Kraftquelle Familie

21. April 2005 | von

Die tief greifenden Wandlungen von Gesellschaft und Kultur haben die Familie verändert: Konsum, überzogene Selbstverwirklichung und Leistungsparameter nagen an dieser Gemeinschaft, die so grundlegend für die Vermittlung fundamentaler Werte ist. Ihre Bedeutung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden: Kinder dürfen in einer intakten und gesunden Familie Geborgenheit, Annahme und Liebe erfahren – und erhalten damit die Grundlagen für ein gelingendes Leben.

Die demographische und gesellschaftliche Krise unserer Tage wurzelt wesentlich in einem Werteverlust: Familiäre, selbstlose Nächstenliebe und Opferbereitschaft zählen nicht mehr. Die Folge ist ein Ozean seelischer Nöte und Tränen. Für unsere Kinder bedeutet das eine schleichende bis massive Beeinträchtigung ihrer Leistungsfähigkeit, Motivation und sittlich-religiösen Erziehung. Eine Stu-die namens “PISA“ hat jetzt statistisch erfassbare Schulleistungen in verschiedenen Ländern verglichen. Kinder hierzulande kamen nicht gut dabei weg. Nun regen sich alle möglichen Leute auf: “Unsere Schulen müssen mehr leisten. Uns gebühren höhere Rangstufen. Wir sind es uns schuldig, schulische Medaillen-ränge im internationalen “Schulleistungs-Olympia“ zu erringen.“ Schon arbeiten Bildungsmacher an der Optimierung eines Systems für Spitzenerfolge im schulischen Lernen.

Wohl der Kinder. “Wofür oder für wen?“, frage ich. “Wir wünschen alle das Wohl unserer Kinder“, bekomme ich zur Antwort. Diesem ehrenwerten Wunsch kann ich nur zustimmen. Doch kennen wir auch dieses Wohl? Besteht es vorrangig in der Forcierung von Leistungs- und Lernpower? Bedenken wir bei alledem, dass das Wohl unserer Kinder zuallererst einmal die Bereinigung negativer gesellschaftlicher Bedingungen erfordert, die aus ideologischen Gründen oder verfehlter Gesellschaftspolitik nicht angetastet werden dürfen? Heute wissen sich ungezählte Kinder nicht mehr in sicheren und vertrauensvollen zwischenmenschlichen Bindungen, sie erfahren zu wenig Liebe, Geborgenheit, Zuwendung, Selbstwertbestätigung, Ermutigung und Verständnis für ihre Bedürfnisse. Wie sollen sie da noch ihr Leben bewältigen, den erwarteten Lernerfolg bringen und “volle Leistung“ zeigen?
Genau hier liegt schrecklich viel im Argen! Zu einem “geglückten Leben“ führen nämlich nicht Spitzenergebnisse beginnend mit der ersten “Leistungsdisziplin“ des Töpfchengehens, sondern zuallererst das Erleben liebender Zuwendung und Festigen eines Urvertrauens zum Leben. Dies kann nur aus emotionaler Geborgenheit heraus erwachsen. Hierzu brauchen wir die verlässliche Elternliebe, die Stärkung der Familie sowie deren enge Zusammenarbeit mit pädagogischen Institutionen.

Leistungshysterie. In unserer Gesellschaft hat sich eine Lebenseinstellung breit gemacht, die den hohen Wert der Familie weit unterschätzt oder leugnet. Daraus resultieren auch die derzeit gesellschaftspolitisch vorangetriebenen Interessen und Tendenzen, Familien zu “sortieren“: Väter und Mütter in die industrielle Produktion, Kinder schon ab dem Babyalter zur “Sozialisierung“ in zentralisierte Lerninstitutionen, Kranke und Alte in ein Versorgungsheim... Das hört sich rationell, ökonomisch und zweckdienlich an! Aber ist das auch gut so? Viele meiner ehemaligen Studenten, die heute im Lehrerberuf stehen, klagen: “Eltern setzen uns unter ‘Abitur-Druck’. Dabei leiden deren Kinder an Lern- und Verhaltensstörungen, mit denen sie selbst nicht fertig werden. Doch die Erfüllung ihrer überspannten Leistungserwartungen fordern sie geradezu hysterisch ein.“ Mir kommt der Verdacht, dass das angebliche “Wohl der Kinder“ in Wirklichkeit “Prestige“, “Konsumsteigerung“, “Weltwirtschaftlicher Gewinn“, oder vielleicht “Ideologie“ heißt. Wer fragt denn Kinder nach ihren Sorgen und Nöten und wonach sie sich sehnen? Um nicht missverstanden zu werden: Leistung kann Freude machen, ist wichtig und daher grundsätzlich gut. Doch wir wissen heute, dass Wunsch und Fähigkeit, etwas leisten zu wollen und zu können, ohne emotionale Ausgeglichenheit, Stabilität und psychische Gesundheit nur wenig Erfolg haben. Pädagogen, Psychologen und Kinderärzte warnen daher vor einer ungeduldigen Überzufuhr an Leistungsdruck und -erwartung.
 
Keine Treibhauszüchtungen! Wenn wir ein junges Bäumchen pflanzen, verbinden wir damit die Hoffnung, dass es seine Wurzeln fest im Erdreich verankert, eine gut gewachsene Krone entfaltet und zur rechten Zeit gute Früchte her-vorbringt. Nicht nur jeder Gärtner weiß, dass einerseits eine naturgemäße Zufuhr von Sonne, Nährstoffen und Wasser unabdingbar ist, und dass andererseits eine ungeduldige übermäßige Zufuhr an Kunstdünger und Bewässerung sowie schlechtes Licht junge Pflanzen schädigt und absterben lässt. Natürlich geschütztes Wachsen bringt kräftigere und gesündere Ergebnisse als ungeduldige Treibhauszüchtungen auf die Schnelle.

Grundlagen für Lebensfreude. Wenn wir Kinder in ihr Leben “einpflanzen“ wollen – welche Hoffnung verbinden wir damit? Sie sollen sich gesund, froh und glücklich entfalten, fest im Leben stehen, “Früchte tragen“ und schließlich Sinn und Endziel ihres persönlichen Lebens sicher erreichen. Auch ein Kind braucht hierfür Licht und Sonne. Pädagogisch heißt das vor allem: Liebe, Annahme, Zuwendung, Sicherheit, Geborgenheit. Ebenso benötigt es Nährstoffe und lebensnotwendige Wasserzufuhr, pädagogisch gesprochen: Selbstwertbestätigung, Ermutigung, Lob, Anerkennung, Verständnis. Dies alles mobilisiert Energien, mit deren Hilfe das Kind seine existenziellen Wurzeln ins Erdreich des Lebens schlägt, seine Krone entfaltet und einmal gute Lebensfrüchte erbringt.
Mangelt es an diesen Kräften, gibt es da bald ein schwaches, verkrüppeltes und im Sturm unsicheres Bäumchen. Wenn dann Erwachsene enttäuscht sind und ungeduldig beginnen, mit ehrgeizig verstärkten “Treibhausmethoden“ nachzuhelfen, sterben Lebensfreude und Eigendynamik des Kindes noch mehr ab. Der Grund zu einer psychischen Erkrankung ist damit gelegt. Jedes dritte Kind in unserer Gesellschaft ist belastet oder bereits psychisch krank. Genau dies muss heute eine der Hauptsorgen hinsichtlich des Wohles unserer Kinder sein. Vielleicht sollten wir darüber mehr nachdenken.

Zu hohe Leistungsmarken. Es ist tiefe menschliche Sehnsucht, im Herzen glücklich zu sein. Sollten wir nicht unseren Kindern dabei helfen? Selbstverständlich müssen sie etwas lernen und leisten. Nichts gegen Leistung, aber diese darf nicht der dominierende Maßstab für den Wert eines Menschen sein. In meiner Beratungspraxis begegne ich Kindern, die liebend gerne etwas leisten möchten, aber es einfach nicht schaffen. Sie können nicht über ihre Grenzen hinaus. Wird das nicht erkannt, nisten sich psychische Nöte und tiefe Verletzungen ein. “Ich bin unglücklich, müde, traurig, weil mir meine Eltern nicht glauben, dass ich so gerne in der Schule besser wäre, es aber nicht fertig bringe! Ich glaube, ich bin ein Versager“, so sagte mir kürzlich Marco. Wir sollten Nöte von Kindern wie Marco ernst nehmen. Jedes Kind freut sich über eine vollbrachte Leistung. Fragen wir doch, warum ein Kind eine Hürde nicht schafft! Sind die Leis-tungsmarken zu hoch gesetzt oder leidet es an seiner Lebensweise, an seinem Lebensumfeld?
 
Wir brauchen die Familie. Schon jetzt hat jedes dritte Schulkind Verhaltensstörungen. Viele hören kaum mehr auf Eltern und Lehrer. Die Zunahme von psychischen Erkrankungen ist zu einem erheblichen Teil die Folge einer längst selbstverständlich gewordenen würdelosen Übersexualisierung in unserer Gesellschaft und der damit zusammenhängenden Zersetzung und Auflösung von Ehen und Familien. Kinder wachsen in einem gesellschaftlichen Klima der moralischen Nivellierung auf. Sie bleiben ohne sachliche und emotionale ethische Richtungsweisung. So kommen sie in einer egoistischen Welt “unter die Räder“. Hier liegen ebenso die Wurzeln für die zunehmende Gewalt unter Kindern und Jugendlichen wie auch für die Haltung: “Null Bock auf Lernen“. Der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes Heinz Hilgers sieht eine Lawine von kommenden Gewalttätern und traumatisierten Menschen auf die Gesellschaft zurollen, die ohne Liebe und Geborgenheit innerhalb einer Familie aufwachsen mussten. “Traumatisierte emotional unterversorgte Kinder sind lernunfähig“, so Hil-gers.
Nun wissen wir alle, wie schnell schwere Probleme in Ehen und Familien einbrechen. Neben so genannten heilen Familien gibt es heute zunehmend mehr Alleinerziehende und Ersatzfamilien. Ein Schuldurteil darüber steht niemandem zu. Eine andere Sache ist es allerdings, schuldige Fehlentwicklungen in unserer Gesellschaft zu brandmarken. Vom Sinn der Schöpfung her ist der Familie die Aufgabe zugedacht, Kindern alle grundlegenden menschlichen Werte erleben zu lassen. Wer Familie nur als gesellschaftliche Institution oder Rechtsangelegenheit sieht, wird ihr nicht gerecht. Sie ist die Gemeinschaft, in der man von klein auf mit körperlicher, psychischer und geistiger Lebensausstattung ausgerüstet werden soll. Psychologie und Pädiatrie erkennen: Zu den vorrangigen Garanten psychischer und physischer Gesundheit gehört die ihren Kindern Liebe und Geborgenheit schenkende Familie. Eine solche “heile Familie“ ist daher immer als anzustrebender “Sollzustand“ anzusehen. Um diesem Ziel näher zu kommen, müssen wir den heutigen “Istzustand“ dringend verbessern. Hierfür stehen wir alle in der Verantwortung.

Basis gesunder Entwicklung. Wichtiger als statistisch unterkühlte akademische Leistungsstudien à la PISA sollten uns natürliche gesunde Familien sein, welche durch Fördermaßnahmen die von Gott zugedachte Aufgabe auch erfüllen können. Keine andere “Familienform“ oder Institution, kein Hort, keine Ganztagsbetreuung oder Ähnliches kann einem Kind die elementaren existenziellen Erlebensgrundlagen in solcher Kraft und Tiefe schenken wie das Geborgensein innerhalb einer liebenden Familie.
Nach Erkenntnissen des Hirnforschers Verny produziert das junge Gehirn bis zum 3. Geburtstag tausend Billionen Synapsen. Es bereitet damit die Grundlagen von Denken, Fühlen und Kreativität für die weitere Entwicklung vor. Eine Vernachlässigung in den ersten Lebensjahren kann fatale Folgen für die Ausprägung des kindlichen Gehirns haben. Art, Güte und Dauer elterlicher Zuwendung haben demnach darauf mehr Einfluss als wir je für möglich hielten. Wie das Gehirn Sauerstoff braucht, um nicht abzusterben, so benötigt das sich entfaltende Bewusstsein eines Kindes herzliche und liebevolle Annahme, persönliche Zu-wendung schützende Geborgenheit.
 
Die Kraft der Liebe. Moderne Hirnforschung bestätigt, was seit Jahrtausenden in der Pädagogik als selbstverständlich gilt: Man erhält seine umfassende, einmalige Lebensausstattung als Kind am besten von liebevollen, festen Bezugspersonen, bei denen man Geborgenheit, Vertrauen, selbstlose, aufopfernde Güte und liebende Annahme um seiner selbst willen erleben darf. Kraftquelle für Lernen und Lebensbewältigung ist und bleibt zuallererst eine gute Familie: Sie mobilisiert und stärkt unser “Ja“ zum Leben. Naturwissenschaftliche Ergebnisse bestätigen damit: Es ist die Kraft der Liebe und Geborgenheit, welche qualitative und quantitative Grundlagen für Lernfähigkeit, Motivation, Ausdauer und Begabungsentfaltung schafft.
Genau jene Lernfaktoren aber stehen vielen Kindern heute nur mehr unzureichend zur Verfügung. Wir sollten Müttern und Vätern, Erzieherinnen und Lehrern solche Erkenntnisse deutlich bestätigen. Stattdessen wird ihnen heute bis zum Überdruss eingeredet, dass institutionelle Betreuung “Unfähigkeit und Ver-sagen“ der Eltern ausschließen müsse. Und dies könne schließlich nur von der “pädagogisch bahnbrechenden Erkenntnis“ einer an der Gesellschaft orientierten Sammelbetreuung für alle Kinder jeden Alters verwirklicht werden.

Gesellschaft verschleudert Gut. Gerade unsere Gesellschaft verschleudert schon seit einiger Zeit das wertvolle Gut Familie. Angesichts der dadurch schon verursachten pädagogischen Scherbenhaufen greifen Bildungspolitiker dennoch erneut zu (bereits historisch gescheiterten) sozialistischen Erziehungsexperimenten staatlich organisierter Rundumbetreuung ab dem Babyalter. Dabei besitzen diese Modelle nicht einmal die Qualität einer Notlösung, nehmen sie doch Familienzersplitterung, wachsende Entfremdung oder Entwurzelung ebenso in Kauf wie sie neueste Gehirnforschungen missachten.
Wir sollten endlich begreifen, dass uns nicht immer nur das Wirtschaftswachstum und der Umweltschutz, sondern viel dringender der Familien- und Kinderschutz vorrangig am Herzen zu liegen hat. Es gäbe keine “schlechte“, “lernun-willige“ oder “moralisch ausgebrannte“ Jugend, hätte unsere von Konsum-Materialismus und Ego-Liberalismus besessene Gesellschaft sie nicht über Jahr-zehnte hinweg der von ihr selbst produzierten Dekadenz ausgeliefert.

Sehnsucht. Wer in die Tiefe der Herzen unserer Kinder und Jugendlichen schaut, kann ihre wahren Wünsche und Sehnsüchte erkennen:  Nein - nicht noch mehr Taschengeld, Elektronik, Modekleidung, kein neues Mountain-Bike, keinen Karibik-Urlaub, DVD-Player, auch nicht das Topp-Handy, Sport-, Musik-, Mal-, oder Ballettunterricht, keine die Fantasie beschmutzenden Medien- und Werbe-Schamlosigkeiten... Nein, es ist etwas ganz anderes: In der Tiefe des Herzens wartet die Sehnsucht danach, sich geliebt zu fühlen.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016