Kindsein - kaum mehr ein Kinderspiel

01. Januar 1900 | von

Kinder sind in Deutschland zu einem knappen Gut geworden. Die deutsche Gesellschaft gehört im internationalen Vergleich zu den Ländern mit den niedrigsten Geburtenraten. In den vergangenenen hundert Jahren kamen kontinuierlich immer weniger Deutsche zur Welt. Ein Aspekt dieses Phänomens: Die Zahl der Menschen, die nie Kinder bekommt, hat zugenommen.

Kinderflaute. Seit Ende der 60iger Jahre wird der starke Geburtenrückgang besonders deutlich. Von 1970 bis 1975 sank der Anteil der 6-jährigen von 9,5 Prozent auf 6,6 Prozent, um sich dann wieder ein wenig zu stabilisieren.
Der Rückgang der Geburtenzahlen aufgrund sinkender Kinderzahlen pro Frau und die gestiegene Lebenserwartung wirken sich seit fünf Jahrzehnten auf den Altersaufbau der deutschen Bevölkerung aus: der Anteil der Kinder und Jugendlichen sinkt kontinuierlich, während die Personenzahl im Rentenalter stetig steigt. Kamen 1950 auf ein Kind durchschnittlich 2,6 Erwachsene, hat sich das Verhältnis in den 90iger Jahren auf 4,2 Erwachsene verschoben.

Prinz oder Störfaktor? Für die Gesellschaft kann das unterschiedliche Konsequenzen haben. Zum einen erfahren die wenigen Kinder besondere Aufmerksamkeit und Unterstützung. Gelegentlich werden sie zu kleinen Prinzen hochstilisiert und zu Egoisten erzogen. Zum anderen ist auf Schritt und Tritt zu beobachten, dass durch die Kinderentwöhnung eine Kinderfeindlichkeit entsteht. In der Praxis bedeutet das: Die Interessen von Kindern bleiben in der Organisation des Lebens unserer Gesellschaft unberücksichtigt, die Kleinen selbst werden häufig als lästige Störfaktoren empfunden. Um das zu erleben genügt es, einmal mit dem Kinderwagen in einem vollbesetzten Zug zu fahren oder in einem Restaurant ohne Prädikat familienfreundlich zu essen. Garantiert wird man auf die Lebhaftigkeit seines Nachwuchses aufmerksam gemacht.

Gewandelte Familienform. Der Lebensbereich Familie hat für die Entwicklung und das Wohlbefinden des Kindes eine überragende Bedeutung. In ihr erfährt das Kind Zuwendung, Pflege, Versorgung und geistige Anregung – wichtige Grundlagen für eine gesunde Entwicklung. Das Besondere der Familie liegt darin, dass das Kind stets die gleichen Bezugspersonen hat. Dadurch kann es sich in einem entspannten und vertrauenserweckenden Rahmen entwickeln. Es hat in den Eltern Vorbilder und so die Möglichkeit der Identifikation.
Allerdings hat die Familie in den letzten Jahrzehnten einen starken sozialen Wandel erfahren. Sie entwickelte sich von der Groß- zur Kleinfamilie. Während früher drei bis vier Generationen unter einem Dach lebten, sind es heute zwei, aus der Viel-Kinder-Familie wurde die Ein-Kind-Familie. Die Instabilität der Ehe nahm (und nimmt) zu, ebenso die Zahl der nichtehelichen Lebensgemeinschaften. Eine starke Veränderung brachte auch – die heute selbstverständliche – Berufstätigkeit beider Ehepartner.

Sozialwissenschaftler stellten aber fest, dass die oft genannte Vielfalt familiärer Lebensformen an Familien mit Kindern vorbeigegangen sei. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass in unserem Land, vor allem in den alten Bundesländern, Kleinkinder verheiratete Eltern haben und die meisten Mütter spätestens mit dem zweiten Kind Hausfrau sind.
Offensichtlich zeichnen sich in unserer Gesellschaft zwei Entwicklungslinien ab: Auf der einen Seite die traditionelle Lebensform, das heißt ein Ehepaar entscheidet sich für Kinder, auf der anderen Seite die nichteheliche Partnerbeziehung, die kinderlos bleibt. So ist immer häufiger der Kinderwunsch der Ehe-Entscheidungsgrund.

Prima Klima? Besonders Kleinkinder sind auf Personen, die sie versorgen und betreuen angewiesen. Für diese Leistung ist in unserer Gesellschaft vorrangig die Familie zuständig. Sie bildet die erste, beständigste und emotional besonders bedeutsame Erziehungsinstanz.
Die eigene Familie wird von den Kindern im Allgemeinen sehr positiv bewertet, so die Erkenntnis des Sozialwissenschaftlers S. Lang (in: Lebensbedingungen und Lebensqualität von Kindern, Frankfurt a.M./New York, 1985). Aus ihrer Perspektive beeinträchtigen jedoch Streit und Eifersucht unter Geschwistern das Wohlbefinden in der Familie. Ebenso wirken sich – nach Einschätzung der befragten Kinder – eine hohe Geschwisterzahl und das Schimpfen der Eltern negativ auf das Familienklima aus. Für die Bewertung der Familie durch die Kinder spielen in erster Linie die elterliche Strenge, das bestrafende Erziehungsverhalten, sowie das Ausmaß gemeinsamer Beschäftigungen von Eltern und Kindern eine Rolle.
Nach der Untersuchung österreichischer Sozialwissenschaftler (Wilk, Liselotte/Bacher, Johann: Kindliche Lebenswelten. Eine sozialwissenschaftliche Annäherung, Opladen, 1994) stammen Kinder, die sich nicht wohl fühlen, wesentlich häufiger aus Ein-Eltern-Familien, Stieffamilien, einkommensarmen Haushalten, beengten Wohnverhältnissen und aus einer Wohnumgebung mit wenig Grünflächen und Spielmöglichkeiten.

Kleine Medienprofis. Medien waren sind seit ihrem Aufkommen Begleiter der Jugendlichen im wahrsten Sinne des Wortes, man denke nur an die tragbaren und überallhin mitgenommenen Ghetto-Bluster und Walkmen. Durch sie können Kinder fernab der elterlichen Kontrolle konsumieren. Fernsehen, Video und Computer sind heute selbstverständlicher Bestandteil des Kinderalltags. Dabei erwerben sich die Kleinen Kompetenzen in der technischen Bedienung wie auch im Verstehen von Fernsehsendungen und deren Inhalten – oft sind schon 6-Jährige fit in der Computer- und Fernsehsprache. Außerdem entwickeln sie ein sicheres Gespür dafür, bei welchen Sendungen und Serien sie auf einen guten Ausgang der Handlungen bauen können. Sie kennen die Wirkung des Filmgeschehens und wissen, welche Empfindungen Sendungen und Filme in ihnen auslösen.
Die Kinder sind heute durch die Allgegenwart der Medien sowohl im privaten wie auch im öffentlichen Bereich in die von Medien geprägte Welt der Erwachsenen eingebunden. Damit verfügen sie über einen anderen Gesichtskreis als früher: Sie wissen mehr von der Erwachsenenwelt, kennen bereits alles durch die Medien noch ehe sie es selbst erfahren haben.

Neue Autorität Fernsehen. Was mich traurig macht, berichtet eine Mutter von ihren Erfahrungen, dass meine Kinder schon früh um acht Uhr fragen, was kommt heute im Fernsehen. Das finde ich unmöglich, dass denen nichts anderes einfällt, als in der Frühe bereits nach dem Fernsehen zu fragen und nicht nach anderen Sachen wie Spielzeug oder Bilderbücher. Sie werden schon als kleine Kinder vom Fernsehen beherrscht.
Die Eltern sind bei der Arbeit und das Familienleben ist gekennzeichnet von unterschiedlichen Tagesprogrammen der einzelnen Mitglieder. Außerdem nimmt die Fremdbetreuung von Kindern zu. Unter solchen Lebens- und Sozialisierungsbedingungen gewinnen neue und andere Formen der Kommunikation für Kinder an Bedeutung. Insofern erscheint es nicht verwunderlich, dass Kinder ihre Neugier und ihr Kommunikationsbedürfnis durch Fern- und Videosehen, Telespiele, Computer und Internet stillen. Die Medien haben die elterliche Autorität herabgesetzt, denn sie geben den Kindern schon sehr früh die Möglichkeit, sich weit über den Rahmen der Familie hinaus mit Normen, Werten, Milieus und Verhaltensweisen der Gesellschaft vertraut zu machen. Ihnen werden Meinungen serviert, die jenen der Eltern möglicherweise völlig widersprechen. So erleben Kinder Menschen mit anderen ethischen und moralischenVorstellungen, als die der eigenen Eltern.

Freizeit in festem Korsett. Freizeit von Kindern – nach herkömmlicher Definition versteht man darunter eigentlich die Zeitspanne, die für unverplantes Spiel und unorganisierte, spontane Tätigkeiten zur Verfügung steht. Empirische Untersuchungen zeigen aber, dass Kinder ihre freie Zeit zunehmend weniger frei gestalten. Diese ist vielmehr organisiert, institutionalisiert und durch feste Termine gekennzeichnet. (Mitgliedschaft in Vereinen, Balett-, Musik-, Reitschule u.ä.). Die Kleinen sind teilweise so eingebunden, dass man sogar von einer Profilierung besonderer Fähigkeiten sprechen kann. Die Kinder werden von ihren Eltern unter einen starken Erfolgszwang gestellt.
Die Tendenz zur Organisation und Verplanung freier Zeit von Kindern ist groß. In der Reisebranche wimmelt es überall von speziellen kinderfreundlichen Angeboten Kinderparadiese, Kidsclubs und – selbst die Allerkleinsten werden berücksichtigt – Babyworlds werden versprechen ein ausgefülltes Programm für die Urlaubszeit.

Kinderfreundliche Urlaubsinseln? Bei neueren Untersuchungen ist herausgekommen, dass manches Reiseunternehmen in seiner Kinderliebe etwas übertrieben hat. Laut jüngsten Erkenntnissen wollen Eltern ihre Kinder im Urlaub nicht ausschließlich an Animateure abgeben, sondern ab und zu auch etwas gemeinsam mit ihnen unternehmen. So gibt es inzwischen in verschiedenen Clubanlagen die Möglichkeit, dass Eltern und Kinder erstmals auch gemeinsam Aktivitäten nachgehen.
Natürlich geht es der Tourismusindustrie nicht um Nächstenliebe, sondern um das Geld der erziehungsberechtigten Begleitpersonen.Weil in der Alltagswirklichkeit Kinder und Eltern immer weniger zu lachen haben, kann man mit Kinderfreundlichkeit im Tourismus werben. Je grauer der Alltag für Familien wird, umso verlockender wirken die Angebote der Urlaubsindustrie, die mit glückseligen Inseln der Kinderfreundlichkeit wirbt. Kinderfreundlichkeit darf keine werbewirksame Dienstleistung, kein zusätzlicher Service sein, sondern muss eine gesellschaftliche Grundtugend sein.

Ansprüche und Zwänge. Es ist schier unglaublich, dass bereits Kinder modischen Zwängen unterliegen. Die Bekleidungsindustrie setzt sowohl Eltern wie Kinder unter starken gesellschaftlichen beziehungsweise finanziellen Druck. Familien, die es sich leisten können, statten ihre Kinder mit Marken-Kleidung aus. Wer nicht entsprechend angezogen ist, gehört nicht dazu. Arme Kinder, wenn ihre Eltern in diesem Wettlauf nicht mithalten können.
Einen ähnlichen Wettlauf gibt es in der Gestaltung von Kindergeburtstagen und anderen Festen. Eine amerikanische Fast-Food-Kette hat sich auf die heutigen Ansprüche und Vorstellungen von Eltern und Kindern spezialisiert: Sie übernimmt die Tagsgestaltung mit Essen, Spiel und Action und ein Geschenk gibt es noch zusätzlich.

Ein starkes Team. Hier sollen noch in Kürze einige Anregungen gegeben werden, die auch oder gerade angesichts der vielen Veränderungen in der Familie gültig geblieben sind und Kindern eine echte Hilfe bedeuten.
Miteinander singen, erzählen und lachen, Freude und Kummer miteinander teilen, füreinander da sein, wenn einer den andern braucht, miteinander Pläne schmieden und träumen – dies sind Elemente, die dem Kind Sicherheit vermitteln und das Gefühl: Wir halten zusammen wie Pech und Schwefel, wir sind ein starkes Team. Umgekehrt wiegen Enttäuschung oder auch Angst nicht mehr so schwer, wenn Papa und Mama sie mittragen. Es ist hilfreich, sich Zeit füreinander zu nehmen und Aktivitäten, die Spaß machen, regelmäßig in den Tagesablauf einzuplanen.
Rituale geben Sicherheit und bringen Struktur in den Alltag. Sie schaffen Gemeinschaft und machen das Familienleben fröhlicher und lebendiger. Das Gebet am Abend und am Morgen, die Gutenachtgeschichte, der Gutenachtkuss, die Umarmung morgens beim Abschied, das Tischgebet, der gleiche Trostvers, wenn das Kind sich wehgetan hat, Lieblingsspielzeug – solche Rituale helfen den Kleinen in einer komplizierten Welt Halt und Sicherheit zu finden.

Feste Spielregeln. Wer eine andere Atmosphäre schaffen will, in der sich alle wohl fühlen, muss auf das Einhalten von Regeln und Grenzen achten. Sie sind nicht Zeichen autoritärer Haltung, sondern machen das Leben für Kinder klarer und haben etwas mit Konsequenz und Achtung des anderen zu tun. Eltern erweisen ihren Sprösslingen keinen guten Dienst, wenn sie ihnen alles durchgehen lassen und sie nicht zum Verzicht anleiten. Am Ende können sich Kinder über nichts mehr richtig freuen.
Wie viel mehr nutzen sie ihrem Kind, wenn sie – dessen Einzigartigkeit eingedenk – seine besonderen Fähigkeiten fördern. Das macht ein Kind selbstbewusst und stark. Eltern können ihr Kind nicht genug loben. Doch Vorsicht: Kinder durchschauen sofort, wenn ein Lob nicht ehrlich gemeint ist.

Angestrebtes Kinderglück. Schlechte Stimmung in der Familie ist leider oft an der Tagesordnung. Eltern stöhnen über den Stress, Kinder meckern am Essen oder an der Schule herum. Eine negative Grundstimmung erstickt aber jedes Glücksgefühl bereits im Keim. Dabei ist es nicht schwer, allem etwas Gutes abzugewinnen. Durch positives Denken werden die Probleme erträglicher.
Kinder brauchen zwar feste Strukturen, doch zwischendurch soll auch einmal etwas außer der Reihe stattfinden: ein spontaner Besuch im Zoo, eine Nachtwanderung, ein Lagerfeuer, ein Picknick im Grünen. Alles was Farbe in den Alltag bringt, hilft aus der Routine auszubrechen und hält die Familie lebendig.
Das 20. Jahrhundert – so war die Hoffnung zu dessen Beginn, und so propagierten es die Organisationen wie die Unicef bis zuletzt – sollte zum Jahrhundert der Kinder werden. Daraus ist bekanntermaßen nichts geworden. Doch das Streben, Kindern die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken, ihre Wünsche zu respektieren und alle Anstrengungen zu unternehmen, um sie glücklich zu machen, geht im neuen Jahrtausend unvermindert weiter.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016