maßvolle Einschränkungen beim Gehalt der mittleren und oberen Gehaltsgruppen, zum anderen das Teilen von Arbeit an Stelle von Entlassungen und Stellenabbau. Die evangelische Kirche in Bayern wird 2006 betriebsbedingte Kündigungen nicht vermeiden können, falls sich die Kirchensteuereinnahmen nicht deutlich verbessern, kündigte der evangelische Landesbischof Friedrich bei der Frühjahrssynode in Augsburg an. Auch die katholischen Diözesen stehen finanziell nicht viel besser da und haben zunächst einmal einen Einstellungsstop für bestimmte Berufsgruppen verfügt. Gleichzeitig sind in den vergangenen Jahren schon Solidaritätsformen entstanden, durch die Berufsgruppen einzelne Arbeitsplätze erhalten beziehungsweise schaffen konnten. Die Glaubwürdigkeit der Kirchen wird sich auch an diesem Problem beweisen können, in der Art, wie sie mit dem Thema Stellenabbau in ihren eigenen Mauern umgehen wird.

Solidarisierung. Angesichts der großen Not der Massenarbeitslosigkeit erleben sich einzelne Christen und Pfarrgemeinden oft ohnmächtig. Doch sie können die Betroffenen dem Vergessen entreißen und – vielleicht stellvertretend – für sie beten. In einem ökumenischen Gottesdienst aus Anlass einer Betriebsschließung in Günzburg wurde dies in folgender Bitte formuliert:

“Wir bitten dich für die Menschen, die ohne Arbeit sind.

Dass sie sich nicht verstecken,

dass sie mit erhobenem Haupt leben,

dass sie spüren, dass sie etwas wert sind, auch wenn sie nicht im Arbeitsprozess stehen,

dass sie Freunde haben, die zu ihnen stehen,

dass sie einen guten Weg in die Zukunft finden.“

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016