Inder und Deutsche

25. Januar 2006

Zum ersten Mal war Minoritenpater Augustin nach Deutschland gekommen, zu Exerzitien und Einkehrtagen für seine indischen Landsleute. Wie einen Spiegel hält er uns Europäern seine ganz persönlichen Beobachtungen und Erfahrungen vor.

Vor knapp einem Jahr, zur Vorbereitungszeit auf Ostern 2005, hatte mich Karmelitenpater Ignatious Chalissery, Seelsorger für Inder in Deutschland, nach Köln eingeladen. Mein Auftrag: Hausbesuche bei den indischen Familien; an sechs Wochenenden Exerzitien und Einkehrtage für Inder, für Deutsche und Inder, für Ordensschwestern und für Laien.

Kulturschock. Nicht die riesigen Kaufhäuser überraschten mich, nicht die rasanten Verkehrsmittel oder das hohe Lebensniveau. Ich komme ja nicht „aus dem Busch“. Geschockt war ich von der Art und Weise, wie die Deutschen das Leben angehen. Auch die Malayalis (im südindischen Bundesstaat Kerala sprechen wir Malayalam) haben ihr Verhalten angeglichen, etwa in der Zeit vor der Ehe, in der ehelichen Treue und der schnellen Bereitschaft zu Scheidungen. Die Situation der katholischen Kirche erlebte ich leidvoll.
Die Inder in Deutschland plagt auch nach 30-35 Jahren Aufenthalt in Europa das Heimweh. Viele freuen sich, wenn sie als Rentner einige Monate im Jahr in Indien verbringen können.

Kulturelle Kluft. Zu familiären Spannungen kommt es zwischen den in Kerala geborenen Eltern und ihren in Deutschland aufgewachsenen Kindern. Die Ansichten über Leben und Verhalten laufen weit auseinander. Irgendwie managen die Eltern das, doch viele, mit denen ich gesprochen habe, bedrückt es im Herzen. Es belastet sie, ja es schmerzt sie, wenn sie an die Zukunft ihrer Kinder denken. Diese können meist nicht mehr fließend Malayalam sprechen, und schon gar nicht schreiben. Für die Deutschen sind sie Inder, selbst mit einem deutschen Abitur und Hochschulstudium. Die indische Gesellschaft, das wird bei Besuchen in Kerala deutlich, empfindet sie als Deutsche. Welch ein Teufelskreis!
Eine Entfremdung ergab sich auch zu den Verwandten in der Heimat Kerala, die rücksichtslos, ja habgierig Forderungen stellen: „Ihr in Deutschland habt einen Haufen Geld.“ Dann folgt eine Litanei von Nöten: Ein Haus wird gebaut, ein Stück Land soll dazugekauft werden, jemand will einen kleinen Laden eröffnen, die Mitgift für die Eheschließung der Tochter soll aufgestockt werden, eine Operation steht an (indische Krankenhäuser verlangen Vorkasse) oder die Kinder sollen auf eine gute Schule gehen. Auch Priester aus den Heimatdörfern stellen unberechtigte Forderungen.

Gesundheit ruiniert. Das Arbeitsleben in Deutschland fordert seinen Tribut. Wer vor dreißig Jahren als zierliche Krankenschwester begonnen hat, klagt inzwischen über Rückenschmerzen und fährt zu einer Ayurveda-Kur nach Kerala. Die verärgerten und enttäuschten Verwandten finden dann keine Zeit zu einem Besuch, nicht einmal zu einem Telefonanruf. Ich hörte den Schrei: „Sie wollen immer nur unser Geld. Jetzt, da wir kein Geld mehr haben, haben wir auch keine Verwandten mehr. Pater, berichten Sie doch von diesen traurigen Wirklichkeiten.“
Irgendwie machte mich der Herr für sie zum Werkzeug. Ich legte ihnen das Wort Gottes aus, feierte mit ihnen die heilige Messe und gab ihnen Rat. Der Herr ließ mich in sie hineinblicken, so dass ich ihre Situation wirklich verstand und mit ihnen fühlte.

Armes Deutschland. Die Kirchen sind leer. Pfarreien werden aus Priestermangel zusammengelegt. Am schmerzlichsten berührt mich, dass die Kinder und Jugendlichen nicht zu den Sakramenten geführt werden. Die orientierungslose Jugend ist auf seichte Vergnügungen aus: Sex, Drogen, Diskotheken. Den Grund für diese tragische Situation, frei heraus gesagt, sehe ich darin, dass katholische und protestantische Pfarrer wie Regierungsangestellte zu festen Bürozeiten nur die nötigsten geistlichen Bedürfnisse der Gläubigen verwalten. Eine Handvoll Priester arbeitet sehr hart,  mit großartigen Ergebnissen. Wenigstens einige Strahlen der Hoffnung!
Ich traf viele deutsche und indische Katholiken, die 30 bis 40 Jahre lang nicht gebeichtet haben, aber in jeder Messfeier die heilige Eucharistie empfangen, weil sie darin ein spirituelles Mahl sehen. Sie könnten sich gar nicht vorstellen, so sagten sie mir, dass der konsekrierte Wein und das Brot wirklich das Blut und der Leib Christi sind. Für sie sind es Brot und Wein, die in der heiligen Messe halt ausgeteilt werden. Das kirchliche Personal müsste wirklich in Kontakt kommen zur Basis, mit den Gläubigen fühlen und ihnen die katholische Lehre nahebringen.

Katholisches Profil. Beten wir zum allmächtigen Gott, dass er Deutschland und ganz Europa neu evangelisiert. Lehrer erklären den Kindern auf der Straße die Verkehrsampeln. Doch nie erlebte ich, dass ein Lehrer oder eine Ordensschwester die Kinder mit in die Kirche nahmen, um sie zu Jesus hinzuführen. Welch ein Widerspruch! Europa hat unzählige Heilige und hütet ihre großartigen Gräber. Sie sollten wieder Zentren des Glaubens werden, nicht nur einen antiken Wert haben.
Die Religionslehrer in der Schule reden oft schlecht über die katholische Kirche und verwenden viel Zeit darauf, den Hinduismus und Buddhismus zu erklären. Manchmal sind sogar die Kinder überrascht und im Herzen verwirrt darüber, mit welcher Begeisterung der Religionslehrer die Kirche anschuldigt und schlechtmacht.
So, meine lieben Leser, Danke für das geduldige Lesen meiner Beobachtungen und Erfahrungen, die vielleicht ein wenig streng klingen. Gott segne euch alle!

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016