Kriminelle Kinder - tabulos und kalt

23. September 2010 | von

Rund 200 Menschen werden täglich in der Öffentlichkeit Opfer von Gewalt. Mehr als die Hälfte der Täter sind Jugendliche. Sie werden immer jünger, ihre Attacken zunehmend brutaler, die Motive immer unverständlicher. Erschrecken und Ratlosigkeit machen sich angesichts der Schlagzeilenfülle zum Thema „Jugendkriminalität" breit. Es wird kontrovers diskutiert, fieberhaft nach Lösungen gesucht. Wie könnten Politiker, Gesellschaft und jeder einzelne sinnvoll reagieren?





Juni 2009, Hamburg Harburg, ein 44-jähriger Mann wird von zwei Jugendlichen zu Tode geprügelt, weil er ihnen kein Geld gibt. Wenige Monate später wird am Münchner S-Bahnhof Solln der Manager Dominik Brunner von zwei Jugendlichen brutal zusammengeschlagen, weil er sich schützend vor vier Kinder stellt. Er stirbt an seinen Verletzungen. Ebenfalls in München quälen im März 2010 zwei 13-Jährige eine 83-jährige Rentnerin in ihrer Wohnung und verletzen sie so schwer, dass sie ins Krankenhaus muss. Acht Jungen zwischen 13 und 15 Jahren malträtieren während einer Ferienfreizeit auf der Nordseeinsel Ameland Ende Juni acht Jugendliche in ihrem Alter. Diese erschreckende Aufzählung mehr oder weniger bekannter Fälle von Kinder- und Jugendgewalt ist nur ein kleiner Auszug aus einer langen Liste. Aber schon in der kurzen, nur schlaglichtartigen Beschreibung wird die Dimension des Problems deutlich: Kinder- und Jugendkriminalität scheint keine Tabus mehr zu kennen, die Verletzungen der Opfer sind erheblich, manchmal gar tödlich. Dabei fällt auf, dass die Täter sehr jung sind, oftmals selbst noch Kinder.



Großes Interesse



Für seriöse Zeitungen wie auch Boulevardblätter ist dies Stoff für „Stories", Fernsehen und Internet halten die Öffentlichkeit ebenso auf dem Laufenden. Kein Zweifel, das Thema Jugendkriminalität ist derzeit im Bewusstsein der Öffentlichkeit, und eine Mischung aus echtem Entsetzen, voyeuristischem Interesse, Ratlosigkeit oder Wut macht sich bei den Bürgern breit. Experten kommen zu Wort und tun je nach Herkunft, Profession und Weltanschauung unterschiedliche Ratschläge kund. Wenn dann noch eigene Erfahrungen von Pöbeleien und Handgreiflichkeiten durch Jugendliche hinzukommen, bleibt beim Durchschnittsbürger das Gefühl einer schwer einzuschätzenden Gefahr und der Ohnmacht zurück. Doch wie so oft gilt es zu unterscheiden: die Wirklichkeit der Medien, vor allem der Sensationspresse, und die gelebte Wirklichkeit, die sich in Berichten von Jugendhilfe und Schulen, in Kriminalstatistiken und wissenschaftlichen Studien wiederspiegelt. Realitätsnahe Einblicke gibt das Buch „Das Ende der Geduld" der Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig, das wenige Wochen nach ihrer Selbsttötung im Juli dieses Jahres erschien. Sie berichtet aus ihrer langjährigen Erfahrung mit jugendlichen Straftätern und zieht eine erschreckende Bilanz: Zunehmend sei zu erkennen, „dass eine schleichende Brutalisierung in den Köpfen vieler Kinder und Jugendlicher stattgefunden hat". Diese sei allein mit den Mitteln der Strafjustiz nicht zu bewältigen. Die Jugendrichterin zweifelte auch die jüngeren Kriminalitätsstatistiken an, die eine Abnahme der Jugendgewalt feststellen. Heisigs aufrüttelnde Erfahrungen und Thesen heizten die Debatte des Themas in den vergangenen Monaten an.



Weniger Delikte



Was versteht man in Deutschland – die Definition ist in anderen europäischen Ländern oder den USA durchaus anders – eigentlich unter Jugendkriminalität? Hierzulande werden damit Delikte bezeichnet, die entweder von Kindern (bis 14 Jahren), Jugendlichen (bis 18 Jahren) oder Heranwachsenden (zwischen 18 und 21 Jahren) begangen werden. Strafrechtlich sind Kinder in Deutschland bis 14 Jahren nicht zu belangen, und bei jungen Erwachsenen wird individuell entschieden, ob sie nach Jugendstrafrecht oder Erwachsenenrecht verurteilt werden. Ein Blick in die polizeiliche Kriminalstatistik zeigt nun erstaunlicherweise, dass in den letzten Jahren die Fälle von Jugendkriminalität, auch Gewaltdelikte, zurückgegangen sind. Zugenommen hat dagegen die Wirtschaftskriminalität. Die Statistik weist außerdem auf, dass seit Jahren die Verteilung der Straftaten zwischen männlichen und weiblichen Tätern etwa gleichbleibend ist, etwa Dreiviertel der Täter sind männlich, ein Viertel sind weiblich.



Mehr Brutalität



Interessant ist auch, dass das Thema „ausländische Jugendliche und Kriminalität" statistisch gesehen nicht auffällig ist. Ihr Anteil an den Tatverdächtigen ist im Verhältnis zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung ähnlich hoch wie der deutscher Jugendlicher, nur in einzelnen Bereichen ist er höher, beispielsweise bei Körperverletzungsdelikten. Dabei gilt jedoch, dass jemand deutsch ist, wenn er einen deutschen Pass hat, also werden deutsche Jugendliche mit Migrationshintergrund nicht gesondert erfasst. Die Bevölkerung nimmt sie jedoch oft als „ausländisch" wahr.

Festzuhalten ist auf alle Fälle, dass das Gefühl einer ständig wachsenden Bedrohung durch jugendliche Gewalttäter eher eine „gefühlte Wahrheit" ist, die unter anderem auch durch die Berichterstattung der Medien bedingt ist. Klar ist aber auch, dass die Brutalität der Täter zugenommen hat, und vor allem Wiederholungstäter in ihrem Gewaltpotenzial kaum noch Grenzen kennen. Ebenso neu ist, dass die kriminellen Karrieren immer früher starten.

Wie im Fall der 83-jährigen Münchner Rentnerin, die im Frühjahr 2010 von zwei 13-jährigen Jungen in ihrer Wohnung misshandelt und gequält wurde. Obwohl einer der beiden Täter sie kannte, da er früher gelegentlich Einkäufe für sie erledigt hatte, hielt ihn das nicht davon ab, sie zu malträtieren und zu verletzen. Die natürliche Hemmschwelle wehrlosen Menschen gegenüber scheint bei den Jungen nicht vorhanden gewesen zu sein. Auch die Motive der beiden sind bis heute völlig unklar. Kleinste Anlässe, so sagen Psychologen, reichten manchmal schon aus, um ein unvorstellbares Aggressionspotenzial freizusetzen. Gerade die Wehrlosigkeit der Opfer (die Frau war hochbetagt und dement) stachelt die Täter oftmals noch an.



Erschreckend aggressiv



Im Falle dieser Jungen, die mit 13 Jahren noch nicht strafmündig sind, stellte sich für alle Beteiligten die Frage nach der angemessenen Reaktion auf ihr Verhalten. Die Pressemeldungen und Berichte vom März zeugen von einer gewissen Ratlosigkeit, da auch die Eltern anscheinend keinen ausreichenden Einfluss mehr auf ihre Kinder haben. So werden die beiden nun auf der Proper-Liste (Projekt Personenbezogene Ermittlungen und Recherche) der bayrischen Polizei gelandet sein, ein Projekt, das seit 2000 besteht und helfen soll, auffällig gewordene Kinder und Jugendliche stärker zu überwachen. Ein weiteres neues Phänomen besteht in dem Versuch der Täter, ihre Gewalttaten wie Misshandlungen, Schlägereien oder Vergewaltigungen per Handy-Kamera festzuhalten und die Bilder und Filme anschließend unter Gleichaltrigen zu verbreiten. Unter dem Stichwort „Handy-Slapping" ist dieses Vorgehen bekannt geworden. Es verdeutlicht: Den Tätern geht es nicht um ein Vertuschen ihrer Tat. Vielmehr legen sie es darauf an, erkannt werden, um sich dadurch Achtung und Anerkennung bei Gleichaltrigen zu holen.



Nährboden der Gewalt



Ihre Motivation ist klar auf eine Steigerung des Selbstwertgefühls ausgerichtet und bedeutet im Umkehrschluss, dass sie sich im „normalen Leben" als unbedeutend und schwach erleben. Für die Opfer heißt das aber auch, dass sie nicht nur in der konkreten Situation misshandelt werden. Neben Schwächen im Selbstwertgefühl kennen die Fachleute gleich noch ein ganzes Bündel an Ursachen für die Gewalt bei Kindern und Jugendlichen: Bildungsarmut, Chancenlosigkeit, Perspektivlosigkeit, familiäre und soziale Probleme, eigene Gewalterfahrungen in der Familie, kulturelle und gesellschaftliche Integrationsprobleme bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Dass Alkohol, Drogen und der exzessive Konsum von Gewaltvideos, die eigentlich dafür gedacht sind, Soldaten die natürliche Hemmschwelle abzutrainieren, die Gewaltbereitschaft fördern, und zwar unabhängig vom sozialen Umfeld, war auch die langjährige Erfahrung Kirsten Heisigs.

Manche der jugendlichen Straftäter haben in ihrem bisherigen Leben keinerlei verbindliche und verlässliche Beziehungen erlebt, keine Regeln akzeptiert und verinnerlicht, kein wirkliches Interesse durch die Eltern erfahren. Andere wiederum wurden schon als Kinder zu kleinen „Tyrannen" erzogen, weil sich die Eltern keiner ihrer Forderungen und Wünsche widersetzten. Doch auch wenn die Risikofaktoren und die Ursachen der Jugendgewalt für die Fachwelt eigentlich klar sind, ist damit das Verhalten der Straftäter nicht zu entschuldigen. Es geht also nicht um Verharmlosung oder Erklärung ihrer Taten. Ursachenforschung dient der Verhinderung und Prävention.



Zu hart, zu lasch?



Die Frage, wie dem Phänomen der jugendlichen Kriminalität Einhalt geboten werden kann, wird durchaus unterschiedlich beantwortet. Die Verfechter von „law and order" setzen auf härtere Strafen bis hin zu „amerikanischen" Verhältnissen, in denen schon Kinder in Haft genommen und sogar zu „lebenslänglich" verurteilt werden können. Dies alles soll die Abschreckung erhöhen und den Jugendlichen das Ausmaß und die Tragweite ihrer Handlungen vor Augen stellen. Roland Koch hat als hessischer Ministerpräsident vor Jahren solche Forderungen, vor allem im Hinblick auf ausländische Jugendliche, erhoben, die ihm den Vorwurf des populistischen Stimmenfängers einbrachten. Andere wiederum glauben, dass die Prävention im Sinne von Aufklärungskampagnen durch die Polizei, die Intensivierung der Arbeit von Familienpflege, Jugendhilfeeinrichtungen und Sozialarbeit der verheißungsvollere Weg ist. Die Politik möge vor allem in solche Projekte und Einrichtungen Geld investieren; eine Investition, die sich in ihren Augen langfristig auszahle, angesichts der Kosten, die straffällige Jugendliche dem Staat verursachen.



Erziehung statt Rache



Wieder andere halten die Gesetzeslage zwar für ausreichend, prangern aber eine zu „lasche" Auslegung und Anwendung der Gesetze an, Richter, die selbst Mehr- und Vielfachtäter immer wieder nur ermahnten und letztlich nicht zur Verantwortung zögen. Die Tatsache, dass manches Urteil so spät nach der Festnahme der Täter erfolge, dass für sie kaum noch ein Tat-Folge-Zusammenhang entsteht, tue ein übriges, die Täter unbeeindruckt zu lassen. Auch der „Weiße Ring", eine Hilfsorganisation für Opfer, beklagt, dass in vielen Fällen die Jugendlichen keinerlei angemessene gesellschaftliche Reaktion auf ihr Fehlverhalten erführen.

Vielleicht ist ja in der Bewertung der Situation wichtig, dass es nicht den einen goldenen Weg gibt. Wichtig ist bei allem verständlichen Ärger, bei Trauer und Wut der Geschädigten, bei dem Entsetzen der Opfer und ihrer Angehörigen, dass in unserem Gesetz nicht der „Rachegedanke" im Vordergrund steht. Die Strafe soll gerade bei Jugendlichen dazu dienen, ihnen ihre Tat und deren Auswirkungen vor Augen zu führen, um sie zu verantwortlichen Erwachsenen werden zu lassen.

Ein gutes Beispiel, dass die Zeit des Strafvollzugs durchaus sinnvoll genutzt werden kann, zeigt die Arbeit von Pfarrer Hans Lyer, des Gefängnisseelsorgers in der Jugendjustizvollzugsanstalt Ebrach. Er nutzt die Zeit immer wieder dazu, mit den ihm anvertrauten Jugendlichen konstruktiv zu arbeiten. Ob darstellende oder gestalterische Kunst, ob Pyrotechnik oder bearbeiteter Stein, für den Seelsorger und die Jugendlichen scheint es viele Wege zu geben, ihre Probleme auszudrücken und so erste neue Schritte zu gehen.



Jeder kann sich ändern



„Jeder kann sich verändern und hat das Recht, ein anderer zu werden", ist Lyer überzeugt. Er betont aber auch, dass dazu Unterstützung von außen nötig sei: „Es ist die Aufgabe der katholischen Kirche, aber auch der gesamten Gesellschaft, die gestrauchelten Jugendlichen bei ihrer Resozialisierung zu unterstützen."

Die Politik ist weiterhin gefordert, die Rahmenbedingungen für gelingendes Leben, die Gesellschaft, ein funktionierendes Wertesystem zu schaffen. Doch ist es sehr wohl auch die Aufgabe eines jeden Einzelnen, hinzuschauen und sich für die Kinder und ihre Probleme zu interessieren – und dafür einzusetzen, dass sie für ihr Leben Erfüllung und einen sicheren Rahmen finden.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016