Herzschlag

14. November 2007 | von

Vom Beginn der Menschheitsgeschichte an fühlten und wussten die Generationen, dass es naturnotwendige Aufgabe ist, ihren Kindern zu helfen, selbständig zu werden, zu erlernen und zu vollziehen, was zur Bewältigung ihres Lebens notwendig ist. Diese umfassende Hilfeleistung ist in die Erziehung eingebettet. Sie bezieht sich auf alle menschlichen Bereiche, Entwicklung und Entfaltung des Körpers, der Psyche, des Wollens und Denkens sowie auf Beispiel gebende Weisung für eine sinnbestimmte religiöse Orientierung und Vollendung.

Jeder Mensch ist vom Beginn der vorgeburtlichen Entstehung an auf liebende und helfende Fürsorge angewiesen, ohne die er verkümmern, verwahrlosen, ja sogar sterben würde. Die gottgewollte und naturgemäße Priorität hinsichtlich des Rechts und der Pflicht dieser Hilfeleistung kommt zuallererst der Familie zu.

Pflicht und Recht. Gott schenkt einem Elternpaar ein Kind und zugleich eine natürliche Bindung mit emotionalen und kognitiven Fähigkeiten aus einer aufbrechenden und aufblühenden Liebe heraus. Daraus entstehen ein natürliches Sorge-Empfinden und Verhaltensmuster, in besonderer Weise bei der Mutter. Elterliche Erziehung bemüht sich vor und nach der Geburt um immer neues, den jeweiligen Entwicklungsphasen gerecht werdendes, bestmögliches erziehliches Helfen. Das ist „elterliche Naturbegabung".

Die Liebe Gottes ist auch Quell der Liebe im pädagogischen Handeln. Sie ist Bedingung dafür, die Einmaligkeit und Besonderheit eines Kindes zu respektieren und spüren zu lassen. Sie holt das Kind dort ab, wo es steht, und nimmt es an. Von Johann Heinrich Pestalozzi stammt die wichtige pädagogische Einsicht: „Ihr müsst die Kinder lieben, wenn ihr sie verändern wollt, euer Einfluss reicht nur so weit wie euere Liebe." Elementare Zeichen dieser Liebe sind zum Beispiel: Schenken von Geborgenheit, Hautkontakt, Wärme, Nahrung, gute Schlafbedingungen, Zärtlichkeit, Blickkontakt, Freude, Lächeln, Opferbereitschaft, Selbstlosigkeit.

Familie nach Gottes Plan. „Gott schuf den Menschen als sein Abbild … Als Mann und Frau schuf er sie" (Gen 1,27). Und: Gott gab ihnen den Auftrag: „Seid fruchtbar und vermehrt euch!" (Gen 1,28). Gleichklang und Verschiedenheit ihrer geschlechtsspezifischen Sexualität ermöglichen Mann und Frau geistige, psychische und physische Ergänzung und Einswerdung. Dies ist ein Geschenk des Schöpfers. Gott schuf die zweigeschlechtliche Zuordnung und Ergänzung in der gemeinsamen Liebe als wesenskonstitutiv. Nur in der Sinnerfüllung gemäß dem Schöpfungsplan Gottes kann wechselseitiges Glücklichsein Stabilität und Erfüllung erhalten. Für die Familie bedeutet „Liebe und Geborgenheit schenken" eine der wichtigsten pädagogischen Grundregeln. Jeder Mensch braucht das elementare Gefühl, sich in existentieller Sicherheit und Geborgenheit zu wissen. Das ist vergleichbar mit einem Baum, der in einem festen Grund verwurzelt sein muss, damit er den Stürmen standhält, die ihn bisweilen rütteln. Sicheres Geborgenheitsgefühl fließt aus dem Erleben tiefer und starker Liebe. Diese vermittelt das Bewusstsein, angenommen und geliebt zu sein, dadurch einen Wert zu haben, stärkt und festigt das Vertrauen zu sich selbst, zu den Mitmenschen und zu Gott. Wenn wir in einem Kind dieses elementare Gefühl des Geliebt- und Geborgenseins aufbauen, errichten wir gleichzeitig einen der tragenden Grundpfeiler religiöser Erziehung. Dieser bedeutet für das Kind grundlegende Stütze für seine im Herzen ruhende Sehnsucht, auf die Liebe und Geborgenheit Gottes zu vertrauen und damit den Sinn des Lebens froh zu bejahen.

Pränatale Gefühlserlebnisse. Eltern sollten, sobald sie von der Existenz eines Kindes in ihrer Mitte wissen, sofort damit beginnen, diesem Zuwendung zu schenken. Die Psychologie der pränatalen Phase erkannte, dass schon beim ungeborenen Kind aufbauende und stabilisierende Gefühle wie Liebe, zärtliche Annahme, Geborgenheit, Freude und frohe Erwartung prägend wirken. Sie verankern sich im Urgrund seines Unter- beziehungsweise Unbewussten. Allmählich entsteht so ein Fundament des Urvertrauens. Während der Jahre nach der Geburt sollte dieses eingepflanzte Urvertrauen weiter ausgebaut werden. Es gibt hierfür viele Anlässe: ein zärtlicher Kuss auf die Stirn, gemeinsames Beten, liebevolles Helfen im Krankheitsfall, und anderes mehr. Bevor ich als kleiner Junge am Abend einschlief, setzte sich meine Mutter an den Bettrand. Sie strich mir über das Haar und nahm meine gefalteten Hände in die ihrigen. Zusammen sprachen wir ein kurzes Gebet. Tiefenpsychologische Erkenntnisse besagen, dass ruhiges Einschlafen und gutes Schlafen ein elementares Erleben von Geborgenheit ist, in die man sich fallen lässt. Die unmittelbare Zeit vor dem Einschlafen ist daher eine wertvolle Gelegenheit, im Tiefenbewusstsein des Kindes das Gefühl von Geborgenheit zu verankern. Die Psychologie nennt dies „Transfer". Konkret fühlt das Kind Geborgenheit von Vater und Mutter her, im Schlaf übernimmt und überträgt unmittelbar das existenzielle Unterbewusstsein dieses Erleben: Gott selber schenkt diese Geborgenheit. Geborgenheit in liebevoller Wärme ist für ein Kind eine prägende Erfahrung. Erziehung, die in Gottes Liebe verankert bleibt, schlägt dabei eine wertvolle Brücke.

Kraftstrom des Lebens. In der Erziehung geht es immer um einmalige Menschen. Diese „brauchen immer mehr als eine bloß technisch richtige Behandlung. Sie brauchen Menschlichkeit. Sie brauchen die Zuwendung des Herzens" (Papst Benedikt XVI.). Menschen brauchen Liebe, vor allem Kinder. Vom Herzen aus pulsiert der Kraftstrom des Lebens. Im übertragenen Sprachgebrauch meint das „Herz" „die Mitte", „die Tiefe", das, was unverzichtbar für einen komplexen Prozess ist. Das „Herz" ist nicht nur „Sinnträger", sondern belebt, steuert und ordnet das diesem Sinn zugeordnete Entwicklungsgeschehen. Von ihm geht die Zufuhr ununterbrochener Impulse und belebender Kraft aus. Mit erhöhten oder verringerten Pulsschlägen bringt es Prozesse in Schwung, die lebenserhaltend sind. Wo das „Herz" des Menschen seine Aufgaben nicht mehr richtig erfüllen kann, folgen Krankheit und Tod des Betroffenen.

So ist es auch mit dem „Herzschlag" der Erziehung: Wo die Liebe ihre Aufgabe nicht mehr erfüllt, krankt pädagogisches Helfen oder endet im Misserfolg. „Mit der Laterne nicht, mit dem Herzen suche die Menschen, denn der Liebe allein öffnen Menschen ihre Herzen" (Peter Rosegger). Die in den letzten Jahrzehnten sukzessive veränderte Einstellung zu Erziehungsmaßnahmen im Allgemeinen hat sich auf das Verhalten heutiger Jugendlicher ausgewirkt. Immer häufiger wachsen junge Menschen fast oder ganz ohne Regeln und ethische Normen auf. Mit der Vernachlässigung echter Autorität wird ein wesentlicher Aspekt der Liebe abgekappt, denn an der Wahrnehmung jener von Gott den Eltern übertragenen natürlichen Autorität ist immer die Liebe das Zentrum. Eine auf Angst und Gewalt bauende Autorität ist lieblos und schädigend. Man spricht hier von autoritärer Erziehung. Eine mit Kompetenz, Wissen und Fürsorge ausgeübte Autorität tut alles zum Wohl der anvertrauten Menschen. Sie hat immer die Liebe zum Maßstab.

Liebe und Autorität. „Liebst du deine Kinder, dann scheue auch keine Strafen. Bist du ihnen nicht in Liebe zugetan, dann verwöhne sie" (Chinesisches Sprichwort). Verhätschelndes, mit Geschenken erkaufendes und überhäufendes, stets nachgebendes Verwöhnen hat sehr wenig mit Liebe zu tun. Echte Liebe muss auch konsequent und streng sein. Daher ist Strafe durchaus mit Liebe zu vereinbaren. Der anvertraute Mensch muss jedoch spüren und erkennen können, dass Strafe gerecht ist und nicht willkürlich, aggressiv oder zur Machtdemonstration missbraucht wird. Wahrnehmen von Autorität und Auferlegen von Strafe dürfen Erzieher auf keinen Fall mit Liebesentzug verbinden. Vielmehr muss dahinter die klare Aussage spürbar sein: „Du weißt, dass du diese Strafe bekommen musst. Du sollst aber wissen, dass sich an meiner Liebe zu dir nichts ändert." Das Kind wird die Strafe dann, ohne psychisch verletzt zu sein, annehmen und sich mit dem Vorgefallenen auseinandersetzen.

Quelle der Barmherzigkeit. Wahre Liebe und Barmherzigkeit sind untrennbar. Gott hat es uns in Jesus Christus vorgelebt und mit dem Gebot der Liebe einen Lebensauftrag gegeben. In einem alten Buch aus dem Jahre 1662 mit dem Titel „Blumengarten" schreibt Christoph Lehmann: „Barmherzigkeit sieht auf die Not und nicht auf die Ursache noch auf die Person." Es gibt immer wieder Situationen, in denen mir in meinem Nächsten ein leidendes und geschundenes Du begegnet. Gerade dann ist Hilfe nur aus pädagogischer Liebe heraus möglich, die in Barmherzigkeit eingetaucht und von ihr durchdrungen ist. Ja, es gibt Situationen, in denen wir pädagogische Liebe ganz tief in Selbstentsagung und Barmherzigkeit einbinden müssen. Es macht traurig und besorgt, wenn eine „Management-Pädagogik" selbstlose, barmherzige Liebe an den Rand drängt und als ineffektiv abtut. Heute wird vorrangig auf „psychische Abhärtung durch Abkühlung des Herzens" gesetzt. Wo aber der tiefe Sinn von Leiden und Behinderung generell nicht mehr verstanden wird, da hat auch barmherzige Liebe keinen Platz mehr. Es ist eine erschreckende Entwicklung unserer Zeit, die bereits mit gesetzlicher Erlaubnis Wegweiser des Todes setzt, um ungeborene behinderte Babys töten zu können.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016