Kritischer Chronist der Zeitgeschichte

28. Juni 2010 | von

Vor einem Vierteljahrhundert verstarb Heinrich Böll, einer der bedeutendsten Schriftsteller der Bundesrepublik Deutschland, als deren moralisches Gewissen er jahrzehntelang galt. Inzwischen ist es um das Werk des Nobelpreisträgers etwas stiller geworden. Aber noch immer gehören viele seiner Erzählungen im Deutschunterricht zur Pflichtlektüre, und seine Perspektiven auf das Menschliche, sein vehementes Plädoyer für Mitmenschlichkeit haben nichts von ihrer Gültigkeit verloren.



„Wenn mich künftig einer fragt, was denn die Deutschen heute an Büchern von wirklicher Kraft und Wahrhaftigkeit vorzuweisen hätten, werde ich den Böll nennen." So Karl Korn in der FAZ in seiner Besprechung des 1953 erschienenen Romans „Und sagte kein einziges Wort". Protagonisten sind Fred und Käte Bogner, die seit zwei Monaten getrennt leben, da Fred alkoholkrank ist und seine Aggressionen, die aufgrund der Enge der Wohnung und des Lärms entstehen, nicht kontrollieren kann. Unschlüssig treibt er sich, nachdem er ein billiges Zimmer angemietet hat, fortan zwischen Kneipen und Rummelplätzen herum, sucht hin und wieder Trost in Kirchen oder auf Friedhöfen, übernachtet bei Bekannten, die er anpumpt, schickt sein karges Gehalt der Familie. Hilfe finden Käte und Fred schließlich bei einem einfachen Priester, mit dem sie sich gelegentlich in einer Imbissbude treffen.



Deformationen des Krieges



Das ist die Welt, in der Bölls Figuren sich bewegen, nachdem sie aus dem Krieg heimgekehrt sind. Diese Gestalten kennen weder Mozart noch Michelangelo. Ihr Leben, in dem sie sich meist nur halbwegs zurechtfinden, besteht aus Alltagssorgen und Banalitäten. Von Anfang an galten die Sympathien des späteren Nobelpreisträgers Böll den Stiefkindern des Daseins.



Heinrich Böll kam 1917 in Köln als Sohn eines Bildhauers zur Welt. Den Zweiten Weltkrieg, in dem er viermal verwundet wurde, erlebte er auf verschiedenen Kriegsschauplätzen, zwischen dem nordfranzösischen Cap Gris-Nez und der Krim, und in Gefangenenlagern.



Seit Beginn seiner Schriftsteller-Laufbahn kennt Böll eigentlich nur ein Thema, nämlich die jeweilige deutsche Gegenwart. Als er aus dem Krieg heimkehrt, verarbeitet er seine diesbezüglichen Erlebnisse in Kurzgeschichten („Wanderer, kommst du nach Spa..."; „Der Zug war pünktlich"). Dann nimmt er sich die Nachkriegszeit vor („Das Brot der frühen Jahre"), beschreibt die Zeit der ‚Onkelehen’ („Haus ohne Hüter"), den Wiederaufbau und das Wirtschaftswunder („Billard um halbzehn"), legt sich mit dem ‚Milieukatholizismus’ an („Ansichten eines Clowns"), karikiert die Organisation der Armee („Ende einer Dienstfahrt"). 1972 erscheint sein wohl bedeutendster Roman, „Gruppenbild mit Dame", in welchem er sich mit der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung der Bundesrepublik vom Krieg bis zu den siebziger Jahren auseinandersetzt. Auch die folgenden Werke sind von der Zeitgeschichte inspiriert. In seiner Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum" denunziert Böll die journalistischen Praktiken der Bildzeitung. Das Werk wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt, vom deutschen Regisseur Volker Schlöndorff verfilmt und erlebte allein in Deutschland eine Auflage von fast sechs Millionen.



Entlang der Gegenwart



In dem Roman „Fürsorgliche Belagerung" nimmt Böll die Terrorismus-Hysterie ins Visier. Weniger gut aufgenommen wurde sein Spätwerk „Frauen vor Flusslandschaft". Die Flusslandschaft, auf welche die Ehe- und Nebenfrauen der Staatsmänner blicken, ist der am Rhein gelegene Abschnitt zwischen der damaligen Hauptstadt Bonn und Bad Godesberg – also eine politische Gegend. Spätestens seit 1963, nach dem Erscheinen der „Ansichten eines Clowns", war Böll nicht nur in politischer Hinsicht, sondern auch in kirchlichen Kreisen umstritten. Allerdings ist dieser Roman nicht, wie oft behauptet, eine Abrechnung mit der Kirche als Institution, sondern eine Auseinandersetzung mit dem (damaligen) Katholizismus. Man hat Böll gelegentlich einen unbequemen Katholiken genannt. Das tönte dann fast so, also ob Bequemlichkeit eine Tugend oder gar ein Wesenszug des Katholizismus sei. Tatsache ist, dass bei allen manchmal übertriebenen Anklagen eben doch genug Anlass zur Klage bestand, insofern die Religion – auch oder gerade in der damaligen Gesellschaft – oft zur Dekoration öffentlicher oder zur Legitimation persönlicher Interessen herhalten musste. Wobei Böll den Kirchenoberen nicht Machtversessenheit vorwarf; allenfalls bedauerte er, dass sie sich von den Mächtigen oft für deren Zwecke vereinnahmen ließen. Bei aller Kirchenkritik lässt sich bei ihm doch eine tiefe Jesusbezogenheit feststellen.



Einmischung erwünscht



Auf die Frage, was er vom Christentum halte, hat Böll in einem Interview geantwortet: „Ich glaube an Christus." Diese Haltung bekunden auch zahlreiche seiner Romangestalten, die allem Dogmatischen, Konventionellen und Institutionellen skeptisch gegenüberstehen. Immer zwingt Böll zum Nachdenken. Er zeigt, dass es ihm nie um diese oder jene Einrichtung geht (auch wenn er sie kritisiert), sondern um die Menschen. Sein Protest ist deshalb nur vordergründig gegen gesellschaftliche, religiöse oder geistige Verhältnisse gerichtet. In Wirklichkeit kämpft er nur gegen jene geistige Trägheit, welche das größte Hindernis darstellt auf der Suche nach neuen, besseren Wegen.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016