Hier seufze dreimal tief

06. Februar 2023 | von

Dem Thema „Glaube und Gefühle“ widmet sich unsere Autorin, die ehemalige Vorsitzende der DeutschenOrdensobernkonferenz. Sie plädiert dafür, Emotionen zuzulassen – und dabei auch den eigenen, stimmigen Weg zu finden.

Wenn der Kalender den 8. Dezember anzeigt, das Hochfest der Unbefleckten Empfängnis, dann ist das in Italien eins der Mega-Feste. Die Römer ziehen zur Mariensäule am Fuß der Spanischen Treppe, huldigen der Gottesmutter, beten. Auch der Papst. Aber der natürlich hochoffiziell. Alle stehen drumherum, schauen ihn an, die Kameras surren. Das Gebet ist selbstverständlich vorbereitet, wird abgelesen, vor dem Mikrophon. So ist das. 2022 aber ist etwas anders. Nach dem ersten Satz des Papstes, über die Situation in der Ukraine, kann er nicht mehr weiter. Er beginnt zu weinen. Er neigt den Kopf, es schüttelt ihn. Es ist ganz still – und dann applaudieren die Menschen. Wollen sie ihm über eine peinliche Situation hinweghelfen? Oder drücken sie so ihre Nähe aus? Weil es authentisch rüberkommt? Weil es ihrem eigenen Gefühl entspricht? Ein Papst, den im Gebet die Gefühle überwältigen, ungeplant und nicht im stillen Kämmerlein.

Emotionen: zu viel, zu wenig?

Geplanter läuft das in der Volksfrömmigkeit. Da haben Emotionen Platz. Da haben sie eine Form. Ob es das Küssen einer Statue in südlichen Ländern ist. Ob es das Tanzen in einer afrikanischen Gemeinde ist. Ob es das kniende Umrunden eines Gnadenbildes ist. Eine Form für die Gefühle des Volkes. Ist das eine Chance? Oder die Gefahr der Veräußerlichung, weil die Form wichtiger werden kann als das Gefühl, das sie eigentlich ausdrücken soll? Oder die Gefahr der Über-Emotionalisierung?

Die vermutet man auch manchmal, wenn charismatische Gruppen beten. Werden da nicht Gefühle gemacht? Mit Gefühlen gespielt? Oder sind wir manchmal zu gefühlsarm in unserer Liturgie? In unserem Gebet?

Gar nicht so einfach…

Meine alten Mitschwestern erzählen von Betrachtungsbüchern, in denen es in einer Art Regieanweisung hieß „Hier seufze dreimal tief.“ Das ist nicht mehr meine geistliche Literatur. Aber was darin steckt, ist doch: Glaube braucht auch Gefühle – und die kann man nicht direkt verordnen. Schon gar nicht aufzwingen. Aber: Auch wenn man Gefühle nicht direkt beeinflussen kann, kann man Gefühle, die man haben möchte, durch entsprechende Gedanken oder Handlungen, Seufzen beispielsweise, erleichtern und damit wahrscheinlicher machen.

Aber wollen wir überhaupt Gefühle im Glauben? Beim Synodalen Weg wird von Einzelnen immer wieder gefordert, die Emotionen aus den Diskussionen herauszulassen. Geht das? Bei Themen, die allen am Herzen liegen? Und wo wir doch eben keine kalten Funktionäre brauchen? Wo sind von wem Gefühle im Glauben gewollt – und wo eben auch nicht? Wo sind sie angemessen – und wo nicht?

Biblische Gefühlsausbrüche

Die Bibel jedenfalls ist ein Buch voller Emotionen. Gleich zu Beginn der Bibel wird erzählt von der Scham von Adam und Eva, nachdem sie vom Baum gegessen haben. Kain „überläuft es heiß“ und er bringt seinen Bruder Abel um. Zwischen Jakob und Esau herrscht Geschwisterneid. David tanzt voller Freude vor der Bundeslade – und seiner Frau ist es peinlich. Hiob leidet, Jeremia ist verzweifelt. Die Psalmen kennen die ganze Klaviatur der Gefühle. Und drücken sie aus. Vor Gott! Und wie im ganzen Alten Testament sind das keineswegs nur die „schönen“, „angenehmen“, gesellschaftlich-moralisch „gewollten“.

Und Jesus? Umberto Ecos „Der Name der Rose“ dreht sich um die Frage, ob Jesus gelacht hat. Dass er geweint hat, beim Tod seines Freundes Lazarus, ist überliefert. Gefeiert hat er auch gerne, so sehr, dass man ihn einen „Fresser und Säufer“ nannte. Er hatte Sehnsucht, das Abschiedsmahl mit seinen Freunden zu feiern. Im Garten Getsemani packt ihn die Angst. Und sonst im Neuen Testament? Petrus weint aus Reue nach der Verleugnung, die aus Angst geschah. Maria Magdalena weint aus Liebe. Paulus sagt von sich selbst, er sei „mit Furcht und Zittern“ gekommen. Und im Sendschreiben an die Gemeinde von Laodizea heißt es „Weil du lau bist, weder kalt noch warm, werde ich dich ausspeien aus meinem Mund.“ Das klingt nicht, als sei der göttliche Sprecher emotionslos – und auch was er von der Gemeinde erwartet, ist wohl kaum ein wohltemperierter Glaube rationalen Kalküls.

Emotionen der Heiligen

In der Geschichte der Kirche geht das weiter. Einfach mal ein Blick auf die Heiligen: Als Bruder Immerfroh wird Franz von Assisi verniedlicht. Ja, er kannte die Freude und konnte auf einem Stück Holz musizieren und im Überschwang französische Lieder singen. Doch er weinte auch. Offenbar sogar oft. Einmal mit dem immer wiederholten Satz „Die Liebe wird nicht geliebt.“ Welch ein Kummer!

Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenordens, hat die alte Tradition der Unterscheidung der Geister, einer Methode, um aus dem Glauben heraus Entscheidungen zu treffen, aufgenommen. Er hat sie in eine Form gebracht, die ganz darauf aufgebaut ist, die eigenen Gefühle in kluger Weise zu nutzen, um den Willen Gottes zu finden. Geistliche Entscheidungsfindung, etwas, was im Ringen um eine synodale Kirche immer wieder eingefordert wird.

Thérèse von Lisieux kämpfte als Kind mit ihrer Launenhaftigkeit. Und sie, der der Glaube zuzufliegen schien, lebte am Ende ihres Lebens in tiefster Dunkelheit und Verzweiflung, weil ihre emotionalen Gewissheiten ihr genommen waren.

Gefühle machen Beziehungen

Nein, eine Heiligsprechung der Gefühle ist fehl am Platz. Eine Verteufelung aber auch. Das Verhältnis von Denken, Fühlen und Handeln ist und bleibt ein Balanceakt. Im menschlichen Leben. Im christlichen Leben. Gefühle sind der Kitt in Beziehungen. Auch ein Artikel wie dieser läuft über Gefühle. Meine, die ich hineinlege. Ihre, die in Ihnen wachgerufen werden. Sie lesen weiter, wenn zwischen uns, trotz der Distanz, ein Gefühl von Beziehung entsteht. Es fasziniert mich immer, dass das über Bücher und Zeitschriften geht. Übrigens auch in Video-Konferenzen. Beim Synodalen Weg haben wir mit großem Gewinn und Tiefe digitale Bibelgespräche geführt. Auch von anderen Gruppen weiß ich das. Bei allem Vorzug, den ich dem direkten Kontakt geben würde: Auch digital ist Begegnung möglich, werden Gefühle ausgelöst. Auch so geschieht Beziehung.

Umgang mit Gefühlen lernen

Wie immer baut auch beim Thema „Glaube und Gefühle“ die Gnade auf der Natur auf. Aus der Psychologie können wir lernen, wie der Umgang mit Gefühlen gelingen kann. Das Erste ist das Wahrnehmen. Was fühle ich gerade? Signalisiert mein Körper mir etwas? Ein Kloß im Hals? Herzklopfen? Ein Grummeln im Magen? Ein leichtes Erröten? Eine große Hilfe, um Gefühlen nicht einfach ausgeliefert zu sein, ist, sie nach dem Wahrnehmen auch benennen zu können. Dabei müssen wir oft noch ein bisschen üben. Es gibt auf die Frage „Wie fühlst du dich?“ mehr als nur die Antworten „Gut“ oder „Schlecht“. Wenn man das Wort „Gefühl“ nicht zu eng sieht, lassen sich leicht 100 deutsche Worte für Gefühle finden. Haben Sie Lust, es mal auszuprobieren? Nehmen Sie einfach ein Blatt und schreiben Sie kreuz und quer die Gefühle auf, die Ihnen einfallen. Es hilft, für diese Übung und im Leben, wenn man verschiedene Richtungen von Gefühlen „auf dem Schirm“ hat – und viele Nuancen. Es macht einen Unterschied, ob ich ein bisschen genervt oder voller Jähzorn bin. Ob ich mich still zufrieden oder himmelhochjauchzend fühle. Der nächste, dritte Schritt, ist dann, diese Gefühle auch wirklich anzunehmen. Bei Freude geht das leicht. Meistens jedenfalls. Schwieriger ist es, Neid zuzugeben oder Wut. Sogar sich selbst gegenüber ist das manchmal nicht einfach. Dann erst, wenn ich mein Gefühl wahrgenommen, benannt und angenommen habe, kann ich schauen, was ich damit mache. Im Licht meiner Werte kann ich schauen: Will ich es ausleben? Wann? Noch mal drüber schlafen? In welcher Form kann ich es leben? Ignatius hat dann noch eine ganze Reihe Kriterien, mit denen er erklärt, wie solch ein Weg helfen kann, Entscheidungen zu treffen. Den Willen Gottes zu entdecken. Aber echte geistliche Entscheidungsfindung braucht immer Gefühle – und keineswegs nur die erwünschten. Wenn jemand Exerzitien macht, sich in der Stille Gott aussetzt und es kommen keine Gefühle, dann, so Ignatius, soll der Begleiter oder die Begleiterin fragen, ob der, der Exerzitien macht, wirklich seine Gebetszeiten hält und richtig einsteigt. Denn dann kann es eigentlich nicht sein, dass er ohne Gefühle bleibt. Sie sind nicht nur der Kitt menschlicher Beziehungen. Gefühle sind auch der Sprit in der Beziehung zu Gott. Und mal ehrlich: So richtig überraschend ist das nicht. Schon in der jüdischen Tradition, die im Neuen Testament ausdrücklich von Jesus aufgenommen wird, heißt es im 5. Vers des 6. Kapitels des Buches Deuteronomium: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.“ Manche Übersetzungen sagen auch „mit ganzem Gemüt“. Da kann und darf nichts außen vor bleiben, auch nicht die Gefühle. Denn es geht um die Liebe. Die ist mehr als nur ein Gefühl. Natürlich: Es gibt eine tätige Liebe, die mehr mit Selbstüberwindung als mit Sympathie zu tun hat. Und doch: Liebe fordert den ganzen Menschen. Man kann sie nicht machen. Aber fördern kann man sie.

Was passt zu mir?

Reizt es Sie, da weiter nachzudenken? Etwas dazu zu lesen? Vielleicht „Glaubensriesen, Seelenzwerge“ von Peter Scazzero oder „Wachsen über mich hinaus“ von mir? Mögen Sie Wahrnehmungsübungen machen? Körperliche? Innerliche? Oder gibt es Gefühle, die Sie vermissen, die Sie gern hätten? Auch im Glauben? Sie können sie nicht aus sich herausquetschen. Aber Sie können all das tun, was sie befördert: Wer in der Bibel Menschen begegnet, die sind, wie er oder sie gern wäre, kann sich in sie hineinträumen. Die Sakramente können, wenn sie gut gefeiert werden, die emotionale Nähe zu Gott nähren. Die Körperhaltung spielt eine Rolle. Gefühle der Ehrfurcht kommen leichter im Knien, als wenn ich auf dem Sofa lungere. Nein, „hier seufze dreimal tief“ empfehle ich nicht. Bleiben Sie bei dem, was zu Ihnen passt. Hoffentlich lassen Sie sich nichts aufschwatzen. Aber wichtig ist, dass Sie dran bleiben, bei dem, was zu Ihnen passt. Und nein. Wir werden da nicht vollkommen. Unsere inneren Gefühle und unsere Werte werden immer in einer Spannung stehen. Das ist wie bei einer Gitarrensaite. Ausgespannt zwischen Werten, Idealen auf der einen und Gefühlen, Bedürfnissen, Realitäten auf der anderen Seite: Wird die Spannung zu groß, reißt die Saite und gibt keinen Ton mehr. Aber eine Saite, die nicht gespannt ist, gibt auch keinen Ton. Auf die rechte Spannung kommt es an. Da dürfen wir üben. Stimmübungen machen. Und manchmal auch gefrustet sein. Auch das ist eben ein Gefühl. Wichtig ist, dass wir es sind, die das Gefühl haben, statt dass das Gefühl uns hat! Dann können wir weitergehen, auf dem Weg der Gottesliebe. Denn darum geht es doch im Glauben. Gott zu lieben und unsere Nächsten. Das ist der Kern des Glaubens. Meist gehen wir wohl in kleinen Schritten. Das erzählt eine Geschichte, deren Autor/in mir unbekannt ist, so wunderbar tröstlich:

Auf dem Weg sein

Ein junger Jude kommt zu einem Rabbi und sagt: „Ich möchte gern dein Jünger werden.“ Da antwortet der Rabbi: „Gut, das kannst du, aber ich habe eine Bedingung: Du musst mir eine Frage beantworten: ‚Liebst du Gott?‘“ Da wird der Schüler nachdenklich: „Lieben? Das kann ich eigentlich nicht behaupten.“ Der Rabbi sagt freundlich: „Gut! Wenn du Gott nicht liebst, hast du denn Sehnsucht danach, ihn zu lieben?“ Der Schüler überlegt eine Weile und erklärt dann: „Manchmal spüre ich die Sehnsucht danach, ihn zu lieben, recht deutlich, aber meistens habe ich so vieles zu tun, dass diese Sehnsucht im Alltag untergeht.“ Da zögerte der Rabbi und sagt: „Wenn du die Sehnsucht, Gott zu lieben, nicht so deutlich verspürst, hast du denn dann Sehnsucht danach, Sehnsucht zu haben, Gott zu lieben?“ Da hellt sich das Gesicht des Schülers auf: „Genau das habe ich. Ich sehne mich danach, diese Sehnsucht zu haben, Gott zu lieben!“ Der Rabbi entgegnet: „Das genügt. Du bist auf dem Weg.“

Zuletzt aktualisiert: 06. Februar 2023
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