Im Kosovo hofft man auf Wunder

14. Januar 2019 | von

Eine Entdeckungsreise war für unseren Autor die Reise in den Kosovo. Hier ist die Antonius-Verehrung tief verwurzelt und mit der nationalen Identität verwoben, und das gilt nicht nur für Katholiken.

Herzlich willkommen im Kosovo! Das Land, zwischen Albanien und Serbien beziehungsweise Mazedonien und Montenegro gelegen, wird von 111 der 193 Staaten der Vereinten Nationen anerkannt. Außer Serbien erkennen es Russland, China und fünf europäische Länder (Spanien, Griechenland, Slowakei, Rumänien und Zypern) nicht an, noch nicht einmal der Vatikan, dem das Gleichgewicht zwischen den orthodoxen Kirchen von Moskau und Belgrad zu prekär und gefährlich ist. 
Die kosovarische Nationalhymne ist ohne Text. Um jeglichen Konflikt zu vermeiden, nehme ich an. Die Republik gehört nicht zur EU, hat aber als Währung den Euro. Ich schaue mich um und muss etwas suchen, bis ich eine Landesflagge sehe, hellblau mit sechs Sternen (die Völker im Kosovo) und dem Umriss der Landesgrenzen, der dem von Europa ziemlich ähnlich ist. 
Ich fahre über die neue Autobahn, die Pristina mit Tirana verbindet, ich bin auf dem Weg nach Gjakovë im Westen des Landes, um Shën Ndout zu treffen – den heiligen Antonius und seine Brüder.  

Die junge Nation von Mutter Teresa
Niemand vergisst: Hier, auf dem Gebiet des Kosovo, wurde im Jahr 1999 in drei schrecklichen Monaten der letzte, grausame Krieg des 20. Jahrhunderts, der letzte Balkan-Krieg, ausgetragen. Die nach der Unabhängigkeit strebende Guerilla und die serbische Armee standen sich gegenüber. 800.000 albanische Kosovaren waren auf der Flucht, es gab eine heftige ethische Säuberung, die NATO griff ein, 78 Tage lang wurde Serbien bombardiert. Ein „kleiner“ Krieg mit dramatischen Zahlen: 13.000 Opfer, zum größten Teil albanische Zivilisten, 20.000 vergewaltigte Frauen, Tausende Verschwundene, von denen mehr als 1.600 nie wieder gefunden werden, davon mehr als tausend Albaner und 500 Serben. Am Ende eine verzweifelte Einigung, die das Land unter die Kontrolle der UNO stellt. Das ist die Abspaltung des Kosovo von Serbien. Darauf folgt ein Exodus der serbischen Minderheit. In Gjakovë lebten ungefähr tausend Serben, heute sind es nur noch eine Handvoll alter Frauen, rund um ihre orthodoxe Kirche.
Die Autobahn führt durch die kosovarische Ebene, am Horizont zeichnen sich wundervoll die Berge ab. Die Landschaft ist herrlich. Ich habe Bücher und Artikel über den Krieg gelesen und befinde mich nun, nach nur einer Stunde Flug aus Italien, in einem höflichen, gastfreundlichen, schönen und überraschenden Land wieder. Was weiß ich über den Kosovo? Ich lege meine Hand nicht für diese Zahlen ins Feuer, denn meine Quellen sind widersprüchlich und oft subjektiv, aber laut der offiziellen Statistik leben hier wenig mehr als 1,8 Millionen Menschen. Demographisch gesehen ist es das jüngste Land in Europa: Ein Drittel der Bevölkerung sind Kinder und Jugendliche unter 14, 54 Prozent ist jünger als 29 Jahre. 60 Prozent von ihnen sind arbeitslos. 34 Prozent der Kosovaren lebt von weniger als 1,50 Euro am Tag. 95,6 Prozent der Menschen gehören dem Islam an, 2,2 Prozent sind Katholiken (etwas weniger als 70.000). Wir sind hier im Land von Mutter Teresa (sie wurde im heutigen Mazedonien geboren, ihre Mutter war Kosovarin), ihre Statuen und Bildnisse sind überall. Es war hier, im Heiligtum von Letnicë, wo sie an einem Tag im August 1928 beschlossen hat, Nonne zu werden. Die Orthodoxen müssten ungefähr 100.000 sein: die serbischen Kosovaren. Der Kosovo ist für die Kirche in Belgrad Heiliges Land, Ort des ersten Patriarchats und vieler legendärer Klöster. 

Der Heilige zum Anfassen in Gjakovë
In Gjakovë angekommen, einer kleinen Provinzstadt mit etwa 40.000 Einwohnern, ist es leicht, die den Heiligen Petrus und Paulus geweihte Kirche zu finden: Ihre beiden Kirchtürme sind 65 Meter hoch und überragen die Stadt. Die Kirche mit großen Fenstern ist riesig. Sie wurde nach dem Krieg wieder aufgebaut, zum Großteil mit der Hilfe von Spenden aus der Diaspora. 100 Meter entfernt erhebt sich das kleine Minarett der Tekije (Tempel) von Shej Ruzhdij, Kultort des Sufismus. Gegenüber der großen Kirche liegen hinter einem Tor und fast versteckt die kisha und Shën Ndout, das kleine Antoniusheiligtum. Nebenan der Konvent, in dem vier Brüder leben.
Ein paar Tage später erklärt mir der kleine, aber energische Lush Gjergji, 67 Jahre alt und Vikar des Bischofs, ein im Kosovo sehr beliebter Priester, in Pristina: „Der heilige Antonius ist der beliebteste Heilige hier. Er wird von den Katholiken verehrt, aber auch Moslems wenden sich an ihn. Die Franziskaner haben das Land nie verlassen, sie haben den fünf Jahrhunderten unter türkischer Herrschaft getrotzt. Sie haben die albanische Sprache und Kultur verteidigt. Und unsere Leute hier wissen das.“ Ndue Antonio Kajtazi, 48 Jahre alt, ist der Rektor des Heiligtums. Er lächelt und bietet mir raki an, einen starken und guten Schnaps aus seiner Heimat. „Der heilige Antonius ist die Nummer Eins. Wir sind in seinem Kult aufgewachsen. Er ist der Freund, der jedes Gebet anhört.“ 

Verehrung von Christen und Muslimen
Es war ein Franziskaner aus dem Trentin, Emilio Gabos, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die erste Antoniuskapelle errichten ließ. 1931 konnte Dank Spenden sowohl von Katholiken als auch von Moslems das Heiligtum erbaut werden: Dienstags, am Tag des Heiligen, gibt es hier einen ununterbrochenen Fluss von Gläubigen. Es kommen Paare, Männer und Frauen, junge Mädchen und Jungs, bis es dunkel wird. Sie zünden Kerzen an und hinterlassen eine Spende. „Die Menschen müssen berühren, sie wollen die Statue anfassen, mit einem Foto, einem Gegenstand oder einem Kleidungsstück von den Kindern, dem Verlobten, von einem Freund darüberstreichen,“ sagt mir Pater Ndue. Es kommen auch Moslems. Sie machen kein Kreuzzeichen, aber sie benetzen ihr Gesicht mit Weihwasser. Sie legen Kerzen nieder. Und wenn sie wieder gehen, gehen sie rückwärts: Man wendet dem Heiligen nicht den Rücken zu! 

Hoffnung auf 13 Wunder pro Tag
Monika und Albana sind 25 Jahre alt. Beide haben BWL studiert. Beide sind arbeitslos. Sie berichten: „Wir sind anders als unsere Eltern. Unser Glaube ist bewusst, wir haben ihn gewählt. Zum heiligen Antonius zu beten, heißt, zu Gott zu beten, aber der Heilige ist uns näher. Wir können zu ihm kommen und wissen, dass er Fürbitte für uns einlegt.“ Ihre Freundinnen sind Muslime: „Alle glauben wir an Gott und unsere Freundschaft ist uns wichtig.“ Abnora, 26 Jahre alt, kommt aus Zym, einem Dorf in den Bergen. Sie lebt neben einer großen Kirche und unterrichtet Kunstgeschichte in Prizen: „Man sagt, dass der Heilige jeden Tag dreizehn Wunder wirkt und deshalb geht man zu ihm, um mit ihm zu sprechen. Es ist nicht wichtig, ob du katholisch oder muslimisch bist.“ Zwischen März und Juni, an den dreizehn Dienstagen vor dem Antonius-Fest, strömen Tausende von Pilgern nach Gjakovë. Die meisten der Menschen leben mittlerweile im Ausland, aber der heilige Antonius ist ein guter Grund, um zurückzukommen und die Verwandten zu besuchen.

Zwischen Krieg und Frieden
Die Schönheit des Kosovo, der Friede und die Sorge vermischen sich mit der erstaunlichen Antonius-Verehrung. P. Ndue vertraut mir an: „Der Krieg ist noch nicht zu Ende. Er ist in den Köpfen und den Herzen der Menschen nicht vorbei. Wir sind europäischer als die Finnen und gehören noch immer nicht zu Europa dazu. Wir sind hier nicht in Kabul, das hier ist der Westen, eines der Herzen der europäischen Zivilisation.“
Ich glaube, dass ich nichts verstanden habe. Und deshalb fahre ich nach Deçan/Dečani, ein orthodoxes Kloster von unwirklicher Schönheit, das noch heute von italienischen und slowenischen NATO-Soldaten bewacht wird. Dort finde ich nach dem Kontrollpunkt einen asketischen Frieden: Die Mönche bieten mir Kaffee und Limonade an. Ich betrete eine der hundert tekije von Gjakovë und eine Frau kommt mit einem kleinen Tablett, darauf ein Glas Wasser und Schokoladenkekse. In der Moschee von Prizen lädt mich ein Mann ein, zum Gebet zu bleiben. In der Kirche des heiligen Antonius in Binça, im Süd-Osten des Landes, gibt es ein Porträt von Athenagoras, einem orthodoxen Patriarch der Kirche von Konstantinopel: Er war es, der zusammen mit Paul VI. nach fast tausend Jahren die gegenseitige Exkommunizierung aufgehoben hat. Am Ende meines Besuchs bin ich bei einer muslimischen Familie in Gjakovë zum Abendessen eingeladen: Ich trinke raki, der von einem sufischen Händler gebrannt wurde, und esse Würstchen vom Grill. 
Also, ich habe nicht wirklich viel verstanden vom Kosovo. Aber Antonius hat sich ein schönes Land gewählt, um geliebt zu werden.

Zuletzt aktualisiert: 14. Januar 2019
Kommentar