„Ich bin der Surrealismus“

15. April 2004 | von

Was für merkwürdige Bilder da doch einer malt: Taschenuhren zerschmelzen wie gebackene Camemberts in der Pfanne, andernorts brennt eine Giraffe lichterloh, und der Körper einer Frau wird zur Kommode mit herausgezogenen Schubladen. Solch atemberaubende Visionen auf Leinwand stammen von Salvador Dalì – diesem großen Exzentriker der Kunst, der am 11. Mai 100 Jahre alt geworden wäre.
Die Kunstwelt feiert ihn als einen ihrer “Superstars“, und in seinem Geburtsland Spanien wurde das Jahr 2004 gar zum Dalì-Jahr proklamiert.
War er denn nun wirklich dieses begnadete Genie des Surrealismus, der von sich behauptete „Ich bin der Surrealismus“, dem gerade in ungezählten Symposien, Kongressen, Ausstellungen europaweit gehuldigt wird?

Markenzeichen Spitzbart. Er wusste sich auf jeden Fall blendend zu verkaufen, trug sein Markenzeichen, den Spitzbart, wie eine goldene Trophäe. Dalì ist das Paradebeispiel für einen genial gemanagten Künstler: Seine Frau Gala hielt fast 50 Jahre lang die Fäden der Vermarktungspolitik straff in ihrer Hand.
Später wurden sein Image und Name er aber auch rigoros “ausgeschlachtet“, als zweifelhafte (was Qualität und Herkunft anbelangt) Grafikblätter den Kunstmarkt regelrecht überschwemmten.
Viele seiner Grafiken gehören zu den meistverkauften, aber auch meistgefälschten Objekten des internationalen Kunstmarktes. Selbst nach einer inzwischen erfolgten systematischen Katalogisierung bleiben noch viele Zweifel.
  Nicht anzuzweifeln hingegen ist eine Reihe von Meisterwerken, aus seiner kreativsten und wichtigsten Phase, von etwa 1928 bis 1938. Sie begründeten seinen Ruf als konsequenter Surrealist, stehen aber auch einer Vielzahl nur spekulativ-theatralischer Bilder aus seinen späteren Jahren gegenüber. Was als Antiästhetik begann – sprich Kunst nicht in einem traditionellen Sinn zu machen, als Analyse und Demonstration von verschobenen Realitätsgraden – wurde von einem Kunstpublikum, das sich nach einem ersten Schockerlebnis gerne von dem lustvoll agierenden Harlekin provozieren ließ, willig aufgenommen. Zumal der Künstler mit brillant und altmeisterlich korrekt gemalten Bildern eine unwahrscheinliche Welt der Imagination vor dem Betrachter ausbreitet.

Reise ins Unterbewusstsein. Im Mittelpunkt von Dalìs Interesses stand die Erschließung einer unbekannten Welt des Unbewussten, von Träumen und mystischen Visionen. Er suchte dafür auch fundierte Erkenntnisse – und fand sie in der Begegnung mit den führenden Wissenschaftlern seiner Zeit. Insbesondere die Lehren Sigmund Freuds, der erotisch symbolische Assoziationen mit bestimmten pflanzlichen Formen verband, prägten die meist übergewichtige Symbolik in der Bildwelt Dalìs.
Seine Neugier auf die Welt und ihre menschlichen Abgründe ließ ihn zudem zahllose Themen der Weltliteratur bearbeiten. Er illustrierte – um nur einige wenige zu nennen: Dantes “göttliche Komödie“, Boccaccios “Decamerone“, Goethes “Faust“ oder die Memoiren Casanovas.
 
Skandalträchtiges Leben. Schon mit zehn Jahren beschäftigt sich Dalì mit der Malerei. Ab 1921 bekommt er eine umfassende Ausbildung an der Akademie von Madrid, wo er auch die Lasurtechniken lernt, die ihn zur höchst naturalistischen Wiedergabe von Details in seinen Bildern befähigen sollte.
Wegen angeblicher Aufwiegelung seiner Mitstudenten und “ungebührlichem“ Verhaltens wird er mehrfach vom Studienbetrieb ausgeschlossen. Bereits in dieses Jahren lernt Dalì Luis Buñuel kennen, mit dem er 1929 den ebenso skandalträchtigen wie einflussreichen surrealistischen Film “Der andalusische Hund“ dreht.
In den Zwanziger Jahren reist Dalì mehrfach nach Paris und wo er sich 1929 endgültig niederlässt. Sein Landsmann Miró führt ihn dort in die surrealistische Gruppe ein.
Zunächst malt er noch unter dem Einfluss des katalanischen Baumeisters Gaudì. Später “erfindet“ er eine Methode, seine Wahnvorstellungen auf der Leinwand Realität werden zu lassen. Mit überbordender Phantasie begibt er sich auf eine innere Bilderreise, um nicht sichtbare Gegenstände und unbekannte Wesen zu malen, die in ihrer grotesken Zusammenfügung nie (oder nur im Traum?) gesehene Gebilde ergeben.
Nach eigenen Gesetzmäßigkeiten bricht er die Regeln von Logik und Physik und schafft unberechenbar Groteskes. So drastisch von uns empfunden, weil uns in Bruchstücken Bekanntes in seiner Malweise so plastisch “echt“ modelliert wird.

Popdarsteller. 1940 wandert Dalì nach Amerika aus, wo er auch sofort große kommerzielle Erfolge feiert. Er genießt es, im Rahmen einer kultartigen Selbstdarstellung der Mittelpunkt mondäner Empfänge der High Society zu sein. Die einzige bemerkenswerte “Kunst“, die ihm zu dieser Zeit gelingt.
Nach Europa kehrt Dalì 1948 zurück. Er beginnt nun in riesigen Formaten und mir ungewöhnlichen Perspektiven religiöse Themen zu malen. Mit den Mitteln der Überlagerung malt der Künstler “Doppelbilder“, was beispielsweise zunächst nur wie eine Figur aussieht, kann bei näherer Betrachtung zu einer Landschaft werden oder umgekehrt.
Mit zunehmendem Alter überschattet seine Publicity-Sucht immer mehr sein malerisches Werk und bringt ihm den Vorwurf des Größenwahns ein. Auch flammt immer wieder die Diskussion auf, ob viele Sujets seiner Bilder “nur“ kunsthistorische Anspielungen sind, oder schlicht von anderen Künstlern geklaut wurden.
 
Letzte Tragikkomödien. In den letzten Jahren seines Lebens wird Dalì durch viele Retrospektiven geehrt, sein Wahn steigert sich aber ins Abstruse. Die Beziehung zu seiner Frau und Muse Gala nimmt immer groteskere Formen an. Während sie in ihrem Schloss Pubol “Hof hält“, zieht sich Dalì ins Fischerdorf Port-Lligat zurück, wo er durch immer aberwitzigere Aktionen auffallen will und sich dabei mit einer ganzen Schwadron von Schmarotzern und zwielichtigen Gestalten umgibt.
Noch zu Lebzeiten widmet ihm sein Geburtsort Figueras ein eigenes Museum, in dem er nach seinem Tod 1998 auch begraben wird. Es ist heute eines der meist besuchten Museen Spaniens und wird wohl 2004 einen Ansturm ohnegleichen erfahren.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016