Herr, baue Deine Kirche und fange bei mir an

01. Januar 1900 | von

Menschen teilen Geschichte in überschaubare Epochen ein, um einen Überblick zu bekommen, Ordnung zu schaffen und besonders wichtige Termine herauszustellen. Wenn in wenigen Tagen das neue Jahr, das neue Jahrtausend beginnt, soll das nicht nur ein Zahlenereignis sein, sondern gerade für die Christen in der ganzen Welt ein wichtiger Einschnitt, ein Anlaß zum Feiern, aber auch zum Innehalten und Nachdenken.

Ich glaub‘ nix! An diesem Schnittpunkt der Geschichte stellt sich aber gerade für die Menschen in Europa auch die Frage nach der Lage des Glaubens, die Frage nach der Zukunft des Christentums und der Kirche in unserer Gesellschaft. Immer weniger Menschen bekennen sich zu einer religiösen Überzeugung, beachten religiöse Gebote und beteiligen sich an religiösen Aktivitäten. Diese Tendenz spiegelt weniger eine Feindschaft gegen die Religion wider, als die vollkommene Gleichgültigkeit gegen sie, frei nach dem Motto: Ich glaub‘ nix, mir fehlt nix; trotzdem ist die europäische Kultur durchdrungen von christlichen Praktiken und Begriffen. Eine Schwächung dieses zentralen, die Gesellschaft tragenden Elements, könnte sie in eine schwere Krise bringen.

Niedergang oder Renaissance? Der englische Religionssoziologe David Martin ist der Meinung: In Europa habe ein Prozeß der Säkularisierung, der Befreiung von jeder Religion - besonders vom Christentum - ein Ausmaß erreicht, das in der modernen Welt einmalig sei. Es handelt sich heute um eine Emanzipation aller weltlichen Bereiche vom Einfluß der Religion. Daraus ergebe sich ein Niedergang der religiösen Überzeugungen und Verhaltensweisen. Und das habe zur Folge ein Zerreißen eines über Jahrhunderte entstandenen Geflechtes von Religion und Gesellschaft. Einer solchen These der Religionssoziologen steht allerdings auch eine andere Auffassung gegenüber. Diese besagt, daß heute weltweit eine religiöse Renaissance im Gange sei. Einer solchen Meinung schließt sich der amerikanische Historiker Georg Weigel an: In einem umfassenderen Sinn ist das Wiederaufblühen der Religion weltweit eine Reaktion auf Säkularismus, moralischen Relativismus und Hemmungslosigkeit; ist eine Bekräftigung von Werten wie Ordnung,  Disziplin, Arbeit, Hilfsbereitschaft und Solidarität.  Was folgt aus diesen sich widersprechenden Thesen? Wohl dies: In der westlichen Welt von heute - im Gegensatz zu anderen Kontinenten wie Asien und Afrika, sowie dem Subkontinent Indien- gibt es beides: Nämlich eine weltweit verbreitete religiöse Gleichgültigkeit im Spiegel der öffentlichen Meinung einerseits; andererseits aber gibt es auch Zeichen einer religiösen Erneuerung.

Drängende Fragen. Bereits vor drei Jahrzehnten wies das Zweite Vatikanische Konzil hin auf die Fragen, die auch heute wieder mehr als sonst Menschen bewegen. Es waren jene einleitenden Sätze zu der Erklärung Über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, die weiterhin aufhorchen lassen.
Es sind dies die ungelösten Rätsel des menschlichen Daseins, die heute so wie eh und je die Herzen der Menschen tief bewegen: Was ist der Mensch? Was ist Sinn und Ziel unseres Lebens? Woher kommt und welchen Sinn hat das Leid, der Tod? Es sind dies existentielle Fragen, die gerade heute wieder existentielle Antworten erfordern. Mit Recht sprechen wir von einem raschen Wandel der Zeit. Der Mensch aber, in seiner leib-seelischen Grundstruktur, bleibt immer derselbe. Daher sind auch jene letzten Fragen, die ihn bedrängen, immer dieselben.
Gerade an der Schwelle eines neuen Millenniums fragt er nach Sinn und Ziel des Weges, das heißt, er fragt letztlich nach Gott. Und Gott hat auf die Fragen der Menschen geantwortet, indem er seine Antwort in Menschengestalt zu den Menschen gesandt hat. Daher ist seit 2000 Jahren die Gottesfrage eng und unlösbar verbunden mit der Christusfrage: Niemand hat Gott je gesehen, so heißt es bei Johannes (1,18), der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht.

Mut der Gaubenden. Schöne Worte allein genügen heute nicht, sondern es ist immer das Zeugnis des Lebens, in dem das Gottesbild durch das Christusbild aufleuchtet. Denn Religion und christlicher Glaube bedeuten mehr als Wissen und Diskussion; sie bedeuten Leben, Zeugnis geben für das Leben durch das christliche Welt- und Menschenbild.
Wir leben in ständigen Wandlungsprozessen, was die heutige Zeit auszeichnet, ist jedoch nicht der Wandel, sondern dessen immer größere Schnelligkeit. Das Tempo ist so groß, daß vieles über Nacht veraltet und dabei nicht selten der Mut verlorengeht, zu Überkommenem zu stehen. Das gilt auch für das Christentum. Es gehört Mut dazu, zu einer Kirche zu stehen, die sich als ein hohes Kulturgut darstellt, und doch zugleich zu wenig den Eindruck vermittelt, Neuem gegenüber offen und aufgeschlossen gegenüberzustehen.

Es gehört aber auch Mut dazu, existentiell zu einem Menschen zu stehen, der vor 2000 Jahre gelebt hat und von dem der Anspruch erhoben wird, daß sich in ihm der Sinn der Welt vollendet und die Menschheit in ihm Heil und Erfüllung findet.
Doch es bleibt dabei: Die Christenheit hat es dahin gebracht, daß die Zeitrechnung heute in der ganzen Welt unbestritten im Blick auf die Geburt des Jesus von Nazareth ihre Zäsur findet. Es gibt keine andere lokal-regionale Zeitrechnung, die sich demgegenüber durchgesetzt hat. Und doch stellt sich die Frage: Wird das auch am Ende des beginnenden dritten Jahrtausends nach Christi Geburt noch der Fall sein? Welche Bedeutung wird das Christentum im nächsten Jahrhundert behalten? Was vermag der Christ in der Zukunft zu bewirken?
Vermutlich jeder, der sich heute als Christ versteht und sich zu Jesus dem Christus als dem heilschenkenden Wort Gottes bekennt, die Frage an sich selbst richten und fragen: Warum bin ich heute Christ?

Warum Christ sein? Ich lebe in einer vom Christentum geprägten Kultur und kann und will mich nicht davon trennen. Oder: Ich habe mich umgeschaut nach anderen Lebensantworten und habe bis heute noch keine überzeugendere als die christliche gefunden. Oder: Der Umgang mit der Geschichte des Christentums zeigt mir, daß ganz offensichtlich ein roter Faden erkennbar bleibt.
Der rote Faden verbindet mich einerseits mit dem Anfang einer geschichtlichen Entwicklung, die in ihrer Rede von Heil, Heilung und Befreiung allen Dunkelseiten und Ausweglosigkeiten zum Trotz Hoffnung und Sinn verspricht. Andererseits endet der aus der Vergangenheit kommende rote Faden offensichtlich nicht in der Gegenwart, sondern läßt sich in der Zukunft weiterspinnen. Solange der Ursprung der Christentumsgeschichte mit seiner Inspiration wirksam bleibt, tut das im übrigen der Welt - trotz Allem - gut. Denn was will die Welt anderes als Friede und Versöhnung, Gerechtigkeit und Solidarität, Liebe, wechselseitigen Respekt und gegenseitige Zuwendung?
Den roten Faden aber haben wir nicht erfunden. Wohl halten wir ihn in gewissem Sinne in unseren Händen. Entsprechend können wir mit ihm zum gegenseitigen Nutzen wie Schaden umgehen. In der kurzen Etappe meines Lebens kann ich mich eigentlich nur bemühen, meinen Teil dazu beizutragen, daß der rote Faden in die Zukunft hinein entrollt wird und als roter Faden einer Geschichte erkennbar bleibt.

Profil heute. Was heißt das konkret? Christsein heute ist keine willkürliche Erfindung meinerseits. Soll es ein erkennbares Profil haben, muß es als christliches Glaubensprofil erkennbar und unterscheidbar bleiben. Hier aber tun wir uns nach einer im Rückblick letztlich doch eher euphorisch zu nennenden Zeit heute schwer.
Wenn nicht alles täuscht, gibt es inzwischen eine wachsende Zahl von Gestalten einer gottlosen Religion. Das heißt: Es gibt immer mehr Menschen, die ihr Bedürfnis nach Sinn durch gottfreie Religionsformen – zur Zeit ist der Reinkarnationsglaube sehr en vogue – befriedigen. Es gibt Sinnsucher, die dem Unverfügbaren, dem Unbegreiflichen und letztendlich doch immer wieder Überraschenden staunend Platz in ihrem Leben geben, die aber gerade das Christentum ablehnen, weil es den Eindruck hinterläßt, wir könnten dem Unverfügbaren - Gott genannt - am Ende doch in die Karten schauen. Schließlich hat es sich das Christentum selbst dadurch nicht einfacher gemacht,   daß es den Menschen zum Partner Gottes erklärt hat, der ihn als solchen mit Verstand und Freiheit ausgerüstet hat. Verstand und Freiheit erweisen sich nämlich immer mehr als ambivalente Größen.
Christliches Glaubensprofil kann dagegen nur immer wieder bei der Geburt eines Menschen ansetzen, welche die Christen als die Menschwerdung Gottes bekennen. Im Hin- und Herblick von der Jesus-Gestalt, die sich uns in Umrissen doch immer neu erschließt, zur Gestalt unseres eigenen Menschseins, seinen Chancen und seinen Grenzen, bleibt am Ende die Beobachtung, daß der Kreuzestod Jesu die Menschen nicht losgelassen hat, sondern festhält. Es bleibt die Merkwürdigkeit, daß Menschen zu allen Zeiten und weltweit immer noch vor dem Bild Mariens mit dem toten Sohn auf dem Schoß betend und klagend verharren. Es bleibt auch das Verwunderliche, daß sich aus der christlichen Überzeugung heraus Menschen nicht mit dem Bösen und Negativen in der Welt abzufinden bereit sind, ja daß über den Raum des Christentums hinaus diese Absage immer neue Kräfte des Widerstandes freisetzt.

Heilkraft des Glaubens. Die Zukunft des Christseins im dritten Jahrtausend hängt, vielleicht mehr noch als in der bisherigen Christentumsgeschichte, wesentlich ab von der Heilkraft des Glaubens. Um diese umfassend zu beschreiben müssen wir von dem Glauben sprechen, der Berge versetzt, der betend Leid überwindet. Es ist der Glaube, den Jesus bei den Kranken vorgefunden hat, die er geheilt hat: Dein Glaube hat dich gesund gemacht. Die Heilkraft des Glaubens zeigt sich in der Kunst des gesunden Lebens, wie sie die frühchristliche Spiritualität als Konkretisierung des Evangeliums verstanden hat. Die Kunst des gesunden Lebens zeigt sich in der Feier des Kirchenjahres, die eine heilende Wirkung auf den Menschen hat, die ihm den Rythmus schenkt, der ihm guttut, und die ihn mit den wichtigsten Bildern seiner Seele in Berührung bringt. Die heilende Wirkung des Glaubens kann sich auch in den Sakramenten vollziehen, in denen Jesus den heutigen Menschen genauso berühren und heilen will, wie er es damals durch seine Berührung getan hat.

Göttlicher Funke. Es geht aber nicht nur um den Glauben, der den Menschen davon überzeugt, daß Gott seine Leiden zu heilen vermag. Es geht vielmehr darum, daß ich in meiner oft leidvollen Lebenssituation glauben darf, daß ein gesunder Kern in mir ist. Ich glaube daran, daß in mir ein einmaliges Selbst ist, das Gott geformt und gebildet hat. Es ist das wahre Selbst des Menschen. Und dieses Selbst, dieser göttliche Funke ist und bleibt unberührt von Leid, Krankheit, Bitterkeit, von Zerissenheit und Spaltung. Glauben heißt, mit diesem inneren Selbst in Berührung zu kommen.
Der Weg hin zu diesem Glauben geht über Gebet und Meditation. In der Meditation, im Ausatmen vor Gott, gelangt der Mensch zum inneren Grund, in den Raum der Stille, wo Gott lebt. Dort kann niemand den Menschen verletzen oder kränken. Dort schweigen auch die eigenen Selbstbeschuldigungen und Vorwürfe, die sonst oft den Menschen nach unten ziehen.
Nur aus diesem tiefen Fundament der gläubigen Verbindung mit Gott heraus erhält menschliches Leben in Kirche und Gesellschaft seine Kraft und seinen Sinn. Aus der eigenen Betroffenheit, dem sich angesprochen Fühlen von Gott und seiner Wahrheit wird der Mensch frei und befähigt sich aussenden zu lassen zum Dienst für den Nächsten.

Kirche morgen. Die große Herausforderung für die Kirche im kommenden Jahrtausend wird sein, ob und wie sie den Weg zu den Menschen findet und ein glaubwürdiges Zeugnis gibt. Die Kirche von morgen wird christlich sein, ihr Fundament in dem einen gründen, dessen Tod und Auferstehung wir als Kirche feiern und verlebendigen. Daher ist unser dringendster Auftrag, die Trennungen zu überwinden und alles daran zu setzen, wieder der eine Leib Christi zu werden, nicht zersplittert, zertrümmert, und zerstört, sondern als Einheit in Verschiedenheit. 

Die Kirche von morgen wird eine solidarische Kirche sein, die sich wie Jesus auf die Seite der Menschen stellt, die benachteiligt, ausgegrenzt und allein sind.

Die Kirche von morgen muß eine geschwisterliche Kirche sein, welche die Ergänzung von Frauen und Männern als Auftrag, Bereicherung und Geschenk erkennt. Die Kirche von morgen mischt sich ein, läßt sich nicht instrumentalisieren von unterschiedlichen Regierungen, Moden oder Strömungen. Ihr höchstes Ziel ist Gerechtigkeit, das Wohl des Menschen, der als Abbild Gottes geschaffen wurde. Die Kirche von morgen wird eine betende Kirche sein, denn aus uns vermögen wir nichts. Doch wir haben die Zusage: Bittet, und euch wird gegeben.

Keine Utopie. Die Kirche von morgen wird eine charismatische Kirche sein, die den Mut hat, durch den Geist Gottes Mauern einreißen, sich verwirren, aufrütteln, erschüttern, ändern zu lassen. Die Kirche von morgen wird eine pilgernde Kirche sein, die sich nicht in Häusern und Palästen einrichtet, denn der Menschensohn hat keinen Ort, wo er sein Haupt betten kann (Mt 8, 20). Die Kirche von morgen wird eine hörende Kirche sein, die ganz Ohr ist; eine sehende Kirche, welche die Anliegen der Menschen nicht aus dem Blick verliert; eine fühlende Kirche, die keine Angst vor Berührung hat. Die Kirche von morgen ist eine gütige Kirche, in der das Gesetz für den Menschen da ist, nicht der Mensch für das Gesetz. Die Kirche von morgen ist eine heilende Kirche, die nicht straft, wo Versagen ist, sondern vergibt. Die Kirche, die aus dem Evangelium lebt, ist keine Utopie. Sie wird Wirklichkeit durch die Menschen in ihr, durch Menschen mit Mut, Hoffnung und Begeisterung. Wenn sich in wenigen Tagen die Pforten öffnen zum Beginn des großen Jubiläumsjahres sind die Christen in aller Welt dazu eingeladen, die Schwelle zu überschreiten in das neue christliche Jahrtausend. Herr, baue deine Kirche und fange bei mir an.- Herr, ich sehne mich nach dieser Kirche, ich fange heute an!

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016