Kann es gerechten Krieg geben?

04. Juni 2022 | von

Der Ukraine-Krieg ist das bestimmende Thema dieses Jahres. Er zeigt, dass der Friede nicht garantiert ist – weder in unseren Breiten, noch sonst irgendwo auf der Welt. Und verbunden mit der konkreten Erfahrung, stellt sich die ein oder andere grundsätzliche Frage.

Die Russlandpolitik vieler westlicher Politiker/innen, insbesondere in Deutschland und Österreich, wird angesichts des derzeitigen Ukraine-Kriegs mitunter scharf kritisiert. Zu lange habe man sich von Präsident Wladimir Putin blenden lassen, zu naiv geglaubt, durch gegenseitigen Handel ließe sich auch ein politischer Wandel bewirken, und zu sehr die eigenen wirtschaftlichen Interessen (und dann auch Abhängigkeiten) im Blick gehabt. Auch wenn die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel schon 2014 bei der russischen Annexion der Halbinsel Krim von einer „unakzeptablen russischen Intervention“ sprach und feststellte, dass Russland damit „gegen das Völkerrecht verstoßen“ habe und sich viele Nationen diesem Standpunkt anschlossen: Es wurden zwar Sanktionen verhängt, Klagen eingereicht und Resolutionen verabschiedet, wirkliche Sorgen, dass der Rest der Welt massiv intervenieren würde, musste sich Präsident Putin wohl kaum machen – auch weil man diplomatische Lösungen gegenüber ständig neuen Eskalationen und Drohungen bevorzugt(e).

Verurteilung eines Angriffskriegs

Was sich, wenn auch für viele wenig bewusst, über längere Zeit abzeichnete, wurde am 24. Februar dieses Jahres Wirklichkeit: Den schon über mehrere Monate an der ukrainischen Grenze stationierten Truppen wurde von Wladimir Putin ein Angriff auf die Ukraine befohlen – von ihm als „militärische Sonderoperation“ bezeichnet. Die UN-Generalversammlung verabschiedet bereits wenige Tage nach dem Überfall eine Resolution und „missbilligt auf das Schärfste die Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine“ und sieht darin einen Verstoß gegen die Charta der Vereinten Nationen, die unter Artikel 2, Absatz 4 festhält: „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“

Damit besteht weitgehender Konsens, dass Russland einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt. Diplomatische Bemühungen im Vorfeld, einen sich abzeichnenden Krieg zu verhindern, haben nicht die erhofften Früchte gebracht. Der Präsident der Ukraine Wolodymyr Selenskyj sucht nun weltweit Unterstützung und findet sie nicht zuletzt in der Zusage von Waffenlieferungen – siehe unser Thema des Monats im April rund um die komplexe Frage von Waffenexporten. Mit der mehrheitlichen Bejahung dieser Form von Unterstützung stellen sich zahlreiche neue Fragen: Ab welchem Grad der Unterstützung wird man selbst zum Kriegsteilnehmer? Leistet man auf diese Weise einer immer weiteren Eskalation Vorschub, ja, riskiert man sogar einen Atom- oder 3. Weltkrieg?

Erlaubte Gewalt?

Einfache Antworten auf diese Fragen gibt es kaum, zumal dann nicht, wenn die weiteren Konsequenzen abgeschätzt werden sollen.

Klar ist in diesem Kontext allenfalls: Wird ein Staat angegriffen und die Souveränität seines Territoriums verletzt, dann hat er das völkerrechtlich legitime Recht, sich zu verteidigen. Unter Berufung auf die Notwehr darf ein Staat schließlich auch Waffengewalt einsetzen.

Ein wirklicher Pazifist würde vermutlich an einer solchen Stelle widersprechen. Für ihn steht Friede an erster Stelle. Da hat Gewalt keinen Platz. – In diese Tradition würde sich wohl der jüngste „Offene Brief an Kanzler Olaf Scholz“, initiiert von Alice Schwarzer, einreihen. Zwar wird die russische Aggression verurteilt und das Leid der ukrainischen Bevölkerung wahrgenommen. Doch statt Krieg fordern die Unterzeichner/innen einen „Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können“. Diplomatie statt Krieg – in einer Situation, in der zumindest eine Kriegspartei offensichtlich gar kein Interesse hat, einen selbst begonnenen Konflikt friedlich beizulegen. Wer diesen Gedanken auf die Spitze treibt, der darf weder von sich aus Aggressionen starten, noch sich mit gleichen Mitteln wehren.

Weil eine solch radikal friedfertige Haltung selbst schon im Kleinen und im gewöhnlichen Alltag bisweilen zur gewaltigen Herausforderung wird, gibt es seit Jahrhunderten die Überlegung, ob es nicht vielleicht doch so etwas wie einen „gerechten Krieg“ geben kann.

Rechtfertigungsversuche

In den altorientalischen Hochkulturen, in der griechischen und römischen Antike spielten dabei die Götter eine zentrale Rolle. Die Assyrer, ein kriegerisch sehr aktives und lange Zeit erfolgreiches Volk, behaupteten beispielsweise, dass die Götterversammlung dem Gott Aššur – ihrem eigenen Reichsgott also – die Weltherrschaft zugebilligt hätte. Wer auch immer sich diesem Gott nicht unterwerfe, müsse bei Bedarf auch mit Hilfe eines Angriffskriegs bekämpft werden. Platon (428/427-348/347 v. Chr.) äußerte sich in Griechenland zurückhaltender. Die angestrebte Harmonie verbiete das Angreifen anderer Staaten. Weil aber nicht alle Völker tugendhaft seien, müsse man mit Angriffen rechnen und dürfe sich dann auch zur Wehr setzen – sogar so weit, dass „unvernünftige Barbaren“ durch eigene Angriffe vernichtet werden. Auch die Römer brauchten für ihre zahlreichen Eroberungsfeldzüge plausible Gründe. Sie gingen davon aus, dass nur ein bellum iustum, also ein „gerechter Krieg“ mit der Unterstützung der Götter rechnen konnte. Deshalb war eine Kriegserklärung mit bestimmten Fristen und Formeln verbunden, bei der auch jeweils einem Priester eine entscheidende Rolle zukam. Ging der Krieg verloren, waren die Götter offensichtlich nicht einverstanden. Gewann man hingegen, wurde mit dem Sieg jeglicher Kriegsgrund rückwirkend legitimiert. Was nach ziemlicher Willkür klingt, schränkt Cicero (106-43 v. Chr.) dann aber doch ein. Er nennt für einen Krieg fünf Grundbedingungen und stellt fest, dass ein Krieg 1. nur begonnen werden darf, wenn er auf erlittenes Unrecht reagiert. Ihm müssen 2. aber Versuche vorausgehen, den Konflikt am Verhandlungstisch zu lösen. Der Krieg darf schließlich 3. nur von der Leitung des Staates geführt werden und muss 4. von den Vertretern der Staatsreligion formal erklärt werden. Das Ziel der Intervention müsse 5. das Anliegen sein, den zuvor (vom Gegner) verletzten Rechtszustand wiederherzustellen.

Militärische Verweigerung

Die frühen Christen kommen mit dieser Art von Kriegsverständnis in regelmäßige Konflikte. Für sie galt nämlich ganz entschieden der Aufruf Jesu zum Gewaltverzicht, wie er beispielsweise in der Bergpredigt zum Ausdruck kommt: „Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin!“ (Mt 5,39)

Ecken sie in der römischen Gesellschaft ohnehin wegen ihres Verhaltens und ihrer Einstellungen an, kommt nun hinzu, dass sie aus moralischen und kultischen Gründen auch den Kriegsdienst verweigern. Die „Selbstdispens der Christen von den tragenden Pflichten der Gesellschaft“ (Norbert Brox) erzeugte erhebliche Zweifel an ihrer Loyalität gegenüber dem Staat.

Erst ganz allmählich gestatten Theologen und Bischöfe auch Christen den Dienst an der Waffe. Der ehemalige Politiker und spätere Bischof Ambrosius von Mailand (339-397) hält es dann sogar für eine Pflicht des Staates, sich gegen Angriffe von außen – auch gegen Angriffe von Häretikern! – zu verteidigen. Dass Christen an dieser Verteidigungsaufgabe aktiv mitwirken, ist für ihn eine Selbstverständlichkeit.

Kriterien zur Gerechtigkeit(?)

Die Theologen der Scholastik – der Zeitraum etwa vom 11.-14. Jahrhundert – entwickeln auf dieser Linie schließlich Kriterien eines „gerechten Kriegs“. Dabei entscheiden sie zunächst das ius ad bellum vom ius in bello, also das „Recht zum Krieg“ – wer darf überhaupt und wozu Krieg führen? – vom „Recht im Krieg“, das sich auf die Art und Weise der Kriegsführung bezieht.

Das Recht zum Krieg hat fünf Voraussetzungen: Die legitime Autorität braucht einen rechtfertigenden Kriegsgrund. Die Kriegsparteien müssen ihre Sache mit einer letztlich gerechten Absicht vertreten, wobei Gewalt als das letzte Mittel zur Wiederherstellung des Rechts angesehen wird. Schließlich muss eine Aussicht auf Frieden mit dem Gegner bestehen.

Tritt man in einen solchen „gerechten Krieg“ ein, ist im Blick auf die Kriegsführung die Verhältnismäßigkeit zu beachten: Die eingesetzten militärischen Mittel müssen verhältnismäßig sein. Außerdem sind Zivilisten unbedingt zu schützen.

Doch ein nüchterner Blick in die Geschichte – auch die Kirchengeschichte! – zeigt: Dauerhafter und weltweiter Friede ist unerreicht. Und man darf wohl mit Recht in Frage stellen, ob alle geführten Kriege den Kriterien eines „gerechten Kriegs“ entsprächen – einmal ganz abgesehen von der Tatsache, dass ja zunächst alle Staaten diese Kriterien anerkennen und schließlich auch noch einheitlich interpretieren müssten.

Ewiger Friede?

Vielleicht stellt auch deshalb Immanuel Kant (1724-1804) in seiner Altersschrift „Zum ewigen Frieden“ ernüchtert fest, dass der Friede unter den Menschen keineswegs der Normalfall sei. Der „Naturzustand“ sei „vielmehr ein Zustand des Kriegs, (…) wenn gleich nicht immer ein Ausbruch der Feindseligkeiten, doch immerwährende Bedrohung mit denselben.“

Dennoch schickt er sich an, Kriterien für ein allgemein geltendes Völkerrecht zu formulieren. Würde man sich international darauf einigen, könnten wesentliche Kriegsursachen beseitigt werden. Er plädiert für ein Verbot, für gewaltsam ausgetragene Konflikte Kredite aufnehmen zu dürfen, und generell für ein Ende der Vorstellung, andere Staaten seien potentiell eroberbar – statt selbstbestimmte Nationen. Kein Staat dürfe sich außerdem gewaltsam in Angelegenheiten anderer Länder einmischen oder mit anderen geheime Absprachen treffen. Zudem fordert er: „Stehende Heere sollen mit der Zeit ganz aufhören“. Denn in ihnen sieht er nur einen Anlass zur wechselseitigen Bedrohung und ein daraus folgendes Wettrüsten.

Damit diese Kriterien umgesetzt werden können, sieht der Königsteiner Philosoph zwei Voraussetzungen, nämlich das realisierte Prinzip der Rechtsstaatlichkeit in allen Nationen, sowie einen freiwilligen Völkerbund, in dem sich alle Staaten gegenseitig anerkennen.

Grundsatzentscheidung der UN

Zumindest letzteres ist dank der Vereinten Nationen (UN) mit ihren 193 Mitgliedsstaaten weitestgehend realisiert. Gleich im ersten Absatz des ersten Artikels ihrer Charta setzen sich die Länder das Ziel, „den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen“.

Kriege sind gemäß der UN-Charta damit grundsätzlich völkerrechtswidrig – sie sind also nicht, wie der preußische Militärwissenschaftler Carl von Clausewitz (1780-1831) noch beschrieben hatte, „eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.“

Vom allgemeinen Gewaltverbot gibt es dann aber doch wieder Ausnahmen, so zum Beispiel im Sinn der Selbstverteidigung nach einem erfolgten Angriff der eigenen staatlichen Souveränität. Militärische Einsätze sind auch dann gestattet, wenn ein entsprechendes Mandat des UN-Sicherheitsrats vorliegt.

Verstöße und Dilemmata

Der Überfall des russischen Präsidenten Putin auf die Ukraine zeigt drastisch, dass sich dennoch nicht alle Staaten an die vereinbarten Regeln halten. So ist man weltweit nicht nur vom Frieden, sondern auch von dem, was gemeinhin unter einem „gerechten Krieg“ verstanden wird, weit entfernt.

Dass das Unrecht sich obendrein immer so klar benennen lässt wie im aktuellen Ukraine-Krieg, dass aber durchaus auch demokratisch-rechtsstaatliche Nationen sich auf einem schmalen Grat bewegen, zeigt ein Blick in das Jahr 1999 des Kosovo-Kriegs. Die NATO führte ihre dortige Militäroperation ohne UN-Mandat aus – Russland hatte sein Veto eingesetzt. Weil westliche Regierungen aber fürchteten, dass serbisch-jugoslawische Truppen einen Völkermord an albanisch-stämmigen Kosovaren begehen könnten, führte man Menschenrechtsverletzungen als Grund für den intervenierenden Einsatz ins Feld. In der nachträglichen Diskussion rechtfertigte die NATO mit einem „notstandsähnlichen Recht auf humanitäre Intervention“, nach dem man – nach Ausschöpfung aller sonstigen Mittel – zur Abwendung einer humanitären Katastrophe militärische Gewalt habe anwenden dürfen. Eine Position, die durchaus nicht nur Zustimmung findet.

Als Christ wird man kaum glauben können, dass es einen „gerechten Krieg“ gibt, wird man – dem Beispiel Jesu folgend – in der Anwendung von Gewalt wohl immer zur Zurückhaltung gedrängt sein. Doch die Wirklichkeit präsentiert sich oft mit einem sehr viel komplexeren Bild.

Zuletzt aktualisiert: 04. Juni 2022
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