Krankheit und Tod, Pflege und Nähe

22. Oktober 2012 | von

Der Herbst unseres Lebens kann mild sein und von einer Farbenvielfalt, wie wir das an der Natur so schätzen. Doch nicht wenige Menschen werden im Alter krank und pflegebedürftig. Für jeden Menschen ohne Ausnahme gilt, dass er sterben wird. Unser Autor, seit vielen Jahren als Supervisor in Kliniken, Heimen, Hospizen und der Palliativpflege tätig, zeigt das Miteinander und Zueinander auf, schlägt die Brücke zwischen der Welt der Gesunden und der Erfahrungswelt der Kranken. Jedes Engagement geschieht in der Hoffnung, auch selbst einmal als Pflegebedürftiger betreut und als Sterbenskranker begleitet zu werden.



Krank und pflegebedürftig möchte kein Mensch sein. Dennoch ist jeder von uns irgendwann auf die Pflege durch andere Menschen angewiesen. Derzeit sind 2,2 Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes. Fast 20 Millionen Bundesbürger müssen sich außerdem im Verlauf eines Jahres wegen einer Erkrankung in stationäre Behandlung und Pflege begeben.

Die Pflege alter, kranker und sterbender Menschen wird als Herausforderung und Zumutung empfunden. Die ganz große Mehrheit der Bevölkerung beteiligt sich nicht an dieser Pflege; sie weigert sich sogar, sich damit zu befassen und delegiert diese Aufgabe an eine Minderheit, an die Töchter und Ehefrauen Pflegebedürftiger und an das Pflegepersonal. Nicht zuletzt aus dieser Ungleichverteilung resultiert, dass pflegende Angehörige und das angestellte Pflegepersonal überlastet und überfordert sind.



DIE WÜRDE DER PFLEGENDEN

Jeder Pflegebedürftige legt mit Recht großen Wert darauf, menschenwürdig untergebracht und gepflegt zu werden. Über Verletzungen der Würde alter, kranker und sterbender Menschen wird fast täglich berichtet. Nicht zuletzt werden Pflegende für Missstände in der Pflege verantwortlich gemacht. Mangelnde Fürsorge, fehlende Sensibilität und Empathie werden ihnen vorgeworfen. Ihnen wird der Prozess gemacht, wenn sie es nicht mehr ausgehalten und sich gewehrt haben, gewalttätig geworden sind usw. Es fällt auf, dass gerade diejenigen, die sich nicht an der Pflege beteiligen, den Pflegenden die heftigsten Vorwürfe machen.

Der erste Artikel des Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ gilt aber nicht nur für die Pflegebedürftigen, sondern auch für die Pflegenden. Pflegende müssen nicht selten leidvoll erfahren, dass Pflegebedürftige und auch ihre Angehörigen ihre Würde verletzen. Pflegebedürftige lehnen die Rolle des Pflegebedürftigen ab, protestieren gegen ihr Schicksal, leisten Widerstand und lassen Frust und Zorn an den Pflegenden aus. Die Beziehungen von Angehörigen und Pflegebedürftigen sind häufig kompliziert und spannungsvoll. Kranke und alte Menschen können sehr egozentrisch und schwierig, keinesfalls „pflegeleicht“ sein.



ANGESPUCKT UND GEOHRFEIGT

Beispiele aus dem Pflegealltag: Ein kranker Heimbewohner schlingt sein Essen rein, rülpst und furzt dabei sehr laut. Seinen Darm entleert er immer wieder mitten im Wohnzimmer und seine Blase in seinen Nachtkasten. Das tue er aus Rache gegen einen Heimleiter, der ihn einmal gegen seinen Willen mit der Polizei in die Klinik gebracht habe, und überhaupt protestiere er damit gegen sein „Leben in der Psychiatrie“. Die Pflegenden müssen Kot und Urin wegmachen. Der Klient weigert sich, das zu tun.

Ein Patient beschimpft die Hauswirtschafterin als Nutte, nachdem sie ihn aufgefordert hat, seinen Hausdienst zu machen. – Eine Patientin verpasst der Krankenschwester eine Ohrfeige, weil sie sie „frech angesehen“ habe. – Eine Frau mit Demenz weigert sich, ihre Medikamente einzunehmen, und spuckt sie der Altenpflegerin ins Gesicht. – Ein älterer Mann grapscht immer wieder nach den Brüsten der Krankenschwester und fasst in ihren Schritt. – Der Sohn einer sterbenden Patientin droht dem Pfleger Schläge an, falls seine Mutter stirbt. – Als eine Krankenschwester bei einer sterbenskranken Frau eine Infusion anlegt, schlingt die Patientin den Infusionsschlauch um den Hals der Krankenschwester und versucht, sie zu strangulieren.



SPIRALE DER ÜBERLASTUNG

Solche Manieren sind keinesfalls als typisch für das Verhalten von Pflegebedürftigen zu verallgemeinern. Nur: selten sind sie auch nicht.

Dennoch wird erwartet, dass die Pflege menschenwürdig, ohne großes Aufsehen sowie möglichst klag- und kostenlos „erledigt“ wird. Der gute Wille und die Ideale der Pflegenden stehen der zermürbenden täglichen Konfrontation mit konzentriertem menschlichem Leid, der Todesnähe und den ausufernden Ansprüchen der Verwaltung und Dokumentation gegenüber. Erwartet wird von ihnen aber, dass sie einfühlsam sind und persönlich am Schicksal der Pflegebedürftigen Anteil nehmen. Dagegen schreiben die Kostenträger und Politiker ihnen genau vor, wie viel Minuten sie bei einem Pflegebedürftigen bleiben dürfen. So entsteht leicht eine Spirale aus gutem Willen, Überlastung, nicht gelebter Trauer, Wut, Erschöpfung, Aggression, Resignation, beruflicher Verpflichtung, Schuldgefühlen, Erkrankungen usw. 



ZWEI GEGENSÄTZLICHE LEBENSWELTEN

Pflegende sind für mich „Brückenmenschen“, gespannt zwischen zwei gegensätzlichen Lebenswelten. Da gibt es auf der einen Seite die Welt der Alten, Kranken und Sterbenden, und auf der anderen Seite die Welt der Gesunden. Von Pflegenden wird erwartet, dass sie beiden Welten gerecht werden.

In der „Welt der Alten, Kranken und Sterbenden“ müssen „Pflegende“ tragen und ertragen:

• alte und kranke Menschen, die sich dagegen wehren, alt und  krank zu sein;

• sterbenskranke Menschen, die leben und nicht sterben    möchten;

• Menschen, die unter großen Ängsten und tiefer Hoffnungslosigkeit leiden;

• Kranke, die vor Schmerzen und Einsamkeit laut schreien und klagen;

• Verzweifelte, die ihren Frust und ihren Zorn an ihnen und den Ärzten auslassen;

• die nicht zu beantwortende Frage der Leidenden „Warum gerade ich?“;

• latente oder manifeste Suizidgedanken und suizidale Handlungen;

• die Erfahrung, statt zu heilen, doch nur begleiten und versorgen zu können.



DIE WELT DER GESUNDEN

Und in der „Welt der Gesunden“ müssen die Pflegenden tragen und ertragen:

• die verborgenen Ängste der „Gesunden“ vor dem Altern, vor Erkrankung und Lebensbedrohung;

• die Abwehr der „Gesunden“ gegenüber einer persönlichen Begegnung mit alten, kranken und sterbenden Menschen;

• die ungeduldigen Forderungen und Erwartungen, erfolgreich zu pflegen, Hoffnung zu vermitteln und zu heilen;

• Schuldzuweisungen für menschenunwürdige Pflege;

• den Widerspruch zwischen den öffentlich erklärten guten Absichten und dem konkreten Verhalten vieler „Offizieller“ und der großen Mehrheit der Bevölkerung, Pflegende angemessen zu unterstützen;

• den reichlich zermürbenden Kampf um eine angemessene Finanzierung der Kosten für die Pflege;

• die Erwartung von Angehörigen, Verständnis für ihren Rückzug von ihrem Vater, Ehemann, ihrer Tochter usw. zu haben;

• oftmals genauso gesehen und angesehen zu werden wie die Pflegebedürftigen.

Menschen, die in diesem Spannungsfeld arbeiten, sind Grenzgänger und Pendler. Sie sind reich an außergewöhnlichen Erfahrungen, meistens allein gelassen und schlecht bezahlt. Geradezu täglich wird ihre Erkenntnis, dass Vieles in unserer Gesellschaft krank machen kann und auch krank macht und dass jeder auf die Pflege anderer angewiesen sein kann, erneuert und bestätigt.

Und doch gilt Artikel 1 unseres Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Bei der Betreuung Pflegebedürftiger ist sozusagen die HAND gefragt, das Zupacken. Im Umgang mit Sterbenskranken sind OHR und MUND wichtig, das aufmerksame Hinhören und das behutsame Eingehen auf das, was der Sterbenskranke äußert.



KOMMUNIKATION MIT STERBENSKRANKEN

Die Kommunikation zwischen gesunden und sterbenskranken Menschen erinnert oft an ein Spiel, in dem ein Schachspieler und ein Damespieler nach ihren eigenen Regeln an einem B(r)ett miteinander spielen. Das Spiel kann nicht gelingen: Sie verstehen sich nicht und spielen aneinander vorbei. 

Das Ziel gelingender Kommunikation ist aber, sich zu verstehen. Dadurch und durch gemeinsames Handeln entsteht Gemeinschaft. Darauf sind Sterbenskranke in besonderer Weise angewiesen.

Sterbenskranke erleben ihre körperlichen Grenzen, die Bedrohung ihres Lebens und ihr Ausgeliefertsein an andere Menschen. Sie sind davon abhängig, dass andere, gesunde Menschen sich auf sie einstellen und sich ihnen zuwenden.



ANGST UND HOFFNUNG TEILEN

Wie soll man mit Sterbenskranken reden? Was darf man sagen? Was sollte man besser nicht sagen? Dafür gibt es weder Standardsätze noch feste Regeln. Konkret ausformulierte „richtige“ Sätze treffen vielleicht für spezielle Einzelfälle zu. Generell passen Festlegungen dieser Art hier nicht. Die Kommunikation mit Sterbenskranken ist zu komplex. Mit ausformulierten Vorgaben kann man sie nicht meistern. Soll die Kommunikation gelingen, sind die Bedingungen der jeweiligen Situation, die Lebenswirklichkeiten und die verschiedenen Charaktereigenschaften aller an der Kommunikation Beteiligten sowie die Komplexität von Kommunikation überhaupt zu berücksichtigen. Gute Absichten allein reichen dafür jedoch nicht aus.

Jeder Sterbenskranke wird mit den für jeden Sterbenskranken typischen Erkenntnissen, Aufgaben und Einschränkungen konfrontiert. Vor allem mit der Erkenntnis: Ich muss bald sterben. Diese Konfrontationen kann jeder nur auf seine ganz persönliche Weise bewältigen. Deshalb sind Kommunikationsformen, bei denen das Allgemeine und zugleich das Persönliche im Sterben beachtet werden, zu wählen und anzuwenden. Dafür bietet die Kommunikationspsychologie geeignete Modelle und Methoden an. Auf die Vielfalt kann hier nur hingewiesen werden. Die Auswahl hängt von Anlass und Intention der Begegnung ab.



HEILSAME BEGEGNUNG IM HIER UND JETZT

Auf Grund der Situation, in der sich Sterbenskranke befinden, kann die Kommunikation mit ihnen nur gelingen, wenn zumindest folgende vier Aspekte beachtet werden:

Sterbenskranke erleben ihre Gegenwart intensiv. Begegnungen mit ihnen finden im Hier und Jetzt statt. Damit sind die unmittelbaren Vorgänge hier in diesem konkreten Krankenzimmer, in dieser Klinik, in diesem Heim und jetzt genau zu diesem Zeitpunkt gemeint. Das Hier und Jetzt ist eine der Hauptquellen für heilsame Begegnungen. Im Hier und Jetzt zeigt sich, was den Sterbenskranken bewegt und was ihm wichtig ist. 



SIE KENNEN NUR EIN THEMA

Sterbenskranke kennen nur ein Thema: ihre lebensbedrohliche Erkrankung und den Wunsch, noch nicht zu sterben, sondern zu leben. Sie sprechen fast nur noch von den schlechten Nachrichten, ihrem Protest und Zorn, ihren Schmerzen und Konflikten, Ängsten und Hoffnungen, ihren Verlusten und ihrer Trauer, ihrem Wunsch nach Ruhe und Frieden. Die lebensbedrohliche Krankheit scheint nicht nur den Körper, sondern auch die Gedanken zu absorbieren; sie ist der rote Faden, der sich durch ihre Gespräche und Handlungen zieht. Man kann sie kaum von ihrer Erkrankung und ihren dunklen Gedanken ablenken. Ihre Gesprächspartner können sich darauf verlassen: Sterbenskranke bleiben bei ihrem Thema und sind in der Regel nicht offen für anderes.



TRÖSTEN HEISST TREU SEIN

Sterbenskranke sind auf Menschen, die ihnen zuhören und sie begleiten, angewiesen. Ein wirklicher Begleiter geht einen kleinen Schritt hinter dem Sterbenskranken her, lässt ihm den Vortritt, folgt ihm bescheiden und geduldig auf seinem Weg. Im gemeinsamen Gespräch nimmt sich der Begleiter zugunsten des Sterbenskranken zurück und lässt ihn „zu Wort“ kommen. Er fühlt sich nicht genötigt, den Sterbenskranken aus seiner Trauer zu reißen oder reinen Optimismus und positives Denken zu verbreiten.

Der Begleiter versucht zu erkennen, was den Sterbenskranken bewegt und umtreibt. Er weicht nicht von der Seite, wenn die Klagen über das Unglück nicht aufhören, die Angst vor weiteren Verlusten sich ausbreitet, der Neid auf die Gesunden und das Weinen über das eigene Los nicht aufhören. Der Begleiter lässt den Sterbenskranken seine Einmaligkeit erfahren und teilt seine Angst und seine Hoffnung; er weiß: trösten heißt treu sein.



HOFFNUNG AUF EIN WUNDER

Fast immer wird von Sterbenskranken erwartet, dass sie (endlich) einsehen, dass sie sterbenskrank sind und das auch akzeptieren. Genau das können Sterbenskranke aber nicht. Sie wehren sich für gewöhnlich bis zuletzt gegen ihr Schicksal und hoffen immer noch auf ein Wunder.

Ärzte, Pflegende und auch Angehörige sollten akzeptieren: Sterbenskranke akzeptieren ihre lebensbedrohliche Erkrankung nicht. Sie spüren, dass sie sterben müssen und wehren sich vehement dagegen. Sie möchten leben.

Sterben müssen wir alle. Warum sollten wir uns da nicht ein bisschen abmühen, Sterbenskranke zu verstehen und uns auf ihre Situation einlassen? Hoffend, dass jemand sich auch für uns so abmüht, wenn unsere Zeit einmal gekommen ist.



Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016